Oliver Trenkamp

Die Lage am Abend Ein Paralleluniversum namens Schweden

Oliver Trenkamp
Von Oliver Trenkamp, Blattmacher in der Chefredaktion

Guten Abend, die drei Fragezeichen heute:

  1. Lockerheit statt Lockdown - Wie irrten die Schweden durch die Pandemie?

  2. Pence gegen Harris - Die Zweiten sieht man besser?

  3. Abschied von Herbert Feuerstein - Stöhn, schluchz. Tröst?

1. Bayerische Strenge, schwedische Laxheit?

Berlin beschließt eine Sperrstunde, Bayern ein Beherbergungsverbot für Urlauber aus Risikogebieten; die anderen Bundesländer ziehen nach - die Strenge im Kampf gegen die Pandemie kehrt zurück. Zu schnell steigen die Zahlen, zu groß ist die Furcht vor einer "diffusen Verbreitung", wie es Regierungssprecher Steffen Seibert formulierte. (Wie drei Medizinstudierende die Coronakrise erleben, lesen Sie hier .)

Viele andere europäische Länder befinden sich bereits im Alarmmodus, Pubs und Restaurants in Schottland müssen gut zwei Wochen lang auf den Ausschank von Alkohol verzichten. (Ein Kollege verkniff sich die Überschrift "Schotten nicht mehr dicht".)

Selbst die Schweden werden vorsichtiger - oder besser gesagt: weniger unvorsichtig. Erst jetzt, seit Beginn dieses Monats, gilt dort zum Beispiel: Angehörige von Infizierten sollen für sieben Tage zu Hause bleiben. Allerdings dürfen Kinder aus solchen Haushalten bis zur neunten Klasse weiter zur Schule gehen, wie es in einem "Science"-Artikel  heißt, der gerade in den sozialen Medien kursiert.

Meine Kollegin Nina Weber aus unserem Gesundheitsteam empfiehlt den Text, weil er anschaulich nachzeichnet, wie Corona im größten Land Skandinaviens verharmlost wurde - von staatlichen Stellen, Experten und von der Bevölkerung. Mit gravierenden Folgen: Etwa 590 pro einer Million Einwohner sind dort demnach an Covid-19 gestorben, das ist vergleichbar mit den Todeszahlen in den USA und Italien. Das Virus hat allein in Stockholm sieben Prozent der Pflegeheimbewohner dahingerafft. (Was Schwedens Staatsepidemiologe zur Sterberate sagt, lesen Sie hier.)

Natürlich haben auch einige schwedische Forscherinnen und Forscher die Laxheit kritisiert. Die Gruppe - zunächst "die 22" genannt, inzwischen sind es aber deutlich mehr - forderte seit April härtere Maßnahmen gegen das Coronavirus. "Sie wurden hart angegangen für ihre Kritik", sagt Nina. Ärzte haben dem Bericht zufolge ihren Job verloren, weil sie auf Masken bestanden. "Science" zitiert die Epidemiologin Nele Bruseelaers: "Es ist seltsam, so heftigen Gegenwind zu haben, obwohl wir nur sagen, was Forschende international sagen. Als wären wir in einem anderen Universum."

2. Nummer 2 strebt

Den amerikanischen Präsidenten begleitet auf Reisen immer ein Ärzteteam. An Bord der "Air Force One" gibt es einen OP und das gesamte Sortiment einer Apotheke. "Mit wenigen Handgriffen kann dort eine Notaufnahme mit vollständiger Erstversorgung die Arbeit aufnehmen", berichtet  meine Kollegin Katharina Fiedler. "Blutkonserven mit der Blutgruppe des Präsidenten lagern in einem Kühlschrank." Zu den Nebenwirkungen der Covid-Erkrankung Donald Trumps gehört, dass solche Informationen weltweit auf Interesse stoßen.

Zu den Nebenwirkungen gehört aber auch: Das Augenmerk richtet sich verstärkt auf die zweite Reihe. "Trump hat Corona, Biden ist 77 - selten war ein TV-Duell der US-Vize-Kandidaten so wichtig wie heute Nacht", analysiert mein Kollege Alexander Sarovic. Der Republikaner Mike Pence und die Demokratin Kamala Harris werden gegen 3 Uhr deutscher Zeit aufeinandertreffen, getrennt durch eine Plexiglasscheibe und etwa 3,5 Meter Sicherheitsabstand (statt der anfangs geplanten 2 Meter).

Ein Schreikampf wie zwischen Trump und Biden ist nicht zu erwarten - im Gegenteil: "Es könnte die einzige Debatte im Wahlkampf werden, bei der die Zuschauer die inhaltlichen Positionen der beiden Lager kennenlernen", sagt Alexander.

3. Schluchz mit lustig

Ein guter Gag-Schreiber würde daraus vielleicht etwas machen: Der Militärische Abschirmdienst MAD bekommt eine neue Chefin, der Ex-Chef der deutschen Ausgabe von "Mad" stirbt, beides wird am selben Tag bekannt. Vielleicht würde ein guter Gag-Schreiber aber auch erkennen: Dieser Zufall taugt nicht für einen Witz.

Herbert Feuerstein leitete 20 Jahre lang die deutsche "Mad"-Redaktion, er erfand und moderierte "Schmidteinander" mit Harald Schmidt, er prägte den Humor mehrerer Generationen. Jetzt ist er gestorben, wie der WDR mitteilte.

Meine Kollegen Alexander Kühn und Markus Brauck hatten einmal die Gelegenheit, ein Doppelinterview zu führen mit Feuerstein und Manuel Andrack, dem zweiten großen Schmidt-Sidekick. "Ein Veteranentreffen", nennt es Alex. "Der Anlass war damals Harald Schmidts letzte Late-Night-Show auf Sat.1." Doch die Hoffnung auf ein launiges Plauderstündchen wurde von Feuerstein und Andrack zunächst enttäuscht: "Beide erklärten mit gespieltem Ernst, sie würden nur nett über Schmidt reden, 'wie immer', fügte Feuerstein hinzu." Alex und Markus waren bestürzt, was Feuerstein und Andrack auskosteten. Dann legten sie los: Schmidt sei "verdammt faul", lästerte Feuerstein, habe sich in der Zusammenarbeit jedoch immer durchgesetzt: "Er ging vor wie ein afrikanischer Diktator."

Alex sagt: "Feuerstein wirkte an diesem Nachmittag wie ein Pennäler, der über den verhassten Lehrer herzieht, in dessen Abwesenheit." Ein Vergleich, der nur bedingt stimmt: "Schmidt hatte von Feuerstein doch mindestens so viel gelernt wie der von ihm." (Das ganze SPIEGEL-Gespräch von damals lesen Sie hier.)

Mein Kollege Stefan Kuzmany, der Feuerstein auch mal interviewte, schreibt in seinem Nachruf: "Zwanzig Jahre lang kippte er hemmungslosen Unsinn in die Köpfe pubertierender Jungs." Bei "Mad" übte Herbert Feuerstein kulturellen Einfluss aus, der bis heute nachwirkt - so bereicherte er, wie Stefan schreibt, "mit seinen Übertragungen der amerikanischen Comics die deutsche Sprache um seither allgemein gebräuchliche Befindlichkeitsbekundungen wie 'Würg!' für Missfallen und 'Lechz!' für leidenschaftliche Sehnsucht". Und die von ihm erdachten Wortspiele prägten "nachhaltig den Stil, in dem noch heute in Redaktionen Schlagzeilen und in Agenturen Werbeclaims formuliert werden". Keine Ahnung, wen Stefan damit meint.

  • Lesen Sie hier den Nachruf: Würg!

Podcast Cover

Was heute sonst noch wichtig ist

Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen

  • Was steckt hinter der Anti-Trump-Botschaft im Hosenetikett? Die Modefirma Patagonia mischt sich auf ungewöhnliche Weise in den US-Wahlkampf ein. Firmenchef Ryan Gellert erklärt, wie es dazu kam .

  • Wie viel Komik steckt im Tod? Nach "Lehrerkind" hat Bastian Bielendorfer nun ein Corona-Tagebuch geschrieben. Darin macht er auch das Sterben seiner Mutter im Jahr 2018 öffentlich .

  • Wie der Transfermarkt in Corona-Zeiten einbricht - außer in England: In der Sommertransferperiode gaben deutsche Fußballklubs fast 60 Prozent weniger für neue Spieler aus. Ist der Kaufrausch vorbei? Die große Datenanalyse für Europas Topligen .

  • Als Bankrotteure buchstäblich die Hosen runterlassen mussten: Es war die bis dahin größte Finanzkrise Europas: Um 1340 gingen in der Bankenmetropole Florenz 350 Unternehmen pleite und rissen Firmen auf dem ganzen Kontinent in den Abgrund. Wie kam es dazu ?

Was heute nicht so wichtig ist

Empfangsbereit

Empfangsbereit

Foto: Georg Wendt / dpa

Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: "Doch je länger der Commander-in-Chief dort oben steht, desto häufiger öffnet er immer wieder leicht verzehrt seinen Mund, um zu atmen. "

Cartoon des Tages: Keine Angst vor Covid-19!

Foto: Klaus Stuttmann

Und heute Abend?

Bis zur Debatte in den USA wach bleiben? Dabei könnte die neue Single von AC/DC helfen, die erste seit sechs Jahren. Sie heißt "Shot In The Dark" - und ist "der perfekte Soundtrack für die herbstliche Corona-Sperrstunde", wie mein Kollege Andreas Borcholte findet. (Hier mehr.)

So young kommen wir nicht mehr zusammen

So young kommen wir nicht mehr zusammen

Foto:

Suzi Pratt / Getty Images

In diesem Sinne: Drehen Sie auf, sehen Sie zu.

Herzlich Ihr Oliver Trenkamp

Hier können Sie die "Lage am Abend" per Mail bestellen.

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