
Die Lage am Abend Wie das Virus einen Raketenantrieb bekam

Guten Abend, die drei Fragezeichen heute:
Virologin über Corona – Den Shutdown verlängern?
Frontex – Ist der europäische Grenzschutz außer Kontrolle?
Bauerfeind, Bauerfreund – Wer entscheidet über die Klimapolitik?
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1. Die Angst vor den Mutanten
Sollten die langsam sinkenden Corona-Zahlen bei Ihnen Hoffnung aufkeimen lassen, ein Blick in die aktuellen Meldungen wirkt leider wie ein Gegenmittel:
Die britische Virusvariante wurde mittlerweile in 13 Bundesländern nachgewiesen – und macht knapp sechs Prozent der kursierenden Sars-CoV-2-Viren aus, wie RKI-Chef Lothar Wieler heute sagte.
In Großbritannien zeigt sich, wie mit steigenden Corona-Fallzahlen auch seltene Beschwerden zunehmen: Wie der »Guardian« berichtet, kommen zurzeit wöchentlich bis zu hundert Kinder ins Krankenhaus, die am Pädiatrischen Inflammatorischen Multisystem-Syndrom, kurz PIMS, erkrankt sind.
Besonders mitgenommen hat mich aber das Interview , das meine Kollegin Rafaela von Bredow und mein Kollege Jürgen Dahlkamp mit der Virologin Melanie Brinkmann geführt haben. Sie sagt:
»Die Mutante aus Großbritannien und andere werden uns überrennen, das Virus hat einen Raketenantrieb bekommen.«
»Dieser Wettlauf ist längst verloren.«
»Es wird kommen wie in England.«
Brinkmann gehörte jüngst zum wissenschaftlichen Beraterstab für Angela Merkel und die Ministerpräsidenten. Mit Blick auf die nächste Entscheiderrunde am kommenden Mittwoch sagt sie: »Die Politik wird garantiert nicht lockern können, ohne einen Schub an Neuinfektionen zu riskieren.« Sie fordert eine konsequente Eindämmungsstrategie, um einen Dauer-Shutdown zu vermeiden (mehr zum »No Covid«-Ansatz hier).
»Ich finde Brinkmann sehr mutig«, sagt Rafaela. »In diesen aufgeheizten Debatten, in diesem nicht enden wollenden Ausnahmezustand mit pandemieerschöpften und schlecht gelaunten Menschen weitere und womöglich schärfere Einschränkungen zu fordern, das muss man sich erst mal trauen.« Brinkmann hatte schon das ganze letzte Jahr in Talkshows versucht, als Stimme der Wissenschaft die Pandemie zu erklären und wie Christian Drosten jede Menge Gegenwind bekommen. Was sie aber nicht angefochten hat. »Jetzt trat sie mit ›No Covid‹ wieder auf die nationale Bühne – und bekam den Hass der Lockerungsapologeten zu spüren, als die ›Bild‹ sie hinhängte als ›radikalste Stimme in Merkels Team‹, sie wolle den ›Super-Lockdown‹.«
Daraufhin habe der Ton der E-Mails an sie, vorher zumeist positiv, sich geändert, plötzlich sei da der pure Hass angekommen, sagt Brinkmann: »Da hatte ich zum ersten Mal Angst.« Sie habe ihre beiden älteren Söhne gebeten: »Guckt bitte, ob ihr Leute seht, die vor dem Haus herumgehen und sich merkwürdig benehmen.«
Das ganze Interview lesen Sie hier: Virologin Brinkmann warnt vor Corona-Lockerungen
2. Grenzüberschreitung
Seit vergangenem Herbst berichten wir darüber, dass Europas Grenzschutzagentur Frontex in illegale Rückführungen von Flüchtlingen, sogenannte Pushbacks, in der Ägäis verstrickt ist. Die EU-Antibetrugsbehörde Olaf leitete daraufhin Ermittlungen gegen Frontex ein, auch das EU-Parlament prüft die Vorwürfe.
Meine Kollegen Giorgos Christides, Steffen Lüdke und Maximilian Popp haben nun mit Frontex-Mitarbeitern gesprochen und interne Dokumente ausgewertet. Die Krise bei Frontex, so stellten sie fest, beschränkt sich nicht auf Pushbacks, es geht offenbar auch um Mobbingvorwürfe gegen Frontex-Chef Fabrice Leggeri, mögliches Missmanagement und finanzielle Unregelmäßigkeiten. »Frontex soll Europas Grenzen kontrollieren«, sagt Steffen, »doch die Agentur ist selbst außer Kontrolle.«
Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Die Akte Frontex
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3. Wer ist hier der Bauerfeind?
Macht ist ja oft eine Frage der Zuständigkeiten. Wer kümmert sich um was? Wer lädt wen ein? Wer entscheidet am Ende? Wer erledigt die Arbeit? Wer schmückt sich mit Erfolgen? An wem bleiben Misserfolge hängen? Auf dem Feld der Klimapolitik lässt sich das gerade ganz gut beobachten, wie meine Kollegen Philipp Kollenbroich und Jonas Schaible berichten . Sie haben interne Dokumente ausgewertet, die zeigen: Einige Agrarminister verweigern ihren Umweltkollegen direkte Mitsprache. »Das Problem beginnt schon auf Bundesebene«, schreiben Philipp und Jonas. »Das Umwelt- und das Landwirtschaftsministerium in Berlin verbindet vor allem gegenseitige Abneigung.«
Fast bizarr findet Philipp das Ganze: »Da wird derzeit die wohl wichtigste EU-Agrarreform der letzten Jahrzehnte ausgehandelt. Und in Deutschland streitet man sich monatelang per Brief, wer bei wem mit am Tisch sitzen darf, statt einen inhaltlichen Kompromiss auszuarbeiten.«
Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Klimapolitik wird zur Machtfrage
Was heute sonst noch wichtig ist
Russland weist drei EU-Diplomaten aus: Im Streit über den Fall Nawalny hat Russland drei europäische Diplomaten des Landes verwiesen – darunter auch einen deutschen. Die Bundesregierung droht umgehend mit Konsequenzen.
»Offenbar wurden gezielt Akten verändert«: Haben Mitarbeiter des Jugendamts Höxter nachträglich Unterlagen manipuliert? Diese Frage wirft der Untersuchungsausschuss zum Missbrauchsfall Lügde auf. Abgeordnete verlangen nach SPIEGEL-Informationen Aufklärung.
US-Senat ebnet Weg für Bidens Corona-Hilfsplan: US-Vizepräsidentin Kamala Harris hat mit ihrem Votum eine Pattsituation im Senat aufgehoben und den Weg für Bidens Billionenprogramm im Kampf gegen die Pandemie vorerst frei gemacht. Doch es gibt noch Hürden.
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen

Die Titelgeschichte aus dem neuen SPIEGEL, hier gibt es das neue Heft digital, morgen am Kiosk.
Foto: Titelfotos [M]: Leopold Fiala (2); Florian Generotzky für den SPIEGEL; Tobias Hase / dpa»Der Champagner wurde in Bierkrügen ausgeschenkt«: Jörn Leogrande arbeitete bei Wirecard 15 Jahre lang mit Markus Braun und Jan Marsalek zusammen. Hier spricht er über das Innenleben des Dax-Konzerns, Champagnerpartys und die Frage, warum selbst enge Mitarbeiter vom Betrug nichts ahnten .
WDR löschte heiklen Beitrag über Laschet: Armin Laschet wettert gegen Aktivisten im Hambacher Forst. Ein Hörfunkbeitrag darüber steht zweieinhalb Stunden in der ARD-Mediathek, dann verschwindet er. Warum?
Wie der VfB Stuttgart seine Mitglieder verriet: Der Bundesligist soll Daten weitergegeben haben, um Vereinsmitglieder zu beeinflussen. Weil Funktionäre die Aufklärung blockieren, eskaliert nun der Machtkampf zwischen Stadionkurve und Kapital .
Das Rätsel um die Trennungskinder-Studie: Das Familienministerium gab 2015 eine Studie in Auftrag, die zeigen sollte, was Kinder von Trennungseltern brauchen. Bis heute ist sie nicht erschienen. Was dahintersteckt .
Was heute nicht so wichtig ist

Don't-Speaktakulärer Auftritt
Foto:Carolyn Kaster/ AP
Selbstzweifel: Die US-Sängerin Gwen Stefani, 51, hat wenige Tage vor dem Finale der Footballliga NFL mit der Nachrichtenagentur dpa über ihren Auftritt beim Super Bowl vor 18 Jahren gesprochen, als sie mit ihrer Band No Doubt »I'm Just a Girl« spielte und mit dem Sänger Sting »Message in a Bottle« sang: »Noch heute kann ich kaum glauben, dass sie uns ausgewählt haben. Es war eigentlich eine Nummer zu groß für mich damals. Ich glaube, heute könnte ich einen besseren Job machen.«
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »130 handgeschriebe Seiten Jackie Kennedys sind in Irland aufgetaucht.«
Cartoon des Tages: Nimm das, Wladimir!

Und am Wochenende
Könnten Sie ein neues Buch anfangen, vielleicht »Zart und frei. Vom Sturz des Patriarchats«: Geschrieben hat es die Soziologin und Journalistin Carolin Wiedemann. »Gesellschaftskritik verknüpft Wiedemann behände mit der Geschichte des Feminismus und den Forderungen gegenwärtiger queer-feministischer Bewegungen«, schreibt meine Kollegin Elisa von Hof. »Wiedemann erzählt so souverän und detailgenau, dass auch jene einsteigen können, bei denen Simone de Beauvoir oder Margarete Stokowski noch nicht auf dem Nachttisch liegen. Und jenen, die Angst um ihre Privilegien haben, nimmt sie die Furcht.«
Oder Sie gucken die Büchershow »Spitzentitel« meines Kollegen Volker Weidermann, in der Carolin Wiedemann über ihr Buch spricht, über die »binäre Ordnung, die die Menschen einteilt in zwei Geschlechter«, und darüber, wie sich das Zusammenleben freier und solidarischer organisieren ließe.
In diesem Sinne: Cis Montag!
Ein schönes Wochenende, herzlich
Ihr Oliver Trenkamp
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