
Die Lage am Morgen Das üble Gefühl, in einer Diktatur zu leben

Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,
heute beschäftigen wir uns mit der Abschottung Deutschlands, mit viel Polizei auf dem Tempelhofer Feld, mit dem Brexit (ja, den gibt es noch) und mit der "Sendung mit der Maus".
Schlagbäume runter
Heute könnte der Beschluss fallen, dass sich Deutschland komplett abschottet. Bislang sind die Grenzen zu fünf Nachbarstaaten weitgehend dicht. Bundesinnenminister Horst Seehofer wird bei der Sitzung des Corona-Krisenkabinetts wohl vorschlagen, dass vier weitere Länder auf die schwarze Liste kommen. Das wären dann alle, Deutschland hat neun Nachbarn. Wer mit dem Flugzeug anreist, soll eine Quarantäne absolvieren.
Dann stünde die Mauer, ringsum und fast lückenlos. Wie wichtig offene Grenzen für das Zusammenwachsen Europas waren, wie sehr das Offenhalten der Grenzen für Flüchtlinge 2015 zum Symbol von Humanität und Liberalität wurde - und nun womöglich das Gegenteil. Schlagbäume runter, unser Land.
Das Virus ändert vieles, aber nicht die Logik geschlossener Grenzen. Die heißt: Hier sind wir, dort sind die anderen, und diese anderen könnten uns Böses bescheren, wenn sie die Grenzen passieren. Das war und ist das Argument von Rechtspopulisten gegen Flüchtlinge. Nun wird es zur Logik der Grenzschließungen von Merkels Regierung. Und wo bleiben die Proteste der Leute, die ihre Flüchtlingspolitik von 2015 so freudig begrüßt haben?
Damals hatten sie keine Angst, heute ist das vielleicht anders. Angst macht einen großen Unterschied, das kann ich gut verstehen. Es ist auch nicht die Situation für Vorwürfe. Ich will nur auf etwas hinweisen. Es wird in Zukunft schwerer werden, für offene Grenzen einzutreten. Oder andersrum: Die Rechtspopulisten werden es leichter haben, offene Grenzen zu diffamieren.
Übrigens ist es selbst in der CDU umstritten, ob geschlossene Grenzen in der Coronakrise weiterhelfen.
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Die Patrouille
In diesen Tagen kann ich manchmal nachempfinden, wie es sich anfühlen würde, einer Diktatur ausgeliefert zu sein. Am Wochenende war ich auf dem Tempelhofer Feld, kleiner Spaziergang, anderthalb Stunden. Ich sah in dieser Zeit zweimal eine "Wanne" vorüberziehen; so werden in Berlin die Mannschaftstransporter der Polizei genannt. Ich sah zweimal zwei Polizei-Motorräder bei Patrouillenfahrten. Ich sah zweimal den Kleinwagen eines privaten Sicherheitsdiensts.
Sie fuhren alle langsam, beinahe Schritttempo. Sie beäugten uns Flaneure misstrauisch, als seien uns blitzartige Zusammenrottungen zuzutrauen. Die Sonne schien, der Wind brauste, wie fast immer auf dem Tempelhofer Feld. Für einen Moment hatte ich das Gefühl, dies wäre die wahre Welt, ich lebte in einem Überwachungsstaat und müsste mich sehr in Acht nehmen. Dann war es vorbei. Das Abstandsgebot muss überwacht werden, keine Frage, vielleicht nicht ganz so massiv, aber es kommen andere Zeiten. Erleichterung. Und ich dachte an alle, für die das nicht ein böser Traum ist, sondern ewige Realität.
Nicht-Corona
Politik, die nichts mit dem Virus zu tun hat, gibt es auch noch, Gott sei Dank. Obwohl, wenn sich schon so viel ändert, warum muss es dann noch den Brexit geben? Die Verhandlungen zwischen der EU und Großbritannien über die Beziehungen nach dem Austritt Ende 2020 gehen heute weiter.
Bislang ist das alles ziemlich verfahren. Es sind wohl Gespräche, die den Zeitdruck der nahenden Frist brauchen, um eine Einigung möglich zu machen.
Stunden mit Ella
Homeoffice mit einer Zweijährigen ist nicht nur eine Freude. Es gibt gar nicht so viele Videos von der "Sendung mit der Maus", dass ich alle Konferenzen ungestört überstehen kann. Wenn die Konferenzen länger dauern als zwei Stunden, ist Ella so gelangweilt von der Maus, dem Elefanten, der Ente, dem Hasen, dass sie lieber mit mir den lieben Kolleginnen und Kollegen bei unseren Video- und Audiositzungen zuschaut oder zuhört. Ich weiß nicht, ob sie Parallelen sieht.
Andererseits rührt es mich sehr, viel Zeit mit einem Menschen zu verbringen, der nichts weiß von Corona. Sie kann das noch nicht verstehen. Ella plappert fröhlich weiter und schlägt Purzelbäume, als würde gerade nicht die Welt da draußen zusammenstürzen. Es hilft mir, das hin und wieder zu vergessen.
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Sprache in den Zeiten von Corona
Mich erreichte eine Anfrage, ob es ein deutsches Wort für Social Distancing gebe. Ich habe "gesunde Distanz" vorgeschlagen. Aber vielleicht gibt es einen besseren Begriff.
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Ich wünsche Ihnen einen guten Start in die Woche.
Ihr Dirk Kurbjuweit