
Die Lage am Abend Die Shutdown-Angst kehrt zurück

Guten Abend, die drei Fragezeichen heute:
Delta-Dilemma – Wie wahrscheinlich ist ein Shutdown im Herbst?
Bundeswehr im Ausland – Was bedeutet es für Soldaten und ihre Familien?
Kroos-Rückzug – Richtiger Zeitpunkt?
1. Dicht nach dem Urlaub?
Zehn Wochen lang sind die Corona-Infektionszahlen in Europa gesunken, jetzt steigen sie wieder – nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation um zehn Prozent in der vergangenen Woche. In Zypern ist die 14-Tage-Inzidenz laut europäischer Gesundheitsbehörde am höchsten: 179,6 pro 100.000 Einwohner.
Es folgt das Virusvariantengebiet Portugal mit 168,8 und der Deutschen liebstes Urlaubsland Spanien mit 107,5. Dort zeigt sich, wie sich die Dynamik verändert hat: mehr infizierte junge Leute, viel weniger Tote. In Spanien dominiert allerdings auch noch die Alpha-Variante. (Hier geht's zum Überblick : Wie ist die Lage in zehn beliebten Reiseländern?)
In Deutschland sehen die Zahlen insgesamt gut aus – hohe Impfquote, wenige Infektionen. Doch auch hier wächst die Sorge vor einer vierten Welle. Die Delta-Variante, jene in Indien entdeckte, hochansteckende Mutante, breitet sich aus. »Die anstehende Reisezeit, in der Millionen Bürgerinnen und Bürger Urlaub machen, könnte, so die Sorge, die Pandemie wieder anfachen«, berichtet ein Team um meinen Kollegen Martin Knobbe . »Und die Frage ist, ob die Bundesregierung vorbereitet ist – oder die Lage einmal mehr falsch einschätzt.«
Politikerinnen und Politiker aus verschiedensten Parteien beteuern: Einen neuen Shutdown wollen und müssen wir vermeiden. SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach etwa spricht sich gegen einen zu harten Kurs aus, sollten die Fallzahlen hochschnellen. »Ein neuer Lockdown kann dann kein Weg sein, wir werden kämpfen müssen.« Die Zeiten hätten sich geändert, glaubt er. »Die Bereitschaft der Bevölkerung, einen neuen Lockdown zu akzeptieren, ist einfach zu gering.«
Die Bevölkerung selbst allerdings rechnet fest damit: In einer aktuellen SPIEGEL-Umfrage geben mehr als 80 Prozent an, sie halten neue Lockdown-Maßnahmen im Herbst für eher oder sehr wahrscheinlich.
Mehr lesen Sie hier: Deutschlands Delta-Dilemma
2. Unter Einsatz ihres Lebensglücks?
Die letzten Soldaten von USA und Nato haben ihren wichtigsten Stützpunkt Bagram in Afghanistan geräumt und an afghanische Sicherheitskräfte übergeben. Nach fast 20 Jahren steht der vollständige Abzug der internationalen Truppen damit wohl unmittelbar bevor. Die Bundeswehr war schon vor einigen Tagen abgerückt: Militärmaschinen flogen die letzten deutschen Soldaten aus dem Land und beendeten die verlustreiche Auslandsmission. (Einen Kommentar zum deutschen Scheitern am Hindukusch lesen Sie hier.)
Was bedeuten solche Einsätze für die Soldaten und ihre Angehörigen? Was hält eine Familie zusammen, wenn der Vater oder die Mutter zu riskanten Missionen in Krisengebiete aufbricht? Meine Kolleginnen Nike Laurenz und Maria Stöhr haben neun Monate lang ein Paar begleitet , das mit solchen Fragen konfrontiert war: Uwe Weber, 39, Oberstleutnant der Luftwaffe, lebt mit seiner Frau Stefanie und den beiden Töchtern, 3 und 7, in Brandenburg; im Garten steht ein Klettergerüst. Mitten in der Pandemie geht er für fast ein halbes Jahr nach Mali; die Friedensmission dort ist der gefährlichste Auslandseinsatz der Bundeswehr.
Nike und Maria halten den Kontakt zur gesamten Familie, über Telefon, Zoom, bei Kaffee und Kuchen im Garten. »Die Webers entwickelten ein erstaunliches Durchhaltevermögen«, sagt Maria. »Trotz der enormen Belastungen.« Die Ehe unter Extrembedingungen zeige, sagt Nike: »Um zusammenzuhalten, muss man nicht zusammen am selben Ort sein.«
Lesen Sie hier die ganze Geschichte: »Warum muss Papa weg?«
3. Ohne Kroos was los?
Kurz zum Sport, für viele andere ist ja noch Europameisterschaft: Die Schweizer Nationalmannschaft, liebevoll Nati genannt, spielt heute gegen Spanien – und gegen das Misstrauen im eigenen Land, wie meine Kollegin Ann-Dorit Boy und mein Kollege Marcus Krämer berichten. Weil im EM-Team viele »Secondos« spielen, Kinder von Einwanderern, schlug der Mannschaft Rassismus und Ablehnung entgegen. »Nun scheint sich die Stimmung zu drehen«, schreiben die beiden, der Erfolg versöhne sogar Rechtspopulisten mit der Nati (hier mehr dazu ).
Drei Tage nach dem deutschen EM-Aus gibt es auch Nachrichten aus dem DFB-Team: Toni Kroos, Weltmeister von 2014, hat seinen Rücktritt erklärt. Diese Entscheidung sei »unwiderruflich«, teilte er via Instagram und im Podcast mit seinem Bruder Felix mit. »Mit dem Gespür für den richtigen Moment. Das hat auch nicht jeder«, kommentiert mein Kollege Peter Ahrens.
Den ganzen Kommentar lesen Sie hier: Gelobt, nicht geliebt
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Was heute sonst noch wichtig ist
EU droht mit Vergeltung für hybride Angriffe: Im Kampf gegen hybride Gegner setzt die EU auf Abschreckung. Nach SPIEGEL-Informationen sollen die europäischen Streitkräfte bei Angriffen auf ihre Missionen künftig gezielt zurückschlagen können.
Wer folgt beim ZDF auf Intendant Thomas Bellut? Norbert Himmler galt als Favorit, doch zuletzt holte auch Tina Hassel viele Stimmen. Dann aber gab sie auf, »erhobenen Hauptes«.
Italienische Staatsanwaltschaft ermittelt gegen weitere Verdächtige: Die Gruppe der Verdächtigen im Fall der abgestürzten Seilbahngondel am Lago Maggiore wird immer größer, inzwischen sind es 14 Personen. Darunter sind auch ranghohe Mitarbeiter des zuständigen Seilbahnbauers.
Historiker zählen Trump zu den schlechtesten Präsidenten der Geschichte: Er sei der erfolgreichste und beste US-Präsident aller Zeiten – das behauptete Donald Trump immer wieder. Experten ziehen nun eine ganz andere Bilanz. Demnach waren nur drei seiner Vorgänger noch schlechtere Anführer.
Meine Lieblingskolumne heute: Es sinkt für Sie – das Niveau
Vorbeugend ein schlechter Witz: Berufsmäßige Fische aus Alaska? Profilachse. Wenn Sie jetzt weiterlesen – selbst schuld. Mit meinem Kollegen Jens Radü verbindet mich ein Humorverständnis, das vielleicht nicht ausschließlich von Tucholsky und Loriot geprägt ist, sondern Spuren von Hallervorden und Asmussen enthalten kann. Bei Jens wie mir lässt sich eine gewisse familiäre Vorbelastung diagnostizieren. Er hörte von seinem Vater Sprüche wie: »Wer glaubt, dass ein Abteilungsleiter eine Abteilung leitet, glaubt auch, dass ein Zitronenfalter Zitronen faltet.« Meiner wusste: »Nachts ist's kälter als draußen.«
Jens beglückt nun seine drei Kinder beim Teiganrühren mit Sprüchen wie: »Schau mich an, ich bin der Uno-Waffelinspektor.« Dad Jokes – über das Phänomen hat er seine aktuelle Elternkolumne geschrieben . Darin erfahre ich: Bei CNN gibt es sogar einen Dad-Joke-Generator , Kalauer auf Knopfdruck:
»I used to be addicted to soap. But I am clean now.«
»What do you call an elephant who is irrelevant? An irrelephant.«
»What do clouds wear? Thunderwear.«
Da tun sich Möglichkeiten auf, auch für neue Arbeitsgruppen. Vielleicht eine Rubrik erfinden, Karl Hour – der schlechte Spruch zur vollen Stunde? Jens reicht's aber.
Hier ist seine Kolumne: Kennt ihr den? Na klar, Papa!
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
Das Rätsel von Wuhan: Noch immer ist unklar, woher das Coronavirus kam. Einen Unfall in einem Wuhaner Labor schlossen Experten früh aus. Doch nun wird aus dem Gerücht eine ernst zu nehmende Theorie. Was steckt dahinter? Die SPIEGEL-Titelstory .
Die Baerbock-Obsession: In einem Wahlkampf muss auch die Persönlichkeit einer Bewerberin getestet werden. Dass es jetzt aber fast nur noch um Annalena Baerbocks Fehlerchen geht, zeugt von mangelnder Ernsthaftigkeit .
Terror, Wahnsinn oder beides? Abdirahman J. A. ermordete drei Frauen mit einem Messer, soll dabei »Allahu akbar« gerufen und später von »Dschihad« gesprochen haben. Doch war der Gewaltakt wirklich ein islamistisch motiviertes Attentat?
Das hilft gegen Burn-out: Wie kommt man an gegen das Gefühl, im Job immer nur funktionieren zu müssen? Anja Göritz hat eine besonders belastete Berufsgruppe untersucht – und ein Rezept gefunden .
Was heute weniger wichtig ist

Schwarz in Farbe
Foto: Frank Rumpenhorst/ DPAGast but not least: Die Schauspielerin Jessica Schwarz, 44, betreibt seit einigen Monaten gemeinsam mit ihrem Freund eine Hotelanlage in der Nähe von Lissabon und ist froh darüber, ins Gastgewerbe eingestiegen zu sein, wie sie jetzt der Nachrichtenagentur dpa sagte, auch wenn der Betrieb wegen der Delta-Variante gerade ruht. »Ich bin sehr glücklich, dass wir uns dafür entschieden haben. Es war bislang eine gute, aber auch anstrengende Zeit«, sagte sie. »Ich konnte einen Teil von mir wiederentdecken, der schon lange nicht mehr da war.«
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »Susanne Hennig-Wellsow springt der Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbockin der Plagiatsdebatte zur Seite.«
Cartoon des Tages: Chapattes Welt

Chappatte
Und am Wochenende?
Könnten Sie Musik hören, im Auto, auf dem Rad, am See, wo auch immer. Mein Kollege Andreas Borcholte empfiehlt »The Turning Wheel« von der Avantgarde-Pop-Musikerin Spellling. »Dramatischer, forscher, überwältigender hat wohl noch kein Pop-Album in diesem Jahr begonnen«, findet er. Es sei ein »märchenhafter Trip durch Disney-Balladen, Achtzigerjahre-Pomp, Darkwave und Science-Fiction« – und deshalb unser Album der Woche. (Eine ausführliche Rezension hier, zur Playlist von Andreas bei Spotify geht's hier , zu der bei Apple Music hier .)
Und nicht vergessen: Time flies like an arrow. Fruit flies like a banana. (Quelle, klar: der CNN-Dad-Joke-Generator )
Ein schönes Wochenende. Herzlich
Ihr Oliver Trenkamp
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