
Die Lage am Abend Kuck mal, wer da spricht

Guten Abend, die drei Fragezeichen heute:
Außenminister von Russland und USA – was hatten sich Blinken und Lawrow heute zu sagen?
Regierungserklärung – verstehen die Deutschen falsch, was Olaf Scholz mit »Zeitenwende« meint?
Teakholz-Einfuhr in die EU – warum lässt sich der illegale Handel mit Edelholz aus Myanmar nicht stoppen?
1. Blinken und Lawrow haben nur kurz miteinander geredet – dass die totale Sprachlosigkeit zwischen den beiden vorbei ist, macht ein wenig Hoffnung
Ist es ein ermutigendes Vorzeichen für friedlichere Zeiten oder bloß ein diplomatischer Alltags-Move? Zum ersten Mal seit dem Beginn von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine haben heute die Außenminister der USA und Russlands wieder miteinander gesprochen. US-Außenminister Antony Blinken und sein russischer Amtskollege Sergej Lawrow haben beim G20-Treffen in Indien kurz miteinander geredet. Das Gespräch fand am Rand einer Sitzung der Außenminister in der indischen Hauptstadt Neu-Delhi statt.
Laut »New York Times« sagte Blinken seinem russischen Kollegen vor allem drei Dinge: dass die Vereinigten Staaten die angegriffene Ukraine weiter unterstützten; dass Russland den kürzlich von Kremlchef Wladimir Putin ausgesetzten Abrüstungsvertrag »New Start« wieder aufnehmen solle; und dass Russland den inhaftierten US-Bürger Paul Whelan freilassen solle.
Offenbar fand das Gespräch auf Initiative des Amerikaners statt. Beim G20-Treffen in Indien haben sich die Außenminister der führenden Industrie- und Schwellenländer wegen des Streits über den Ukrainekrieg nicht auf eine gemeinsame Abschlusserklärung verständigt.
Ich finde es traurig, dass die Chefdiplomaten der USA und Russlands nach wie vor weder ein formelles Treffen oder gar Verhandlungen in Aussicht stellen. Mein Kollege Matthias Gebauer , der aus Indien berichtet, schätzt die heutigen Ereignisse so ein: »Das Treffen von Blinken und Lawrow war in Wirklichkeit eher ein kurzer Schnack im Vorbeilaufen, genauer gesagt in der sogenannten Leaders Lounge, einer Art Kaffeebar in dem Palast, wo die Konferenz stattfand.«
Beide Seiten hätten die Bedeutung der Begegnung sofort heruntergespielt. Trotzdem mache die kurze Unterhaltung ein wenig Hoffnung, sagt Matthias, »dass die totale Sprachlosigkeit, die seit einem Jahr vorherrschte, vielleicht ein Ende findet«.
Lesen Sie hier mehr: Dieses Mal hört Lawrow immerhin zu
Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:
»Für die Ukraine gibt es kein Zurück mehr«: Kaum jemand kennt die Lage an der Front so gut wie General Viktor Nasarov. Im Interview spricht der Militärberater über fehlende Munition, die Lage in Bachmut – und er erklärt, wie die Ukraine siegen will .
USA nennen Wagner-Chef »Kriegsverbrecher« – und sondieren offenbar Sanktionen gegen China: Der US-Justizminister hat das Vorgehen der Wagner-Söldner als »unfassbar« bezeichnet.
Scholz appelliert an China, keine Waffen an »Aggressor Russland« zu liefern: Die wichtigsten Punkte aus der Rede von Kanzler Scholz im Überblick.
Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update
2. Die heutige Regierungserklärung war ein typischer Olaf-Scholz-Auftritt – gedanklich solide, aber in der Erklärungsarbeit mangelhaft
Olaf Scholz hat heute Vormittag in einer Regierungserklärung im Bundestag Bilanz gezogen, ein Jahr nach seiner historischen Rede von einer »Zeitenwende«. Mein Kollege Christoph Hickmann hebt in seiner Analyse der heutigen Scholz-Rede hervor, dass der Bundeskanzler all jenen eine Absage erteilt habe, die derzeit Zugeständnisse von der Ukraine verlangen. »Mit der Waffe an der Schläfe lässt sich nicht verhandeln, außer über die eigene Unterwerfung«, lautet der wichtigste Satz des Kanzlers zum Verhandlungsthema.
In seiner Bilanz habe Scholz offenbart, dass es zwischen ihm und vielen Deutschen ein grundlegendes Missverständnis darüber gibt, was unter »Zeitenwende« eigentlich zu verstehen ist, so der SPIEGEL-Kollege. »Die allermeisten Menschen dürften damit vor allem das Sondervermögen für die Bundeswehr assoziieren, jene 100 Milliarden Euro, die Scholz damals ankündigte.« Der Bundeskanzler selbst denke die Sache größer, lautet Christophs Einschätzung. »Putins Angriffskrieg hat die westlichen Gesellschaften in ihrer Gewissheit erschüttert, dass derart Entsetzliches in Europa nicht mehr passieren könne. Er hat Einfluss auf nahezu alle Bereiche der internationalen Zusammenarbeit, auch des täglichen Lebens, er bestimmt seit einem Jahr die politische Agenda.«
Scholz sei gut darin, diese Konsequenzen wahrzunehmen und weiterzudenken. Das reiche aber leider nicht, findet mein Kollege. »Die meisten Menschen hierzulande nehmen die kleinen Teilerfolge nicht wirklich wahr, die Scholz nach seinen Gesprächen mit diversen Staats- und Regierungschefs für sich reklamiert.« Sehr deutlich würde dagegen von den Deutschen wahrgenommen, wie viel bei der Bundeswehr bis heute im Argen liege. Dafür müsste der Kanzler um Verständnis bitten und die mühseligen Prozesse bei den Streitkräften erklären. Das tat er auch heute nicht.
»Ein typischer Scholz-Auftritt«, sei es gewesen, analysiert Christoph. »Never explain, never complain«, nach diesem Motto handelten Scholz und seine Leute seit jeher. »Die Frage ist, ob es inmitten einer Zeitenwende noch taugt.«
Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Scholz und das Missverständnis von der Zeitenwende
3. Trotz eines De-facto-Verbots gelangen enorme Mengen von Teakholz aus Myanmar nach Europa – weil EU-Sanktionen nicht durchgesetzt werden
Im Land Myanmar herrscht seit einem Putsch im Februar 2021 Bürgerkrieg, Militär und Polizei haben Proteste brutal niedergeknüppelt, Gefängnisinsassen werden misshandelt und gefoltert. Das Militär kontrolliert die Wälder und den Holzhandel, deshalb hat die EU versucht, den Import von Myanmar-Teak durch Sanktionen gegen eine staatliche Holzfirma de facto zu unterbinden. Doch Teakholz aus Myanmar wird trotz der Sanktionen weiterhin in großem Umfang nach Europa geliefert.
Meine Kolleginnen Scilla Alecci und Dajana Kollig und meine Kollegen Frederik Obermaier und Timo Schober berichten heute , dass Unternehmen aus insgesamt zehn Ländern in Myanmar weiter Teak gekauft haben und es unter anderem über Italien und Polen in viele Länder Europas gelangt ist.
Trotz der Sanktionen sind im vergangenen Jahr knapp 3700 Tonnen Holz und Holzprodukte aus Myanmar in der EU angekommen, Ware im Wert von mehr als 30 Millionen Euro. Das ergaben Recherchen des SPIEGEL zusammen mit einem internationalen Investigativjournalismus-Projekt, an dem auch NDR, WDR und »Süddeutsche Zeitung« beteiligt sind. Das Projekt trägt den Namen »Deforestation Inc.« Bei dem illegal importierten Holz handelt es sich überwiegend um kostbares Teak, das etwa für den Bau von Luxusjachten verwendet wird.
»Auf diese Weise wird in Myanmar illegale Abholzung gefördert und ein Regime mitfinanziert, das zu den brutalsten der Welt gehört«, schreiben die Kolleginnen und Kollegen. »Unternehmen finden immer neue Wege, die Sanktionen zu umgehen. Dabei dienen einzelne EU-Staaten als Einfallstore in den europäischen Zollraum. Die Händler profitieren von überforderten Behörden und mangelnder Strafverfolgung.«
Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Teakholz aus Myanmar strömt trotz Sanktionen nach Europa
Was heute sonst noch wichtig ist
Günstiger Ökostrom mit Preisgarantie – so funktioniert das Erfolgskonzept: In Belgien bieten Energiegenossenschaften erfolgreich grünen Strom zum kleinen Preis – und nutzen gleichzeitig der Nachbarschaft.
Neue Kammer in Pyramide von Cheops nachgewiesen: Messungen ließen es vermuten, nun hat der Blick durch einen Spalt die Entdeckung bestätigt: In der größten Pyramide Gizehs liegt eine verborgene Kammer.
16-Jähriger stirbt nach Schüssen vor Schule in Bramsche: Ein 81-Jähriger hatte am Dienstag im niedersächsischen Bramsche auf einen Jugendlichen geschossen – dieser erlag nun seinen schweren Verletzungen. Beide sollen im selben Haus gegenüber einer Schule gewohnt haben.
Meine Lieblingsgeschichte heute: Whiskey-Pilz verkrustet Bäume, Häuser und Straßenschilder

Whiskey-Pilz auf einem Straßenschild in der Nähe von Bourbon-Lagerhäusern in Lawrenceburg im US-Bundesstaat Kentucky im August 2022
Foto: Ryan C. Hermens / ZUMA Wire / IMAGOAlkoholdämpfe, die aus verkohlten Eichenfässern mit alterndem Jack-Daniel’s-Whiskey aufsteigen, sind offenbar verantwortlich für eine Pilzplage im Umkreis von Brennereien im US-Bundesstaat Tennessee. Auf Bäumen, auf Häusern, auf Autos, Straßenschildern, Vogelfutterhäuschen und Terrassenmöbeln breitet sich ein schwarzes Pilzgeflecht aus. Vermutlich bin ich durch jahrzehntelanges Betrachten von Whiskeywerbespots und gelegentlichen Whiskeykonsum manipuliert, aber ich finde die Geschichte über den Tennessee-Pilz zugleich betrüblich und hochinteressant. Der »Whiskey-Pilz« nährt sich aus Ethanol und gedeiht seit Jahrhunderten in der Nähe von Destillerien und Bäckereien. Der Pilz ist für die menschliche Gesundheit angeblich nicht gefährlich. Trotzdem sind Anwohner in Lincoln County nun erzürnt, weil Jack Daniel’s ein weiteres Destillierhaus baut und eines plant. »Dieser Pilz ist jetzt auf Steroiden«, sagte eine Landhausbesitzerin gegenüber der »New York Times«. Jack Daniel’s müsse zumindest Luftfilter in die 250 Meter entfernten Lagerhäuser einbauen.
Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Whiskey-Pilz verkrustet Bäume, Häuser und Straßenschilder
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
Historiker erkennen auf Wikipedia »Holocaust-Verzerrung«: Durch die Nazis wurde Polen völlig zerstört. Bildet die englischsprachige Wikipedia die historischen Ereignisse korrekt ab? Zwei Holocaustforscher werfen jetzt einer Gruppe polnischer Nationalisten gezielte Geschichtsverfälschung vor .
Wenn der Vater zum Verdächtigen wird: Nach dem Tod ihres behinderten Sohns lassen die Eltern eine Boulevardzeitung an ihrer Trauer teilhaben und loben zur Ergreifung des Täters eine hohe Belohnung aus. Nun belasten Indizien den Vater .
Die Olympischen Korruptionsspiele von Tokio: Die japanische Stadt Sapporo galt als Favorit für die Winterspiele 2030 – aber die Bewerbung ruht wegen der Olympia-Korruption in Tokio. Das Ausmaß des Skandals wird immer größer .
Was heute weniger wichtig ist
Tapfere Schwimmerin – Nathalie Pohl, 28-jährige Extremsportlerin, hat als erste Deutsche die neuseeländische Cookstraße durchschwommen. Zweimal war die Langstreckenschwimmerin Pohl an der Überwindung der Strecke zwischen Ohau Bay auf der nördlichen und Arapawa Island auf der südlichen Hauptinsel Neuseelands gescheitert, die Passage gilt als besonders tückisch und wird von Schwimmsportlern zu den sieben bedeutendsten Meerengen der Welt gezählt. »Neuseeland hat es mir nicht leicht gemacht«, sagte Pohl. »Während des Schwimmens waren die Bedingungen alles andere als optimal. Das Wetter ist plötzlich wieder umgeschlagen. Ich bin einfach glücklich, dass ich es doch noch geschafft habe.«
Mini-Hohlspiegel
Aus einem Wohnungsangebot in Esslingen auf Ebay-Kleinanzeigen.de:
»Das gesamte Grundstück des Gebäudes ist nahezu uneinsichtig, sodass ausreichend genießt werden kann.«
Hier finden Sie den ganzen Hohlspiegel.
Cartoon des Tages

Entdecken Sie hier noch mehr Cartoons.
Illustration: Klaus Stuttmann
Und heute Abend?
Könnten Sie sich das antifeministische Buch »Alte weise Männer« von Nena Brockhaus und Franca Lehfeldt zur Lektüre vornehmen – oder nein, statt des Buchs selbst sollten Sie lieber die sicher sehr viel unterhaltsamere Besprechung lesen, die mein Kollege Arno Frank geschrieben hat . »Alte weise Männer« wolle eine »Hommage an eine bedrohte Spezies« sein, berichtet er. Zugehört haben die Autorinnen Männern wie Mario Adorf, 92, Edmund Stoiber, 81, dem Journalisten Heiner Bremer, 81, oder dem ehemaligen BMW-Vorstandsmitglied Wolfgang Reitzle, 73. Die Interviews von Brockhaus und Lehfeldt, urteilt mein Kollege, seien »nicht hart oder weich – eher so flauschig, dass sie teilweise schon als gasförmig bezeichnet werden müssen«. Leider sei das Buch nicht bloß eine Sammlung schwärmerischer Liebesbriefe an Platzhirsche, weil die Angehimmelten zudem auch noch vor einen reaktionären Karren gespannt werden. Explizit wenden sich die Autorinnen gegen »übereifrige Feministinnen«, eine angebliche Verachtung »traditioneller Lebensentwürfe« und natürlich den »Gender-Stern«. Arno seufzt nach der Lektüre über die Selbstgerechtigkeit des Autorinnenduos: »Ideologen sind immer die anderen.«
Einen schönen Abend.
Herzlich,
Ihr Wolfgang Höbel, Autor im Kulturressort