

Die Lage am Abend Sollen Oma und Opa zu Weihnachten zelten?

Guten Abend, die drei Fragezeichen heute:
Vorwürfe gegen Turn-Trainerin – Schmerzen mit System?
Corona und Weihnachten – Macht hoch die Tür', die Tor', macht Streit?
AfD und CDU – Ist Erfurt auch in Magdeburg?
1. Schmerzen mit System?
»Chemnitzer Trainerin vollbringt Turnwunder«, so heißt ein MDR-Filmportrait über Gabriele Frehse, Trainerin des Deutschen Turner-Bundes am Olympiastützpunkt Sachsen, gesendet im Januar 2016.
Mal abgesehen davon, dass die Turnwunder ihre Athletinnen vollbracht haben, war der Beitrag voll des Lobes. Für Karriere und den Sport habe Frehse alles geopfert. Gemeint war ihr Privatleben.
Wie es aussieht, hat die Trainerin für ihre Karriere vor allem ihre Athletinnen geopfert. Meiner Kollegin Antje Windmann haben einige von ihnen erzählt, mit welchem Drill, welcher Menschenverachtung und Empathielosigkeit Frehse am Werk gewesen sei, wenn es darum ging, Erfolge bei Weltmeisterschaften und Olympia zu produzieren. Produzieren ist hier wohl das passende Wort. Für Frehse sei Pauline Schäfer vor allem »ein Turnroboter« gewesen, der funktionieren musste. 2017 wurde sie Weltmeisterin am Schwebebalken in Montreal. Psychische und physische Schmerzen wurden nicht nur geduldet, sondern schienen als normal dazuzugehören. Sie sei »nicht geschlagen« worden, sagt Schäfer, wurde aber ihres Selbstwertgefühls beraubt.
Im knapp 10-minütigen Film, den meine Kollegen Birgit Großekathöfer und Andreas Evelt begleitend zu Antjes Recherche gemacht haben, ist Pauline Schäfer und ihrer vier Jahre jüngeren Schwester die psychische Pein noch immer anzumerken. Beide weinen während sie erzählen, obwohl die Trennung von Frehse schon einige Zeit zurückliegt. »Viele, die den familiären Rückhalt nicht haben, gehen einfach unter«, sagt Pauline über Mädchen, die wie sie unter der Trainerin gelitten haben.
Dass der Ton im Leistungssport rauer ist als im Breitensport, ist kein Geheimnis. Der Grad zwischen Strenge und Sadismus ist schmaler als die zehn Zentimeter eines Schwebebalkens. Frehse scheint die Balance verloren zu haben. Der Deutsche Turner-Bund will Vorwürfe jetzt prüfen.
Lesen Sie hier Antjes Recherche: Die »Goldschmiedin« und ihre zwei Gesichter
Im Video kommen die Turnerinnen Pauline und Helene Schäfer zu Wort.
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2. Macht hoch die Tür', die Tor', macht Streit
Alkohol wird erst ab 16 Jahren ausgeschenkt. Supermärkte, Kneipen und auch Jugendliche selbst müssen sich daran halten. Eigentlich. Weil die Regierung aber nicht kontrollieren kann, ob es nicht hier und da zu Missbrauch kommt, könnte sie ja überlegen, den Verkauf von Alkohol in Supermärkten oder Gaststätten komplett zu verbieten.
Mit diesem zugegeben nicht kerzengeraden Bild möchte ich illustrieren, für wie wenig nachvollziehbar ich die Argumentation von Kanzleramtsminister Helge Braun halte, Hotelübernachtungen über Weihnachten weiter zu unterbinden. Braun, sonst ein sehr besonnener und überlegter Mann, sagt, man könne nicht kontrollieren, ob die Übernachtungsabsicht wirklich im Zusammenhang mit Weihnachtsbesuchen steht. Es bestehe die Gefahr eines touristischen Angebots durch die Hintertür.
Dagegen regt sich nun Widerstand. Wenn man sich nun schon darauf verständigt habe, Weihnachten mit bis zu zehn Erwachsenen zu erlauben, »muss man ja auch die Chance haben, irgendwo übernachten zu können«, sagt Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU). Berlin und NRW sehen das ähnlich und wollen Hotels das gestatten.
Der Bund hätte lieber strengere Corona-Regeln gehabt, einige Länder sehen es eher laxer. Beide einigten sich auf diesen Kompromiss: Den Shutdown bis 20. Dezember verlängern und fürs Weihnachtsfest lockern.
In der Konsequenz sollte man dann auch Hotels für die Verwandtenbesuche öffnen. Es sei wie beim Hundetraining, argumentiert mein Kollege Martin Knobbe: »Verhaltet ihr euch brav, gibt es am Schluss ein Leckerli. Nun müssen sie ihr Versprechen auch halten.« In einer SPIEGEL-Umfrage gaben mehr als 70 Prozent der Befragten an, ihr Fest wegen der Regeln nicht anders zu verbringen. Nur 23 Prozent müssen umplanen und etwa die Personenzahl auf 10 reduzieren.
Zu glauben, durch geschlossene Hotels werde es schon zu weniger Weihnachtsreisen und Kontakten kommen (was Kanzlerin Merkel ausdrücklich wünscht) erscheint mir genauso lebensfremd, wie anzunehmen, Oma und Opa können schon irgendwie auf der Wohnzimmercouch pennen. Vielleicht sollen sich die Großeltern ja ein Zelt kaufen und Wintercamping ausprobieren? Vermaledeit ist das frohe Fest so oder so. Und das liegt nicht an der Politik, sondern an einem Virus namens Corona.
Lesen Sie hier den Leitartikel: Zum Schluss gibt's ein Leckerli
Hier geht es zur Umfrage, wie die Deutschen Weihnachten feiern.
3. Ist Erfurt auch in Magdeburg?
»Wir lehnen eine Zusammenarbeit mit AfD und Linkspartei ab. Aus jeweils unterschiedlichen Gründen, aber gleichermaßen entschieden.« Dieses Zitat stammt von CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak und könnte schon Mitte Dezember erneut durch die Realität widerlegt werden. Dann nämlich will die CDU-Fraktion in Sachsen-Anhalt den Medienstaatsvertrag kippen – an der Seite der AfD.
Eine »gemeinsame Ablehnung« der Gebührenerhöhung für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk sei der »Lackmustest für eine künftige Zusammenarbeit von AfD und CDU«, umgarnt AfD-Fraktionschef Oliver Kirchner in Magdeburg die dortige CDU-Fraktion. Wobei er gar nicht so schmeicheln muss: CDU-Landeschef Holger Stahlknecht ist längst auf Linie und unterstreicht die Forderung, den Staatsvertrag abzulehnen. Ministerpräsident Reiner Haseloff scheint nicht durchzudringen – er ist gegen eine gemeinsame Abstimmung. Er könne den Abgeordneten des Parlaments schließlich nichts diktieren. »Momentan sieht es so aus, als würde die CDU-Fraktion sämtliche Risiken ausblenden und sogar in Kauf nehmen, dass sie am Ende ihren eigenen Ministerpräsidenten stürzen könnte«, sagt mein Kollege Veit Medick, der den Fall gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen nachzeichnet.
Da werden Erinnerungen wach an den Februar 2020 in Thüringen: Der FDP-Kandidat Thomas Kemmerich ließ sich gemeinsam mit Stimmen der AfD und CDU zum Kurzzeit-Ministerpräsidenten wählen. Danach stellte CDU-Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer ihren Rückzug in Aussicht. Jetzt, kurz vor ihrem Abtritt, soll es bloß kein neues Erfurt geben. Denn dann droht, was Politikwissenschaftlerin Ursula Münch bereits nach Thüringen prophezeite: »Das hat Potenzial, eine Partei zu zerreißen.«
Hier lesen Sie die ganze Geschichte: Die schwarz-braune Gefahr
Was heute sonst noch wichtig ist
Trump will Weißes Haus räumen – sobald Biden als Präsident feststeht: Die Blockade des Noch-Präsidenten bröckelt. Donald Trump hat eingeräumt, dass er das Weiße Haus verlassen wird. Allerdings erst, wenn das Electoral College entschieden hat.
»Landshut« soll doch nach Friedrichshafen: Unerwartete Wende einer Regierungsposse: Das Wrack der 1977 entführten Lufthansa-Maschine »Landshut« soll jetzt doch am Bodensee ausgestellt werden. Die Haushälter des Bundestags gaben in der Nacht 15 Millionen Euro frei.
Schufa will angeblich Kontoauszüge einsehen: Wer einen schlechten Schufa-Score hat, kann der Auskunftei für eine Neubewertung künftig Einblick in seine Kontoauszüge gewähren. Das Angebot wird derzeit getestet – weitere sollen folgen.
Aldi schließt »Filiale Nummer 1« in Essen: Im Frühjahr 1919 zogen die Eltern von Karl und Theo Albrecht mit ihrem Lebensmittelladen in die Huestraße 89 in Essen. Am Samstag macht die älteste Aldi-Filiale nun zu – die Tradition soll aber weiterleben.
Scholz würde sein Kabinett mindestens zur Hälfte mit Frauen besetzen: Sollte Olaf Scholz Bundeskanzler werden, will er den Regierungsstab weiblicher machen. Das hat der Finanzminister nun auf Twitter versprochen.
Meine Lieblingsgeschichte heute:
»So, wie Merkel von uns jungen Menschen spricht, klingt es, als würden wir keine Gedanken verschwenden an Risikogruppen, hart arbeitende Pflegekräfte oder Menschen, deren Jobs wegbrechen«, schreibt meine Kollegin Celine Wegert.
Ihr behagt nicht, dass ihrer Generation permanent unterstellt wird, sie würde Corona nicht ernst nehmen und weiter ihr Ding machen. Dabei sind es Leute in ihrem Alter, die besonders von der Pandemie getroffen werden. Wenn sie studieren, dann nicht selten unter erschwerten Bedingungen, wenn sie arbeiten, dann oft in prekären Jobs, sie fliegen als Erste raus, wenn Stellen abgebaut werden. Nebenjobs fallen weg, weil Kneipen geschlossen sind, die Miete muss trotzdem gezahlt werden.
Über Weihnachten, die Bundesliga und Silvesterböllerei würde mit Leidenschaft debattiert. »Nur über uns redet niemand.«
Celines Appell können Sie hier lesen: Wir sind auch noch da
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
Schnelltests für alle? Schön wär's! Bund und Länder schüren Hoffnung durch Corona-Tests, die zu Hause durchgeführt werden könnten und nach 15 Minuten ein Ergebnis liefern. Dabei gibt es davon gar nicht genügend.
Wie sich Altmaier und Scholz gegenseitig die Schuld zuschieben: Vertrauliche Dokumente zeigen, wie die Finanzaufsicht im Fall Wirecard geschlampt hat – und sich zwei Ministerien nun ein Scharmützel liefern.
Cry for me: Genial, exzessiv, zerstörerisch: Diego Maradona hat seinen langen, harten Abstiegskampf verloren. Die Tragödie eines Fußballmagiers. Lesen Sie hier die SPIEGEL-Titelgeschichte.
So leicht ist es, Ihr Gedächtnis zu hacken: Die Psychologin Julia Shaw erklärt, wie leicht es ist, Menschen falsche Erinnerungen einzupflanzen – und warum künstliche Intelligenz helfen kann, diese zu erkennen.
Ein Ort der Hoffnung zwischen Bürgerkrieg und Seuchen: In der Provinz Schabwa spielt sich ein kleines Wunder ab. Erst wurde ein Krankenhaus gebaut, inzwischen ist sogar ein Urlaubsresort in Planung. Nun hofft der Gouverneur, dass sein Beispiel Schule macht.
Was heute nicht so wichtig ist
Weiße Weste: Auf den Galapagosinseln ist ein komplett weißer Pinguin entdeckt worden. Eigentlich ist das Rückengefieder dieser Tiere dunkel gefärbt. Fälle von Albinismus sind schon bei Haien, Eidechsen, Hummern und Finken festgestellt worden – aber noch nie bei einem Galapagos-Pinguin. Forscher vermuten einen genetischen Defekt. Hoffentlich ein Einzelfall, sonst könnte die mehr als 55 Millionen Jahre alte Spezies nicht mehr Pate stehen für die Anzugträger in Dax-Vorständen, die gemeinhin als Pinguin-Etagen bezeichnet werden.
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »Ob Kulturstaatsministerin Grütters dem Plan seinen Segen gibt, war zur Stunde nicht zu erfahren.«
Cartoon des Tages: Ich begnadige dich!

Und heute Abend?
Wenn die deutsche Herren-Fußballnationalmannschaft spielt, sitzen in der Regel rund 80 Millionen Trainer vor dem Fernseher und wissen es besser als Coach Joachim Löw. Einer von ihnen scheint Peter Sloterdijk, 73, zu sein. Der Philosoph (»Kritik der zynischen Vernunft«) sieht keine große Zukunft für den Bundestrainer.
Auf die Frage meines Kollegen Volker Weidermann, ob Löw nach den vielen Misserfolgen in jüngster Zeit zurücktreten solle, antwortete Sloterdijk in der Büchershow »Spitzentitel«: »Es wäre vielleicht besser, ja.« Aber der Autor sieht für den Weltmeistertrainer von 2014 noch eine Chance: »Er könnte sich erneuern und seine Frisur verändern und dann eine neue Mannschaft aufbauen.« Sloterdijk wird seit Jahren als Querdenker bezeichnet. Er hält das für eine misslungene Beschreibung. Über die Corona-Leugner findet er sogar noch deutlichere Worte.
Was Sportsmann Sloterdijk für Ratschläge in der aktuellen Krise parat hat, könnten Sie sich heute Abend ansehen.
Das war's von mir in dieser Woche, hat Spaß gemacht. Ich wünsche Ihnen ein vergnügliches 1. Adventswochenende, kommen Sie gut in die nächste Woche.
Ihr Janko Tietz
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