Oliver Trenkamp

Die Lage am Abend Trumps Gedanken verflüchtigen sich beim Reden

Oliver Trenkamp
Von Oliver Trenkamp, Blattmacher in der Chefredaktion

Guten Abend, die drei Fragezeichen heute:

  1. Wilder Testen: Warum ist Trumps Corona-Logik so verheerend?

  2. "Welt" im SPIEGEL: Was sagt Chefredakteur Poschardt über die Anfeindungen, denen sein Polen-Korrespondent ausgesetzt ist?

  3. Das Rätsel von Seoul: Warum starb der Bürgermeister der südkoreanischen Hauptstadt?

1. Wild, wild Test: Trumps widersprüchliche Corona-Logik

Der US-Präsident spricht in einfachen Worten über Kriminalität, über schwarze und weiße Amerikaner. Seine Anhänger folgen ihm begeistert. Linguisten analysieren später: Seine Sätze erreichen in etwa das Sprachniveau eines Sechstklässlers . Es ist das Jahr 1993, der US-Präsident heißt Bill Clinton , ein Meister der politischen Rede .

Fast ein Vierteljahrhundert später wird Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt, auch er spricht auf Sechstklässler-Niveau  oder, je nach Studie, auch mal auf dem Level eines Viertklässlers . (Der jüngere Bush und Obama sprachen meist auf dem Niveau von Achtklässlern.) In der "Washington Post"  wird ein Trump-Fan im Wahlkampf 2016 zitiert: "Er redet nicht so mit uns, als wären wir blöd." Verständlich und mitreißend reden - für Politiker zwingend, eigentlich eine Binse.

Das Problem bei Trump: Sein Denken tanzt Limbo unter seiner Sprache, dieser Eindruck verfestigt sich jeden Tag mehr, den die Coronakrise andauert. Zur Abstraktion, zur Analyse komplexer Vorgänge scheint er, anders als die meisten seiner Amtsvorgänger, weder willens noch fähig.

Die immer neuen Höchstmeldungen der Neuinfektionen erklärt er mit der Logik eines Vorschülers: Wir testen mehr, deshalb haben wir auch mehr Fälle. Das stimmt ein Stück weit, der Umkehrschluss stimmt aber eben nicht. Würden die Amerikaner weniger testen, hätten sie nicht weniger Infizierte - nur die Dunkelziffer wäre größer, wie Julia Merlot aus unserem Wissenschaftsressort und Patrick Stotz aus unserem Datenteam erklären. "Entscheidend ist die sogenannte Positivrate - das Verhältnis von positiven zu durchgeführten Tests", sagt Julia. Und leider steigt seit Mitte Juni die Zahl der Neuinfektionen schneller als die Zahl der Tests.

Selbst wenn der US-Präsident das verstünde, er würde es wohl nicht wissen wollen: Es widerspricht seiner Wahlkampfstrategie , die Pandemie für beendet zu erklären. Die Wirtschaft soll anspringen, die Schulen wieder öffnen, von der ersten bis zur zwölften Klasse. Kleist  steht kopf: Trumps Gedanken verflüchtigen sich beim Reden.

2. "Welt" im SPIEGEL: Solidarność mit Philipp Fritz

Die Kommentare und Tweets des "Welt"-Chefredakteurs Ulf Poschardt  wecken bei mir meist den Willen zum Widerspruch. In einer Sache aber bin ich ganz seiner Meinung: Was dem Warschau-Korrespondenten Philipp Fritz widerfährt, ist unsäglich. Er ist hineingeraten in den polnischen Präsidentschaftswahlkampf und wird massiv angefeindet. Am Montag hatte ich hier deshalb schon die Losung ausgegeben: Solidarność mit der "Welt"!

Am Sonntag müssen sich die Polen nun in der Stichwahl entscheiden zwischen dem konservativen Amtsinhaber Andrzej Duda und seinem liberalen Herausforderer Rafal Trzaskowski. Für uns der Anlass, hier ein bisschen Platz an die "Welt" zu verleihen und Ulf Poschardt zu Wort kommen zu lassen:

"Der Polen-Korrespondent der WELT, Philipp Fritz, ist Anfeindungen gewöhnt. Oft greifen ihn Anhänger radikaler Parteien in sozialen Medien an. Als aber Präsident Andrzej Duda ihn am 3. Juli persönlich in einer Rede erwähnte, wusste er: Diesmal ist es anders. Duda bezeichnete vor johlenden Anhängern eine Analyse des Wahlergebnisses von Fritz als 'deutsche Attacke'. Weil Fritz es gewagt hatte zu schreiben, dass sein Herausforderer Rafal Trzaskowski für ein entspannteres Verhältnis zu Deutschland stehe.

Duda macht offenbar keinen Unterschied zwischen deutschen Journalisten und der Bundesregierung: Später bestellte die polnische Regierung deutsche Diplomaten in Warschau ein. Und das staatliche Fernsehen zeigte ein Foto von Fritz in den Abendnachrichten. Unverhohlene Hetze gegen einen Journalisten. Hat er Fritz willkürlich aufgrund seines Nachnamens ausgesucht? Fritz ist auf Polnisch ein Begriff für Deutsche allgemein. Der wahre Grund dürfte sein: Duda fürchtet um seine Wiederwahl, will wohl Stimmen im deutschfeindlichen Lager Polens finden. Dafür scheint ihm jedes Mittel recht zu sein. Auch das Opfer der Pressefreiheit."

Ich wünsche dem Kollegen Philipp Fritz viel Kraft.

3. Das Rätsel von Seoul

Einer der populärsten Politiker Südkoreas ist tot; die Leiche des langjährigen Bürgermeisters von Seoul, Park Won-soon, wurde kurz nach Mitternacht auf einem Berg nahe der Innenstadt gefunden. "Die Leute sind sehr erschüttert und reagieren ziemlich gespalten auf die Nachricht", sagt meine Kollegin Katharina Graça Peters, die in Seoul lebt. "Das Ereignis rührt an viele Dinge, die hier in der Gesellschaft brodeln - sexuelle Gewalt, Frauenrechte, Selbstmord."

Noch ist vieles unklar, die Polizei behandelt den Fall als Suizid. Aber so viel weiß man: Park setzte sich stets für Frauenrechte ein. Als Anwalt gewann er in den Neunzigerjahren den ersten Prozess wegen sexueller Belästigung. Als Bürgermeister stärkte er die Position von alleinerziehenden Müttern. In einem Interview sagte er: "Ich erlaube mir zu sagen, dass auch ich Feminist bin."

Am Mittwoch zeigte ihn eine Sekretärin an, der Vorwurf: sexuelle Belästigung. In einem Abschiedsbrief entschuldigt sich Park bei "allen", besonders bei seiner Familie, der er "nur Schmerzen zugefügt" habe. Katharina sagt: "Jetzt werden die Vorwürfe nie geklärt und vor Gericht verhandelt werden." Aber sie rechnet damit, dass der Vorfall eine Debatte in der Gesellschaft entfachen wird.

Mein Lieblingsspiegel heute: der neue

Der neue SPIEGEL ist da, jetzt digital, ab Samstag am Kiosk. So sieht er aus:

Zeile, die wir nicht gemacht haben: Monaco Franke

Zeile, die wir nicht gemacht haben: Monaco Franke

Bis ein Titelbild fertig ist, gibt es zahlreiche Entwürfe - gute, nicht ganz so gute. Und den Rest. Bei einer Idee fiel es uns besonders schwer, sie nicht zu drucken:

Herrschaftszeiten

Herrschaftszeiten

Podcast Cover

Was heute sonst noch wichtig ist

  • Seehofer-Mitarbeiterin nennt Zustand von griechischem Flüchtlingslager "desaströs": Im Juni besuchte eine Delegation des Innenministeriums die Einrichtung. Nach SPIEGEL-Informationen kam eine Beamtin zu einem vernichtenden Urteil: "Alles ist kaputt."

  • Uralt-Windräder sollen deutsche CO2-Bilanz aufbessern: Der Ausbau der Windkraft liegt weit hinter Plan, der Klimaschutz leidet darunter. Experten wollen alte Anlagen vor dem Abriss retten, um die Ökostromlücke zu verkleinern.

  • Telegram löscht rechtsterroristische Inhalte nur selten: Die Betreiber der Chat-App entfernen laut einer Studie nur jeden zehnten rechtsextremen Beitrag, der ihnen gemeldet wird. Die Livestream-Videos der Anschläge von Halle und Christchurch sind noch immer online.

  • Mehrere Männer wegen G20-Ausschreitungen verurteilt: Mehr als 200 Vermummte zogen im Juli 2017 durch den Hamburger Stadtteil Altona und richteten massive Schäden an. Der Gewaltausbruch beschäftigt die Justiz seit Langem, nun hat ein Gericht ein Urteil gefällt.

  • Erdogan kündigt Öffnung der Hagia Sophia für muslimische Gebete an: Erst Kirche, dann Moschee und seit 1935 ein Museum. Nun will der türkische Präsident sie wieder zum muslimischen Gotteshaus machen. Die Grundlage dafür liefert das Oberste Verwaltungsgericht.

Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen

Foto: Juri Pozzi/ Stocksy

Was heute nicht ganz so wichtig ist

Klatsche für die Klatschpresse

Klatsche für die Klatschpresse

Foto: CLIVE BRUNSKILL/ AFP

Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: "Selbst 45 Prozent der Grünenanhänger glauben, dass der Franke als Kanzler die besten Chancen als Kanzler hätte."

Cartoon des Tages: Armes Virus!

Foto: Klaus Stuttmann

Und am Wochenende?

Vielleicht ein einfaches Gericht aus der Kindheit zubereiten: Köchin Verena Lugert schwelgt in Erinnerungen an ihre böhmische Oma und verrät ihr Rezept für Marillenknödel. Schon beim Wort Zimtzuckerbrösel wurde mir warm.

Foto: Helga Lugert / I LOVE FOOD

In diesem Sinne: Wo Marille ist, ist auch ein Weg.

Ihnen ein schönes Wochenende. Herzlich,
Ihr Oliver Trenkamp

Falls Sie die "Lage am Abend" per Mail bekommen möchten: Hier können Sie den Newsletter bestellen.

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.

Abonnieren bei

Es ist ein Fehler aufgetreten. Bitte versuchen Sie es zu einem späteren Zeitpunkt erneut.

Playlist
Speichern Sie Audioinhalte in Ihrer Playlist, um sie später zu hören oder offline abzuspielen. Zusätzlich können Sie Ihre Playlist über alle Geräte mit der SPIEGEL-App synchronisieren, auf denen Sie mit Ihrem Konto angemeldet sind.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten