
Die Lage am Abend Trumps Gedanken verflüchtigen sich beim Reden

Guten Abend, die drei Fragezeichen heute:
Wilder Testen: Warum ist Trumps Corona-Logik so verheerend?
"Welt" im SPIEGEL: Was sagt Chefredakteur Poschardt über die Anfeindungen, denen sein Polen-Korrespondent ausgesetzt ist?
Das Rätsel von Seoul: Warum starb der Bürgermeister der südkoreanischen Hauptstadt?
1. Wild, wild Test: Trumps widersprüchliche Corona-Logik
Der US-Präsident spricht in einfachen Worten über Kriminalität, über schwarze und weiße Amerikaner. Seine Anhänger folgen ihm begeistert. Linguisten analysieren später: Seine Sätze erreichen in etwa das Sprachniveau eines Sechstklässlers . Es ist das Jahr 1993, der US-Präsident heißt Bill Clinton , ein Meister der politischen Rede .
Fast ein Vierteljahrhundert später wird Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt, auch er spricht auf Sechstklässler-Niveau oder, je nach Studie, auch mal auf dem Level eines Viertklässlers . (Der jüngere Bush und Obama sprachen meist auf dem Niveau von Achtklässlern.) In der "Washington Post" wird ein Trump-Fan im Wahlkampf 2016 zitiert: "Er redet nicht so mit uns, als wären wir blöd." Verständlich und mitreißend reden - für Politiker zwingend, eigentlich eine Binse.
Das Problem bei Trump: Sein Denken tanzt Limbo unter seiner Sprache, dieser Eindruck verfestigt sich jeden Tag mehr, den die Coronakrise andauert. Zur Abstraktion, zur Analyse komplexer Vorgänge scheint er, anders als die meisten seiner Amtsvorgänger, weder willens noch fähig.
Die immer neuen Höchstmeldungen der Neuinfektionen erklärt er mit der Logik eines Vorschülers: Wir testen mehr, deshalb haben wir auch mehr Fälle. Das stimmt ein Stück weit, der Umkehrschluss stimmt aber eben nicht. Würden die Amerikaner weniger testen, hätten sie nicht weniger Infizierte - nur die Dunkelziffer wäre größer, wie Julia Merlot aus unserem Wissenschaftsressort und Patrick Stotz aus unserem Datenteam erklären. "Entscheidend ist die sogenannte Positivrate - das Verhältnis von positiven zu durchgeführten Tests", sagt Julia. Und leider steigt seit Mitte Juni die Zahl der Neuinfektionen schneller als die Zahl der Tests.
Selbst wenn der US-Präsident das verstünde, er würde es wohl nicht wissen wollen: Es widerspricht seiner Wahlkampfstrategie , die Pandemie für beendet zu erklären. Die Wirtschaft soll anspringen, die Schulen wieder öffnen, von der ersten bis zur zwölften Klasse. Kleist steht kopf: Trumps Gedanken verflüchtigen sich beim Reden.
Lesen Sie hier die ganze Analyse: Wird in den USA einfach nur mehr getestet?
2. "Welt" im SPIEGEL: Solidarność mit Philipp Fritz
Die Kommentare und Tweets des "Welt"-Chefredakteurs Ulf Poschardt wecken bei mir meist den Willen zum Widerspruch. In einer Sache aber bin ich ganz seiner Meinung: Was dem Warschau-Korrespondenten Philipp Fritz widerfährt, ist unsäglich. Er ist hineingeraten in den polnischen Präsidentschaftswahlkampf und wird massiv angefeindet. Am Montag hatte ich hier deshalb schon die Losung ausgegeben: Solidarność mit der "Welt"!
Am Sonntag müssen sich die Polen nun in der Stichwahl entscheiden zwischen dem konservativen Amtsinhaber Andrzej Duda und seinem liberalen Herausforderer Rafal Trzaskowski. Für uns der Anlass, hier ein bisschen Platz an die "Welt" zu verleihen und Ulf Poschardt zu Wort kommen zu lassen:
"Der Polen-Korrespondent der WELT, Philipp Fritz, ist Anfeindungen gewöhnt. Oft greifen ihn Anhänger radikaler Parteien in sozialen Medien an. Als aber Präsident Andrzej Duda ihn am 3. Juli persönlich in einer Rede erwähnte, wusste er: Diesmal ist es anders. Duda bezeichnete vor johlenden Anhängern eine Analyse des Wahlergebnisses von Fritz als 'deutsche Attacke'. Weil Fritz es gewagt hatte zu schreiben, dass sein Herausforderer Rafal Trzaskowski für ein entspannteres Verhältnis zu Deutschland stehe.
Duda macht offenbar keinen Unterschied zwischen deutschen Journalisten und der Bundesregierung: Später bestellte die polnische Regierung deutsche Diplomaten in Warschau ein. Und das staatliche Fernsehen zeigte ein Foto von Fritz in den Abendnachrichten. Unverhohlene Hetze gegen einen Journalisten. Hat er Fritz willkürlich aufgrund seines Nachnamens ausgesucht? Fritz ist auf Polnisch ein Begriff für Deutsche allgemein. Der wahre Grund dürfte sein: Duda fürchtet um seine Wiederwahl, will wohl Stimmen im deutschfeindlichen Lager Polens finden. Dafür scheint ihm jedes Mittel recht zu sein. Auch das Opfer der Pressefreiheit."
Ich wünsche dem Kollegen Philipp Fritz viel Kraft.
Lesen Sie hier mehr zu den Hintergründen: Hass wird outgesourct
3. Das Rätsel von Seoul
Einer der populärsten Politiker Südkoreas ist tot; die Leiche des langjährigen Bürgermeisters von Seoul, Park Won-soon, wurde kurz nach Mitternacht auf einem Berg nahe der Innenstadt gefunden. "Die Leute sind sehr erschüttert und reagieren ziemlich gespalten auf die Nachricht", sagt meine Kollegin Katharina Graça Peters, die in Seoul lebt. "Das Ereignis rührt an viele Dinge, die hier in der Gesellschaft brodeln - sexuelle Gewalt, Frauenrechte, Selbstmord."
Noch ist vieles unklar, die Polizei behandelt den Fall als Suizid. Aber so viel weiß man: Park setzte sich stets für Frauenrechte ein. Als Anwalt gewann er in den Neunzigerjahren den ersten Prozess wegen sexueller Belästigung. Als Bürgermeister stärkte er die Position von alleinerziehenden Müttern. In einem Interview sagte er: "Ich erlaube mir zu sagen, dass auch ich Feminist bin."
Am Mittwoch zeigte ihn eine Sekretärin an, der Vorwurf: sexuelle Belästigung. In einem Abschiedsbrief entschuldigt sich Park bei "allen", besonders bei seiner Familie, der er "nur Schmerzen zugefügt" habe. Katharina sagt: "Jetzt werden die Vorwürfe nie geklärt und vor Gericht verhandelt werden." Aber sie rechnet damit, dass der Vorfall eine Debatte in der Gesellschaft entfachen wird.
Lesen Sie hier mehr zu den Hintergründen: Südkorea trauert, Südkorea rätselt
Mein Lieblingsspiegel heute: der neue
Der neue SPIEGEL ist da, jetzt digital, ab Samstag am Kiosk. So sieht er aus:

Zeile, die wir nicht gemacht haben: Monaco Franke
Bis ein Titelbild fertig ist, gibt es zahlreiche Entwürfe - gute, nicht ganz so gute. Und den Rest. Bei einer Idee fiel es uns besonders schwer, sie nicht zu drucken:

Herrschaftszeiten
Die Titelgeschichte "Kindskopf, Kraftprotz - Kanzler?" lesen Sie hier .
Was heute sonst noch wichtig ist
Seehofer-Mitarbeiterin nennt Zustand von griechischem Flüchtlingslager "desaströs": Im Juni besuchte eine Delegation des Innenministeriums die Einrichtung. Nach SPIEGEL-Informationen kam eine Beamtin zu einem vernichtenden Urteil: "Alles ist kaputt."
Uralt-Windräder sollen deutsche CO2-Bilanz aufbessern: Der Ausbau der Windkraft liegt weit hinter Plan, der Klimaschutz leidet darunter. Experten wollen alte Anlagen vor dem Abriss retten, um die Ökostromlücke zu verkleinern.
Telegram löscht rechtsterroristische Inhalte nur selten: Die Betreiber der Chat-App entfernen laut einer Studie nur jeden zehnten rechtsextremen Beitrag, der ihnen gemeldet wird. Die Livestream-Videos der Anschläge von Halle und Christchurch sind noch immer online.
Mehrere Männer wegen G20-Ausschreitungen verurteilt: Mehr als 200 Vermummte zogen im Juli 2017 durch den Hamburger Stadtteil Altona und richteten massive Schäden an. Der Gewaltausbruch beschäftigt die Justiz seit Langem, nun hat ein Gericht ein Urteil gefällt.
Erdogan kündigt Öffnung der Hagia Sophia für muslimische Gebete an: Erst Kirche, dann Moschee und seit 1935 ein Museum. Nun will der türkische Präsident sie wieder zum muslimischen Gotteshaus machen. Die Grundlage dafür liefert das Oberste Verwaltungsgericht.
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
Die Akte Amazon: Jeff Bezos' Lieferkonzern baut in der Pandemie seine Macht aus. Wer dabei auf der Strecke bleibt, ist ihm egal .
Nein zum "Hackback": Ein Gesetz sollte Behörden erlauben, in ausländische Server einzudringen, um Cyberangriffe zu stoppen. Doch das Vorhaben scheiterte an den Sozialdemokraten .
Wie wird man zum Gewinner? Ein Wissenschaftler in Boston hat herausgefunden: Teure Unis bringen wenig, ältere Start-up-Gründer reüssieren eher, und bei Bewerbungen sollte man als Letzter antreten .

Auf dem Spielplatz verwandeln sich vernunftbegabte Erwachsene in Aliens, sagt unser Kolumnist Markus Deggerich. Nach anderthalb Jahrzehnten Sandkastenerfahrung zieht er Bilanz: "Das Virus hat mir eine monatelange Pause verschafft. Danke, Corona!"
Mit Fehden und Überfällen sorgten Ritter im Mittelalter für Rechtssicherheit beim Handel. Dabei gingen sie brutal vor, hielten sich aber auch an klare Regeln: Wenn ein blutiges Messer in der Haustür steckte, blieben noch drei Tage Zeit .
Was heute nicht ganz so wichtig ist

Klatsche für die Klatschpresse
Foto: CLIVE BRUNSKILL/ AFPBlackmail on Sunday: Mit der britischen Boulevardpresse muss sich Herzogin Meghan, 38, nach wie vor herumschlagen, wie der "Guardian" berichtet. So habe die "Mail on Sunday" gedroht, die Namen von fünf engen Markle-Freundinnen zu veröffentlichen. Das will die Schauspielerin per Gerichtsbeschluss verbieten lassen. "Jede dieser Frauen ist eine Privatperson, junge Mutter und jede hat das Grundrecht auf Privatsphäre."
Mondän Family: Wer es sich leisten kann, lässt die Geburt des Nachwuchses durch einen Sprecher verkünden, so wie Schauspieler Jesse Tyler Ferguson, 44, bekannt aus der Serie "Modern Family", und sein Ehemann, der Anwalt Justin Mikita, 34. Die Tochter Beckett Mercer Ferguson-Mikita sei am 7. Juli zur Welt gekommen. "Die frischgebackenen Eltern sind überglücklich und aufgeregt über diese neue Reise als dreiköpfige Familie."
An "Tatort" und Stelle: Stefanie Reinsperger, 32, soll neue Kommissarin im Dortmunder Fernseh-Ermittler-Team werden, wie der WDR mitteilte. Und was sagt sie dazu? Dödö-dödö-dö-dö-dö... Sie sei "dankbar für diese Chance und Gelegenheit", zitierte der Sender die Darstellerin. Spannend.
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: "Selbst 45 Prozent der Grünenanhänger glauben, dass der Franke als Kanzler die besten Chancen als Kanzler hätte."
Cartoon des Tages: Armes Virus!

Und am Wochenende?
Vielleicht ein einfaches Gericht aus der Kindheit zubereiten: Köchin Verena Lugert schwelgt in Erinnerungen an ihre böhmische Oma und verrät ihr Rezept für Marillenknödel. Schon beim Wort Zimtzuckerbrösel wurde mir warm.

In diesem Sinne: Wo Marille ist, ist auch ein Weg.
Ihnen ein schönes Wochenende. Herzlich,
Ihr Oliver Trenkamp
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