
Die Lage am Morgen Mutation »außer Kontrolle«

Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,
heute beschäftigen wir uns mit der erwarteten Zulassung des Biontech-Impfstoffs, mit der Coronavirus-Mutation in Großbritannien und mit den Entscheidungen in den Prozessen gegen rechtsextreme Straftäter.
Tag der Zulassung
Die Europäische Arzneimittelbehörde EMA wird heute aller Wahrscheinlichkeit nach ein Gutachten vorlegen, in dem sie den Impfstoff der Pharmaunternehmen Biontech und Pfizer für die Zulassung empfehlen wird. Formell muss dann noch die EU-Kommission zustimmen.
Die Behörde bekam Druck von vielen Seiten, von europäischen Gesundheitspolitikern zum Beispiel, die ihre Gründe haben, ungeduldig zu sein – die Briten haben bereits mit den Impfungen begonnen, die Nordamerikaner auch, vorgestern ließ sich der israelische Premierminister Benjamin Netanyahu beim Impfen filmen.
Zugleich aber wird von der Behörde allseits erwartet, die Risiken sorgsam und nach allen Regeln der Wissenschaft zu prüfen. Die Interessen von Politik und Wissenschaft sind nicht unbedingt dieselben – das zeigt sich in diesem Jahr nicht zum ersten Mal.
Doch bisher spricht alles dafür, dass der Biontech/Pfizer-Impfstoff zwar mit viel weniger Zeit als üblich, aber so vielen Mitteln wie nötig geprüft worden ist. Vernunft und Einsicht sprechen also dafür, sich so bald wie möglich impfen zu lassen.
Die Argumente der Impfgegner leuchten insgesamt nicht ein, einige davon sind sogar haarsträubend – Impfgegner aber gar nicht erst anzuhören, wäre falsch. So wie sich die Wissenschaft die Zeit nehmen muss, Risiken und Nebenwirkungen gegen die erwünschte Wirkung abzuwägen, kann sich eine öffentliche Meinung erst dann seriös bilden, wenn die Dinge von allen Seiten betrachtet worden sind.
Der Kontinent schickt die Insel in Quarantäne
Den Tag der Zulassung eines wirksamen Impfstoffs sehnen EU-Bürgerinnen und Bürger seit Monaten herbei, doch nur Stunden, bevor es nun aller Voraussicht nach so weit sein wird, trafen die ersten Meldungen über eine Corona-Mutation ein, die bis zu 70 Prozent ansteckender sein soll als die bisher bekannte Form. In Deutschland ist sie laut Bundesgesundheitsminister Jens Spahn noch nicht nachgewiesen, in Großbritannien aber sei sie »außer Kontrolle«, wie der dortige Gesundheitsminister zitiert wird.
Es ist schon gemein, wie schnell die Hoffnung sich in diesen Tagen wieder eintrüben kann, doch es gibt durchaus noch Anlass dazu. Bisher heißt es, der vermutlich bald zugelassene Impfstoff helfe auch gegen diese Mutation.
Mutationen sind normal, aber die erheblich schnellere Übertragbarkeit dieser Variante bereitet Sorgen. Vor wenigen Stunden, um Mitternacht, ist der Flugverkehr von Großbritannien nach Deutschland eingestellt worden. Auch Frankreich hat ein Einreiseverbot für Reisende aus Großbritannien beschlossen.
Der Kontinent schickt die Insel in Quarantäne – wenige Tage, bevor die Übergangsphase endet, nach der der Brexit endgültig vollzogen sein wird. Die Geschichtsschreiber der Zukunft haben nun wirklich genügend farbige Details für ihre Beschreibung des britisch-europäischen Dramas.
Urteil gegen Halle-Attentäter heute erwartet
Das Jahr 2020 war eines der großen Prozesse gegen rechtsextreme Straftäter. Heute am Vormittag wird nun das Urteil im Prozess gegen den 28-jährigen Stephan Balliet erwartet, der nie abgestritten hat, am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur in der Synagoge in Halle ein Massaker angerichtet haben zu wollen.
Er schoss auf die Holztür, warf Sprengsätze, und als es ihm nicht gelang, in die Synagoge hineinzukommen, erschoss er auf der Straße eine 40 Jahre alte Frau und tötete dann in einem Dönerimbiss einen 20 Jahre alten Mann. Die Bundesanwaltschaft fordert die Höchststrafe.
Während das Urteil im Oberlandesgericht Naumburg verkündet werden wird, wird im Oberlandesgericht Frankfurt am Main der Prozess gegen den mutmaßlichen Mörder des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke fortgesetzt. Morgen beginnen die Plädoyers. Auch der Angeklagte Stephan Ernst soll aus rechtsextremistischen Motiven gehandelt haben.
Wäre 2020 ein normales Jahr gewesen, hätte am 8. Mai das Jubiläum von 75 Jahren Kriegsende mehr Aufmerksamkeit bekommen. Doch wegen der Pandemie fand das Gedenken fast nicht statt– eine verpasste Chance. Am Beispiel des Nationalsozialismus über die Verheerungen von Rassismus und Rechtsextremismus nachzudenken, ist – siehe Halle, siehe Kassel – immer noch nötig.
Geburtstag und Genesung
Heute hat der französische Präsident Emmanuel Macron 43. Geburtstag. Ihn aber deswegen in unserer Rubrik zum »Gewinner des Tages« auszurufen, würde sich nicht gehören.
Macron ist am Donnerstag positiv auf das Coronavirus getestet worden, begab sich in Isolation, Meldungen zufolge hat er mit einem schwereren Verlauf zu kämpfen. Er wandte sich mit einer Videobotschaft an die Französinnen und Franzosen: »Ich habe die gleichen Symptome wie gestern: Müdigkeit, Kopfschmerzen, trockener Husten. Wie Hunderttausende andere von euch.« Eine sympathische und für ihn eher ungewöhnliche Botschaft – »einer von euch« zu sein war bisher nicht die übliche Haltung des jungen Präsidenten gegenüber seinem Volk.
In sein Amt gestartet war er mit dem Vorhaben, »jupiterhaft« zu regieren und auch sonst wirkt er häufig abgehoben. Frankreich braucht unbedingt einen Präsidenten mit breitem Zuspruch, um nicht den Demagogen anheimzufallen. Breiten Zuspruch hat Macron jedoch längst nicht mehr, aus politischen Gründen, aber auch wegen seiner Neigung zur Arroganz.
Der Auftritt jetzt wird ihm Sympathie verschaffen – für einen Präsidenten das beste Geburtstagsgeschenk.
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Ich wünsche Ihnen einen guten Start in die Woche.
Ihre Susanne Beyer