Alexander Neubacher

Die Lage am Abend Hoffentlich haben Sie bessere Freunde als Boris Palmer

Guten Abend, das sind heute unsere drei Fragezeichen:

  1. Die Grünen und ihr Quertreiber – Tritte zum Abschied?

  2. Wissing trifft »Letzte Generation« – Kuscheln statt Knast?

  3. KI-Guru kündigt Job – Frankensteins Angst vor dem Monster?

1. Die Grünen und Boris Palmer – und Tschüs

Nach dem Parteiaustritt von Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer hält sich das Bedauern der grünen Ex-Mitstreiter in überschaubaren Grenzen. Parteichef Omid Nouripour nannte Palmers Schritt heute »respektabel«, er wünsche ihm noch »ein gutes Leben«. Der Tübinger Bundestagsabgeordnete Chris Kühn kommentierte: »konsequent«. Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann sagte, es tue ihm »persönlich leid um diesen klugen Kopf, der unsere Partei über eine sehr lange Zeit streitbar bereichert hat«.

Und Tschüs.

Von Palmer selbst gab es heute keinen offiziellen Kommentar mehr, sondern nur die Information aus seinem Umfeld, er habe sich krankgemeldet. Dass er eine »Auszeit« nehmen wolle, sich professionelle Hilfe suchen werde, hatte er bereits gestern angekündigt.

Nun muss man kein großes Mitleid mit einem Berufsprovokateur haben, der kaum je einem Streit aus dem Weg gegangen ist. Dass sich Palmer bei seinem Auftritt letzte Woche in Frankfurt am Main auf irre Weise mit den in Nazideutschland verfolgten Juden verglich, stellte tatsächlich einen Tiefpunkt dar. Er habe »eine rote Linie zu viel überschritten«, analysiert meine Kollegin Christine Keck, die Palmer seit Längerem kennt.

Trotzdem stimmt es mich nachdenklich, wenn ich lese, wie sich jetzt etwa der langjährige Palmer-Freund, Weggefährte und Anwalt Rezzo Schlauch äußert. »Unmittelbar nach Kenntnis über den von Boris Palmer in Frankfurt zu verantwortenden Eklat habe ich ihm meine persönliche und meine politische Loyalität und Unterstützung sowie meine juristische Vertretung aufgekündigt«, teilte Schlauch mit. So viel zum Thema Freundschaft.

Vielleicht bin ich altmodisch. Aber sollte ich je abstürzen, auch durch eigenes Verschulden, wäre meine Hoffnung, dass mir ein Freund nicht noch einen Extratritt verpasst.

2. Wissing und die Klimakleber: Kuscheln statt Knast?

Sogenannte Klimaschützer der »Letzten Generation« haben heute Vormittag wieder mehrere Straßen in Berlin blockiert. Anschließend trafen sich einige Vertreterinnen und Vertreter mit Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) zum Gedankenaustausch, was Berliner Autofahrerinnen und Autofahrer, die heute mal wieder im Stau gestanden hatten, dann doch gewundert haben dürfte. Kuschelpädagogik statt Knast: Wollte der Staat nicht härter durchgreifen?

In der »Frankfurter Allgemeinen« habe ich am Wochenende ein Interview mit dem Berliner Feuerwehrmann Manuel Barth gelesen. Es ging um die Frage, ob die Straßenblockierer Rettungseinsätze behindern und somit Menschenleben gefährden. Die »Letzte Generation« bestreitet das. Sie informiere die Einsatzkräfte vielmehr rechtzeitig, damit diese auf andere Routen ausweichen könnten. Ein Rettungswagen, der letzte Woche auf der Stadtautobahn stand, habe dort lediglich gewartet, um »für die Menschen der ›Letzten Generation‹ vor Ort zu sein«, wie es auf Twitter hieß .

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Feuerwehrmann Barth stellt es völlig anders dar. Man werde von den Blockierern nicht informiert. Und der blockierte Rettungswagen sei nicht wegen der Aktivisten vor Ort gewesen, sondern auf einem Einsatz aufgehalten worden. Barth nennt die Äußerungen der »Letzten Generation« »glatte Lügen«.

Nach dem Treffen mit Wissing machten die Aktivisten einen zufriedenen Eindruck. »Menschlich« sei es angenehm gewesen, so die »Letzte Generation«-Mitgründerin Lea Bonasera, man sei »erfreut über die Dialogbereitschaft« und werde »im Gespräch bleiben«.

Wie es bei den Protesten weitergeht? »Da werden wir natürlich weitermachen.«

3. Ein KI-Frankenstein fürchtet sein Monster

Eine Personalie beim US-Konzern Google sorgt in der Techwelt für Besorgnis: Geoffrey Hinton, eine Berühmtheit auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz (KI), hat seinen Job gekündigt, offenbar aus Angst vor dem Monster, das er selbst miterschaffen hat.

Im Interview mit der »New York Times« sagte Hinton, der Fortschritt bei der KI sei »beängstigend«. Jobs seien in Gefahr. Viele Menschen würden demnächst »nicht mehr erkennen, was noch wahr ist«. Langfristig bedrohe KI die Menschheit.

Mein Kollege Patrick Beuth schreibt , dass Hinton offenbar Skrupel hat, seinem bisherigen Arbeitgeber weiter dabei zu helfen, eine mögliche Maschinenherrschaft zu begründen. Bis letztes Jahr habe Hinton seinen Arbeitgeber für verantwortungsvoll gehalten. Doch durch die Konkurrenz von Google und Microsoft sei ein unkontrollierbarer Wettbewerb entstanden.

Hintons Warnungen als moderner Dr. Frankenstein haben in der Szene Gewicht, weil dieser, so Patrick, maßgeblich am Durchbruch künstlicher neuronaler Netze beteiligt war. 2018 bekam er mit Kollegen den mit einer Million Dollar dotierten Turing-Award, der als höchste Auszeichnung in der Informatik gilt. Branchenkollegen nennen Hinton »Godfather of AI«, Pate der Künstlichen Intelligenz.

Wie ernst muss man die düsteren Prognosen nehmen? Als Fan der »Terminator«-Filme würde ich sagen: ernst. Andererseits: Gab es je eine neue Technologie, die nicht von Pessimismus begleitet wurde, zumal im angstgeplagten Deutschland?

Meine Kollegin Susanne Beyer hat am Wochenende in ihrer Kolumne geschrieben , dass die KI-Debatte sie an Goethes »Faust« erinnere, an dessen Pakt mit dem Teufel: »Die künstliche Intelligenz verspricht uns Menschen auch alles Wissen der Welt. Sie könnte uns aber auch über den Kopf wachsen und uns schließlich beherrschen.«

Susanne konfrontierte das KI-Textprogramm CHatGPT mit ihrer Theorie. Sie fragte den Computer: »Kann man Fausts Pakt mit Mephisto mit dem Pakt der Menschen mit einer KI vergleichen?«

Die Maschine antwortete: »In gewisser Weise. Beide handeln von einer Art Handel oder Vereinbarung, bei der ein Mensch Wissen, Macht oder Kontrolle erhält, während er oder sie im Gegenzug etwas opfert oder riskiert.«

Ich überlasse es Ihnen, ob Sie diese Antwort eher beruhigend oder alarmierend finden.

Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:

  • Schätzung der US-Geheimdienste – offenbar mehr als 20.000 Russen seit Dezember getötet: In den vergangenen fünf Monaten sind nach US-Informationen Tausende russische Soldaten bei Kämpfen verletzt oder getötet worden. Trotz der hohen Verluste habe Moskau dabei kein »strategisch wichtiges Territorium« erobert.

  • Ukraine sieht »alles bereit« für Frühjahrsoffensive: Der Gegenschlag der Ukrainer kann laut offiziellen Aussagen jederzeit losgehen. Man werde entscheiden, »wie, wo und wann« man zuschlage, sagte Verteidigungsminister Resnikow – und nannte eine Forderung für die Zeit nach der Rückeroberung.

  • Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update

Podcast Cover

Was heute sonst noch wichtig ist

  • Polizei sucht zwei Teenager – und findet sieben Leichen: In einer ländlichen Region des US-Bundesstaats Oklahoma galten eine 14- und eine 16-Jährige als vermisst. Nun wurden die Überreste von sieben Personen gefunden – darunter wohl auch ein verurteilter Sexualstraftäter.

  • Zahlungsunfähigkeit der USA droht bereits am 1. Juni: Ohne eine höhere Grenze für staatliche Kredite könnten die USA schon in wenigen Wochen zahlungsunfähig sein. Die Republikaner wollen den Druck nutzen, um Präsident Biden zu Einsparungen zu zwingen.

  • Berliner Polizei spricht von friedlichstem 1. Mai seit 1987: Es gab Rangeleien in Kreuzberg, aber keine schweren Auseinandersetzungen: Die traditionellen Demos zum 1. Mai sind in Berlin ohne größere Zwischenfälle verlaufen. Unmut gibt es über eine Polizeiaktion am Kottbusser Tor.

Meine Lieblingsgeschichte heute

Höllentalbahn auf der Ravennabrücke: Aussicht mit Kuhkopf

Höllentalbahn auf der Ravennabrücke: Aussicht mit Kuhkopf

[M] Lina Moreno / DER SPIEGEL; Jürgen Wiesler / Zoonar / IMAGO

Seit gestern gibt es das 49-Euro-Ticket für ganz Deutschland. Und falls Sie sich nun fragen, wohin Ihre erste Reise mit dem Regionalzug gehen könnte, möchte ich Ihnen die Strecke von Dresden nach Schmilka an der tschechischen Grenze empfehlen, von wo aus sich exzellente Wandertouren durch die Sächsische Schweiz unternehmen lassen, wie ich am vergangenen Wochenende erleben konnte.

Unsere Reiseredaktion hat weitere Tipps zusammengestellt: von Niebüll nach Westerland über den Hindenburgdamm, mit der RB 38 durch die Lüneburger Heide, mit der Schwäbischen Alb-Bahn nach Ulm, an Sankt Goarshausen vorbei durchs Rheintal. Mein Kollege Nils-Viktor Sorge hat sich mit viermal Umsteigen von Würzburg bis nach Hannover durchgeschlagen , er brauchte sechseinhalb Stunden und war völlig entspannt. Außerdem weiß er jetzt, dass es zwei sehr malerische Flüsschen namens Sinn und Aura gibt, die sich in Schienennähe winden.

Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen

  • »Die Leute tun ja so, als wollten wir die Räterepublik ausrufen«: Mit ihren aktuellen Protesten verlangt die »Letzte Generation« die Einsetzung eines Gesellschaftsrates. Kritiker sehen darin den Versuch, die parlamentarische Demokratie anzugreifen .

  • Wie Microsoft Nutzer zum Update auf Windows 11 nötigt: In zweieinhalb Jahren ist Schluss mit Updates für Windows 10. Doch die Hardwareanforderungen für einen Wechsel zu Windows 11 sind enorm hoch. Laut Experten werden ältere Rechner damit zu »Elektroschrott« .

  • Plötzlich hat Trump wieder einen Lauf: Trotz seiner Probleme mit der Justiz baut Donald Trump seine Unterstützung an der Parteibasis der Republikaner aus. Seinen Rivalen Ron DeSantis attackiert er scharf – der mögliche Herausforderer gerät zunehmend unter Druck .

  • »Die Polizei tritt auf, als wolle sie einen Aufstand niederschlagen«: Brennende Barrikaden, prügelnde Polizisten: Die Bilder der Mai-Demonstrationen in Frankreich sind von Gewalt geprägt. Politikwissenschaftler Fabien Jobard erklärt die Gründe für die außergewöhnliche Eskalation .

Was heute weniger wichtig ist

Schauspielerin Nicole Kidman kam gemeinsam mit ihrem Ehemann Keith Urban nach New York

Schauspielerin Nicole Kidman kam gemeinsam mit ihrem Ehemann Keith Urban nach New York

Foto:

JUSTIN LANE / EPA

Unsterblich: Karl Lagerfeld stand gut vier Jahre nach seinem Tod wieder im Mittelpunkt der Modewelt. Bei der Met-Gala in New York zeigten sich viele Stars in älteren Kleidern des Modedesigners oder zitierten dessen Entwürfe. Nicole Kidman trug eine Lagerfeld-Robe, mit der sie bereits 2004 für Chanel Werbung gemacht hatte. Die Sängerin Dua Lipa kam in einem Kleid aus der Lagerfeld-Kollektion von 1992, damals vorgeführt von Claudia Schiffer. Ein flauschig-weißes Katzenkostüm hatte sich Oscar-Preisträger Jared Leto angezogen – als Hommage an Lagerfelds Katze Choupette. Offiziell ist die Met-Gala eine Spendenveranstaltung für das Kostüminstitut des Metropolitan Museum in New York. Inoffiziell gilt sie als Modeparty des Jahres.

Mini-Hohlspiegel

Von der Website einer Firma für Heizungsbau

Von der Website einer Firma für Heizungsbau

Entdecken Sie hier noch mehr Cartoons.

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Illustration: Klaus Stuttmann

Und heute Abend?

Gordon Lightfoot bei einem Konzert 1978

Gordon Lightfoot bei einem Konzert 1978

Foto:

Michael Ochs Archives / Getty Images

Nachdem gestern Abend der kanadische Folk- und Country-Sänger Gordon Lightfoot mit 84 Jahren in Toronto gestorben ist, habe ich mich wieder einmal durch seine Platten gehört, durch seine eigenen Hits wie »Sundown«, »Carefree Highway« und natürlich »If You Could Read My Mind«, aber auch durch Interpretationen von Elvis Presley, Paul Weller oder Johnny Cash. Es gebe keinen Gordon-Lightfoot-Song, den er nicht möge, sagte einmal Bob Dylan, der 1976 eine Version von »Early Morning Rain« einspielte: »Bei jedem Lied wünschte ich, es gehe nie zu Ende.«

Das schönste Lightfoot-Cover ist meiner Ansicht nach die von Daliah Lavi gesungene Fassung von »If You Could Read My Mind« auf Deutsch: »Wär ich ein Buch«. Die Düsseldorfer Dichterin Miriam Frances hatte den Text auf meisterhafte Weise übersetzt. Hier können Sie sich einen TV-Mitschnitt von 1973 ansehen. 

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Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.

Ihr

Alexander Neubacher, Leiter Meinung und Debatte

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