Janko Tietz

Die Lage am Abend Zahlen des Wahnsinns

Guten Abend, die drei Fragezeichen heute:

  1. Ein Jahr nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine – weiter Krieg oder Kompromiss?

  2. Kündigung der Wissenschaftlerin Ulrike Guérot – ist der Plagiatsvorwurf nur vorgeschoben?

  3. Die Wirtschaft schrumpft – haben wir alle keinen Bock mehr auf Arbeit?

1. Ein Jahr Krieg in Europa

Am ersten Tag nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine vor einem Jahr wurden bereits 59 Bodenkämpfe gezählt, 44 Drohnen- und Luftschläge, Artillerie- und Raketenbeschüsse und mindestens sechs gezielte Angriffe auf Zivilisten.

Rund 360 Tage später sind es 6827 Bodenkämpfe, 31.190 Drohnen- und Luftschläge, Artillerie- und Raketenbeschüsse und mindestens 718 gezielte Angriffe auf Zivilisten. Die Dunkelziffern dürften deutlich höher liegen.

Schon allein die Zahlen illustrieren das Grauen, das Putins Krieg gegen sein Nachbarland und das Land, das direkt an die Europäische Union grenzt, verursacht hat. Hinzu kommen all die Bilder, die Berichte, die vielen Schicksale der ukrainischen Bevölkerung.

Insgesamt sind westlichen Quellen zufolge zwischen 30.000 und 40.000 Zivilisten in der Ukraine ums Leben gekommen, darunter mindestens 400 Kinder. Nach jüngsten Schätzungen wurden bei Kämpfen 100.000 Soldaten der ukrainischen Armee getötet oder verletzt und 180.000 Soldaten aufseiten der Angreifer. Inzwischen sollen 30 Prozent des Gebiets der Ukraine vermint sein. EU-Justizkommissar Didier Reynders spricht von bisher rund 65.000 registrierten mutmaßlichen Kriegsverbrechen.

Mehr als acht Millionen Ukrainer dürften seit Kriegsbeginn geflohen sein, die meisten von ihnen nach Polen, 1,1 Millionen Menschen kamen seit Kriegsbeginn nach Deutschland, darunter überwiegend Frauen und Kinder.

Und das alles nur, weil sich ein Despot in den Kopf gesetzt hat, imperial aufzutrumpfen und das größte Flächenland der Erde noch weiter zu vergrößern. Weil er den Verlauf von Geschichte nicht akzeptieren kann. Weil ihm Freiheit und Liberalität ein Graus sind.

Wladimir Putin habe gedacht, dass die ukrainische Verteidigung zusammenbrechen, Amerikas Entschlossenheit ins Wanken geraten und die Welt einfach wegschauen würde, als er seine Truppen am 24. Februar 2022 in die Ukraine einmarschieren ließ. »Er hat sich geirrt«, sagte der US-Verteidigungsminister Lloyd Austin anlässlich des ersten Jahrestags des Kriegsbeginns.

Aber wie geht es weiter? Fast die Hälfte der Deutschen lehnen Waffenlieferungen in die Ukraine ab und treten für Verhandlungen ein. »Ein Kompromiss mit Putin ist keinesfalls die Kapitulation der Demokratie«, sagte die Dresdnerin Antje Döhner-Unverricht meiner Kollegin Sara Wess . Döhner-Unverricht hat wie rund 600.000 weitere Menschen das »Manifest für Frieden« der Publizistin Alice Schwarzer und der Linkenpolitikerin Sahra Wagenknecht unterzeichnet.

Man kann heute nur zweierlei hoffen: Dass die Welt auch weiter hinschaut und hilft. Man vergisst ja schnell, dass nicht nur Waffen helfen, sondern auch Wohnungen, Kleidung, Schul- oder Arbeitsplätze. Und dass sich nicht nur Putin geirrt hat, sondern auch die vielen Beobachter, die davon ausgehen, dass der Krieg noch lange andauern wird.

Und hier weitere Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:

  • CDU fordert schärfere Sanktionen gegen Wagner-Gruppe: Die CDU drängt die Bundesregierung, auf EU-Ebene schärfere Sanktionen gegen die russische Wagner-Gruppe durchzusetzen. Vor allem Strohfirmen und Geldquellen sollen unter die Lupe genommen werden.

  • »300 Meter von hier geht der Nahkampf los«: Putins Truppen stürmen auf Wuhledar und Bachmut zu. Ukrainische Verteidiger stellen sich der Übermacht entgegen. Die Kämpfe sind blutig – und sie könnten über den Erfolg der Ukrainer im Frühjahr entscheiden .

  • »Der russische Präsident ist gescheitert«: Die westlichen Verbündeten sichern der Ukraine ein Jahr nach Russlands Angriff ihre weitere Unterstützung zu. Bundeskanzler Scholz lobt die Hilfsbereitschaft der Deutschen, Großbritannien verschärft Sanktionen.

  • Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update

2. Was darf Wissenschaft?

Ich weiß nicht, ob Ulrike Guérot auch das »Manifest für Frieden« unterzeichnet hat, ich könnte es mir gut vorstellen. Jedenfalls teilt sie auf Twitter fleißig die Tweets von Sahra Wagenknecht. Guérot hat seit dem Wintersemester 2021/22 die Professur für Europapolitik an der Uni Bonn inne, zuvor lehrte sie Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Universität Krems. Im Wissenschaftsbetrieb gilt sie seit Beginn der Coronapandemie als Enfant Terrible, da sie sich zum Sprachrohr jener machte, die die Coronamaßnahmen für überzogen hielten oder ganz ablehnten.

Doch einige ihrer Aussagen waren irreführend, manchmal auch unseriös oder falsch. Ihr wurde vorgeworfen, sie habe sich nicht ausreichend von Verbreitern von Falschinformationen abgegrenzt, sie wurde bedroht und angefeindet. Nach dem Ende der Pandemie fand Guérot ein neues Thema, bei dem sie sich als Multiplikatorin für die angeblich Unerhörten verstand: den Ukrainekrieg, der in ihrer Lesart ein Krieg des Westens ist.

In einem Essay-Band schrieb sie gemeinsam mit Hauke Ritz, »dass der russisch-ukrainische Krieg ein lang vorbereiteter amerikanischer Stellvertreterkrieg ist, eine Apotheose jahrzehntelanger amerikanischer Geostrategie, deren eigentliches Ziel die Verfestigung der amerikanischen Dominanz in Europa ist. Europa soll von seinen wirtschaftlichen Adern im Osten abgeschnitten werden, jener Landmasse, auf der die Füße der Europa stehen«.

Im Grunde müsste die Frage, »wer diesen Krieg wirklich begonnen hat, neu erforscht werden«. Es ginge »eher um angelsächsische – nämlich amerikanische, britische und kanadische – Kriegsvorbereitungen gegen Russland«.

Die Amerikaner sind also schuld, das ist Guérots Weltbild. Mit den USA als Ordnungsmacht könne Europa keinen Frieden auf dem Kontinent finden. Offenbar hat sie übersehen, dass das in den vergangenen 70 Jahren eigentlich ganz gut funktioniert hat. Sie orientiert sich trotzdem lieber in Richtung Osten. Ohne die sibirischen Rohstoffe und den chinesischen Markt könne es keinen dauerhaften Wohlstand geben, so Guérot.

Nun scheint erst mal ihr eigener Wohlstand in Gefahr, denn die Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn trennt sich zum 31. März von der Professorin. Das teilte die Politikwissenschaftlerin via Twitter mit. Grund für die Kündigung ist demnach ein Plagiat. Die Universität Bonn bestätigte dem SPIEGEL, dass sie »arbeitsrechtliche Schritte gegen Frau Guérot eingeleitet hat«.

Es würde mich nicht wundern, wenn jetzt sofort wieder eine »Cancel Culture«-Debatte losgeht. Auf Twitter stilisiert sie sich schon mal als Opfer: »Ich wäre die erste Person, der in D wegen ›Plagiat‹ gekündigt würde: es wird spannend ;-)«

Wenn sie so lehrt, wie sie recherchiert, ist sie ihren Job wohl zu Recht los. Wer mag ihr die ganzen Namen nennen, die nach Plagiatsvorwürfen ihre Jobs verloren haben?

3. Bock auf gutes Gehalt

Die Folgen von Inflation und Energiekrise haben die deutsche Wirtschaft Ende 2022 deutlich stärker belastet als erwartet. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) sank von Oktober bis Dezember um 0,4 Prozent zum Vorquartal, wie das Statistische Bundesamt mitteilte – bisher waren die Statistiker von mit einem Schrumpfen um 0,2 Prozent ausgegangen.

Grund war vor allem, dass die privaten Konsumausgaben wegen der hohen Inflation um ein Prozent zum Vorquartal sanken. Zudem investierten Unternehmen deutlich weniger als erwartet. »Die weiterhin starken Preissteigerungen und die anhaltende Energiekrise belasteten die deutsche Wirtschaft«, hieß es beim Statistischen Bundesamt. Damit steht die deutsche Wirtschaft weiter am Rande einer Rezession. Sie würde eintreten, wenn das BIP auch im laufenden Vierteljahr – und damit zwei Quartale hintereinander – schrumpft.

Bei dieser Nachricht kriege ich unweigerlich den schlimmen Ohrwurm der alten Gassenhauer-Band Geier Sturzflug in den Kopf. »Wenn früh am Morgen die Werksirene dröhnt. Und die Stechuhr beim Stechen lustvoll stöhnt, in der Montagehalle die Neonsonne strahlt, und der Gabelstaplerführer mit der Stapelgabel prahlt, ja, dann wird wieder in die Hände gespuckt. Wir steigern das Bruttosozialprodukt.«

Das hätte der Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA) gern. Doch Deutschland fehlen Hunderttausende Fachkräfte, zugleich wollen viele lieber früher als später aufhören, träumen von der Vier-Tage-Woche. Steffen Kampeter vom BDA sieht das äußerst kritisch. Er fordert längere Arbeitszeiten – und mehr Lust auf Montagehallen und Staplergabeln. »Wir brauchen mehr Bock auf Arbeit.«

Im Jahr 2022 sanken die Reallöhne um mehr als vier Prozent, und damit das dritte Jahr in Folge. Es war der stärkste Reallohnverlust seit Beginn der Zeitreihe 2008. Vielleicht sollte sich der BDA-Chef mehr für gute Löhne einsetzen, dann klappt es auch mit dem »Bock auf Arbeit« – und dann steigen auch die privaten Konsumausgaben wieder.

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Podcast Cover

Was heute sonst noch wichtig ist

  • Deutsche Behörden informieren Firmen über Journalistenanfragen: Eigentlich soll das Transparenzregister helfen, fragwürdige Geldströme offenzulegen. Doch Firmen werden über die Recherchen von Journalisten teils vorab informiert. Aktivisten zeigen sich alarmiert.

  • Landgericht weist Klimaklage gegen VW ab: Ulf Allhoff-Cramer sieht seinen Biohof durch den Klimawandel bedroht – und zog deshalb gegen Volkswagen vor Gericht. Die Richter halten die Klage jedoch für »insgesamt unbegründet«.

  • Erster Hersteller baut Natrium-Billigbatterie in Elektroauto ein: Natrium-Ionen-Akkus kamen bisher bei Zweirädern zum Einsatz, nun werden sie testweise im elektrischen Kleinwagen eines VW-Partnerunternehmens verbaut. Haben sie das Zeug, den Automarkt zu revolutionieren?

  • EU-Staaten werfen Polen Erpressung mit Sanktionspaket vor: Polen blockiert neue Sanktionen gegen Russland, angeblich weil sie zu lasch seien. Andere Mitgliedsländer halten das für vorgeschoben – Warschau wolle aus der Lage finanziellen Profit schlagen.

Meine Lieblingsgeschichte heute ...

Autorin Elger, Influencerin Danisman: Die Eltern verstehen es nicht

Autorin Elger, Influencerin Danisman: Die Eltern verstehen es nicht

Foto: Oliver Dietze / DER SPIEGEL

... steht im neuen SPIEGEL. Sie kennen sicherlich die ganzen Lisas und Lenas, Cathy Hummels, Caro Daurs, die ihre Prominenz nutzen, um auf Social-Media-Kanälen wie Instagram oder TikTok für sich und Produkte zu werben. Aber kennen Sie auch Seher Danisman, Bahar Karbuz oder »Namika die Schreiberin«? Sie sind muslimische Influencerinnen, entwerfen Comicfiguren, legen sich mit Extremisten an oder gründen Start-ups.

Meine Kollegin Katrin Elger hat einige der erfolgreichsten Frauen getroffen und sich erzählen lassen, ob es mit Kopftuch schwerer ist, in der Glamour- und Filterwelt von Insta zu bestehen und wie ihre Community reagiert, wenn man sich so öffentlich exponiert. Danismans Eltern zum Beispiel sind kurdische Gastarbeiter aus der Türkei. »Für die beiden ist es nicht leicht nachzuvollziehen, womit ich Geld verdiene«, sagt sie.

Ich bin mir allerdings sicher, dass das nicht nur für die Eltern von Seher Danisman gilt, sondern womöglich auch für die der ganzen Lenas, Cathys und Caros.

Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen

  • Die fragwürdigen Allianzen der Friedensbewegten: Putins Krieg verunsichert viele Deutsche. Um die Linke Sahra Wagenknecht formiert sich eine neue Friedensbewegung. Was treibt die Menschen an, die dieser Tage auf die Straße gehen? Und welche Rolle spielen Rechtsextremisten? 

  • Herr Kubicki, warum laufen die Kosten so aus dem Ruder? Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki ist auch Chef der Baukommission des Ältestenrats. Hier spricht er über explodierende Kosten neuer Parlamentsgebäude – und ein milliardenschweres Projekt im Regierungsviertel .

  • Mein Schläger, der hat sechs Ecken: Der schwedische Topspieler Truls Möregårdh tritt mit einem sechseckigen Tischtennisschläger an. Ist das eine Spielerei, oder bringt das wirklich etwas? 

Was heute weniger wichtig ist

James Clean: Es gibt sie noch, die guten Nachrichten! Marti Yousko tat der Anblick des Hausmeisters an ihrer Schule in Texas leid. Der Mann ist 80 Jahre alt und musste im Januar wieder anfangen zu arbeiten, damit er seine Mieterhöhung von 400 Dollar bezahlen konnte. Auf einer Spendenplattform startete Yousko mit Mitschülerinnen und Mitschülern die Kampagne »Holt Mister James aus der Schule« – mit überwältigendem Erfolg. Bis Freitagmittag kamen über 250.000 Dollar für den Hausmeister zusammen. Der 80-Jährige habe sehr zurückhaltend reagiert, als sie ihm von ihrem Vorhaben erzählt hätten, berichtet Yousko. »Er ist sehr schüchtern.«

Mini-Hohlspiegel

Schild an einem Parkplatz in Leonberg (Bad.-Württ.)

Schild an einem Parkplatz in Leonberg (Bad.-Württ.)

Und heute Abend?

Entschuldigen Sie, wenn ich an diesem Tag vielleicht etwas sentimental werde. Aber Sie könnten sich mal wieder die Platte »Brothers in arms« von den Dire Straits anhören (hier  auf Spotify). Das Album erschien im Mai 1985, die Zeit war noch vom Kalten Krieg geprägt, Michail Gorbatschow war gerade einmal seit zwei Monaten im Amt. Wenige Monate zuvor witzelte Ronald Reagan in Vorbereitung auf eine Rede, ohne zu merken, dass die Mikrofone schon offen waren: »Meine lieben Amerikaner, es ist mir ein Vergnügen, Ihnen heute mitzuteilen, dass ich ein Gesetz unterzeichnet habe, das Russland für immer für vogelfrei erklärt. Wir beginnen mit der Bombardierung in fünf Minuten.«

In dieser Zeit also nahmen Mark Knopfler und seine Band das namensgebende Lied »Brothers in arms« auf. Es handelt von Brüdern unter Waffen, von Feldern der Zerstörung, von Vertreibung, von Angst und Verzweiflung und der Dummheit, Kriege zu führen »gegen unsere Brüder«. Es ist also ein Anti-Kriegs-Lied, untermalt mit Knopflers eindringlichem und unverkennbarem Gitarrenspiel – und selten schien es passender zu sein, sich diese Fünf-Minuten-Hymne anzuhören  als an diesem 24. Februar 2023.

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Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend und ein gutes Wochenende. Herzlich

Ihr Janko Tietz, Ressortleiter Deutschland/Panorama

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