DIE LAGE am 1.3.2016 Liebe Leserin, lieber Leser,

zugegeben, auch ich dachte lange, Donald Trump sei ein Freak, der sich spätestens dann in seine mit Marmor verkleidete Wohnung am New Yorker Central Park trollen würde, wenn die Kampagne für die amerikanische Präsidentschaftswahl in die ernsthafte Phase übergeht. Das war ein Irrtum. Heute ist Super Tuesday in den USA, in 12 Bundesstaaten stimmen Republikaner und Demokraten über die Bewerber für die Präsidentschaft ab (SPIEGEL ONLINE wird die ganze Nacht berichten).
Entschieden ist nichts, aber Trump könnte den entscheidenden Sprung nach vorne schaffen. David Brooks, Kolumnist bei der "New York Times", hat gerade in einem aufschlussreichen Aufsatz geschrieben, dass Trump eben kein wunderlicher Seiteneinsteiger ist, sondern das Ergebnis einer Politikverachtung, die von den Republikanern seit 30 Jahren befeuert wird. Nun blicken die amerikanischen Konservativen auf ein Monster, das sie selbst geschaffen haben.

Multitasker Stoiber
Edmund Stoiber wirkt in diesen Tagen wie dem Jungbrunnen entstiegen. Andere Männer in seinem Alter verbessern ihr Handicap beim Golf, Stoiber rettet die CSU, so sieht er es zumindest. Merkels Flüchtlingspolitik ist für den CSU-Ehrenvorsitzenden ein Anschlag auf die Existenz seiner Partei. Er versichert zwar, dass er nicht an Merkels Sturz arbeitet. Aber wenn er vor die Alternative gestellt wird, was für ihn wichtiger ist - Merkels Kanzlerschaft oder das Überleben der CSU - muss er nicht lange nachdenken. Zu allem Überfluss hat sich nun auch noch Horst Seehofer in den Kopf gesetzt, den weiteren Aufstieg von Markus Söder zu stoppen. Söder, der als Stoibers Generalsekretär seine Karriere begann, soll keinesfalls CSU-Chef werden. Nun muss Stoiber auch noch da vermitteln. Zu Söders Glück war Stoiber noch nie ein Fan der Rente mit 63.

Rituale der Empörung
Am Wochenende setzte die CDU-Bundestagsabgeordnete Erika Steinbach einen Tweet ab, der ein blondes Kind zeigt, umringt von dunkelhäutigen Menschen. "Deutschland 2030" steht über der Szene. Nun kann man trefflich über Steinbach streiten - mein Kollege Markus Feldenkirchen hat vor ein paar Wochen ihre späte Karriere als digitale Krawallnudel beschrieben (hier der Link). Provokation ist zu ihrem Lebenselixier geworden. Auch deshalb sind die Rituale der Empörung, die auf ihre Tweets folgen, so ermüdend. Muss immer gleich der Kopf ab?
Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Volker Beck verlangte, dass die CDU Steinbach die rote Linie aufzeigen müsse, ein Parteiordnungsverfahren sei "das Mindeste". Es ist erstaunlich, dass ausgerechnet Beck immer am lautesten nach dem Schafott schreit. Er hat als junger Referent der Grünen-Bundestagsfraktion an einem Sammelband mitgewirkt, in dem er sich für straflosen Sex mit Kindern aussprach. Als diese Position nicht mehr dem Mainstream bei den Grünen entsprach, behauptete er, man habe ihm die umstrittene Passage nachträglich hineinredigiert, was sich als unwahr herausstellte. Beck überlebte die Affäre, weil keiner sich so richtig aufregen wollte. Wahrscheinlich wäre für Steinbach die größte Strafe, wenn man sie einfach mal ignorierte.
Auch beachtenswert
# Waffenruhe in Syrien - Steinmeier spricht von "greifbaren Fortschritten"
# Unfall mit selbstfahrendem Auto in Kalifornien - Google räumt Mitschuld ein

Gewinner des Morgens
ist Winfried Kretschmann. Der Grünen-Ministerpräsident hat sich im baden-württembergischen Landtagswahlkampf so geschickt als Merkel-Freund positioniert, dass sich die Kanzlerin gestern gezwungen sah, einen gemeinsamen Firmenbesuch beim Sägenfabrikanten Stihl abzusagen. Offiziell hieß es, Merkel müsse sich auf den EU-Gipfel am kommenden Montag vorbereiten. In Wahrheit ist Kretschmanns Umarmungsstrategie tödlich: nicht für die Kanzlerin, aber für den CDU-Spitzenkandidaten Guido Wolf.
Geburtstage
Harald Kujat, Ex-Generalinspekteur der Bundeswehr, 74.
Sylvia Löhrmann (Grüne), stellvertretende NRW-Ministerpräsidentin, 59.
Mit freundlichen Grüßen, Ihr
René Pfister, Leiter Hauptstadtbüro DER SPIEGEL