
Die Lage am Abend Wen impfen wir und wen lassen wir im Stich?

Guten Abend, die drei Fragezeichen heute:
Corona – Warum lassen sich Altenheime nicht besser schützen?
Raumfahrt – Wo wird es eng im All?
Unpassend – Wie geht H&M mit seinen Mitarbeitern um?
1. Das Risiko der Gruppe
Beim Impfgipfel reden sie über die Dosen, die bis Ende des Jahres zur Verfügung stehen sollen – die Bundesregierung rechnet mit 323 Millionen (was ja hoffen lässt). Und sie reden über die Probleme, die auftreten – die Bundesregierung fürchtet, es könnte zu Engpässen beim Material kommen, bei Spritzen oder Kanülen (was alle Hoffnungen gleich wieder dämpft). Die hochkomplexe Vakzineproduktion lässt sich also doch irgendwie hochfahren, aber an den Kanülen scheitert's? Solche (vielleicht nur scheinbaren) Widersprüche machen es nicht gerade leichter, die Pandemie durchzustehen.
Wobei sich bei Corona immer wieder zeigte: Das vermeintlich Naheliegende führt immer wieder in die Irre. Mein Lieblingsbeispiel ist der Vorschlag, die Altenheime und Risikogruppen einfach besser zu schützen, dann könnten alle anderen wieder ins Kino, shoppen, zur Schule. Mit solchen Scheinplausibilitäten mögen sich Talkshowduelle bestreiten lassen, aber keine Senioren schützen, wie die Recherche meiner Kolleginnen Heike Klovert und Nina Weber zeigt: Selbst wenn sich alle an die Hygieneregeln hielten, wäre es fast unmöglich, Altenheime sicher gegen das Virus abzuschotten – die Personalengpässe, die schon vor Corona bestanden, lassen sich kaum beheben, Tests sich kaum lückenlos durchziehen, Besuche nicht alle untersagen. Heike und Nina zitieren eine Caritas-Sprecherin, die erzählt, dass es »schwierig bis unmöglich« sei, Demenzkranke davon abzuhalten, auf andere zuzugehen, sie zu umarmen.
»Mich berührt, wie sehr und wie nachhaltig Corona-Ausbrüche die Menschen, die in Alten- und Pflegeheimen arbeiten, verstören und belasten«, sagt Heike. »Wir reden schon so lange darüber, wie man den Pflegeberuf aufwerten kann – diese Debatte muss jetzt noch dringender als zuvor zu einem guten Ergebnis kommen.« Sonst sei es kein Wunder, wenn viele weitere Pflegerinnen und Pfleger ihren Beruf aufgäben.
Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Warum es so schwierig ist, Menschen in Heimen zu schützen
2. All und Rauch
»Der Weltraum, unendliche Weiten«, damit beginnt nicht nur jede »Raumschiff Enterprise«-Folge, damit beginnt auch ein Text meines Kollegen Christoph Seidler aus unserem Wissenschaftsressort. Einigermaßen glaubhaft versichert Christoph, diesen Texteinstieg nicht mir zuliebe formuliert zu haben. Es geht darum, dass es Stellen gibt, an denen das All alles andere als unendlich weit ist, sondern an denen es sehr eng wird – unseren Erdorbit zum Beispiel. »Mehrere Firmen bauen riesige Satellitenflotten für die Versorgung mit Breitbandinternet auf«, sagt Christoph.
Jetzt hat ein deutsches Raumfahrtunternehmen einen Satelliten für einen unbekannten Kunden in die Umlaufbahn geschossen. Und eine britische Konkurrentin beklagt, das erhöhe das Unfallrisiko. »Niemand kann das All für sich beanspruchen, die Firmen müssen untereinander klären, wie sie gefährliche Kollisionen vermeiden können«, sagt Christoph. »Kommt es zum Crash, drohen gefährliche Wolken an Weltraumschrott die Erde zu umkreisen.« Das würde es schwerer machen, in Galaxien vorzudringen, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat.
Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Wird der geheimnisvolle Satellit einer deutschen Firma zur Gefahr im All?
3. Hetze & Mobbing?
Untragbar soll es zugehen beim Moderiesen H&M, nicht modisch, sondern personalpolitisch. Eine Betriebsrätin schilderte meinem Kollegen Stefan Schultz aus unserem Wirtschaftsressort, wie »systematisch Gruppenzwang« ausgeübt werde, um unbequemen Angestellten das Leben schwer zu machen. Mit der »Wir gegen die«-Dynamik von Schulcliquen vergleicht es Stefan. »In der Arbeitsforschung gibt es einen Fachbegriff dafür, Experten sprechen von ›Vergemeinschaftung‹ – und nennen teils H&M als Beispiel.« Der Konzern weist das zurück.
»Kurz vor Abschluss meiner Recherche wurde H&Ms Abfindungsprogramm bekannt«, sagt Stefan – 800 Stellen will die Modekette einsparen. »Nach allem, was ich höre, hat das Unternehmen große Probleme, genug MitarbeiterInnen zu finden, die freiwillig gehen. Und nach allem, was ich zu H&Ms Personalpolitik recherchiert habe, frage ich mich, ob Angestellte gerade mit ähnlichen Methoden unter Gruppendruck gesetzt werden wie die Betriebsrätin in meiner Geschichte.« H&M teilt mit, es gebe im Unternehmen »keinen auf Basis dieser Werte erzeugten Gruppendruck gegen MitarbeiterInnen, die sich für die Gründung von Betriebsräten einsetzen«. Irgendetwas passt hier nicht zusammen.
Lesen Sie hier die ganze Geschichte: »Du wirst noch sehen, was du davon hast«
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Debriefing
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Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »Allerdings spatz Hersteller die milliardenteure Entwicklung einer neuen Plattform«
Cartoon des Tages: Wir brauchen nur genug Gottvertrauen

Klaus Stuttmann
Und heute Abend?
Könnten Sie musikalisch in eine Zeit zurückreisen, in der DM nicht für »Direct Message« stand, sondern für Deutsche Mark und für eine Band, die es in meiner Erinnerung häufiger in die »Bravo«-Charts schaffte als der »Bravo«-Schriftzug auf die Titelseite – Depeche Mode.
Mein Kollege Felix Bayer hat mit Martin Gore gesprochen, dem musikalischen Mastermind der Band. Gore hat gerade eine neue Solo-EP aufgenommen, Felix aber empfiehlt: »Man könnte mal wieder die Alben aus den mittleren Achtzigern hören (›Construction Time Again‹, ›Some Great Reward‹ oder ›Black Celebration‹), als Depeche Mode so experimentell nach Sounds suchten, wie es Martin Gore auf seiner neuen Solo-EP tut – aber dazu noch riesige Melodien fanden.« (Das ganze Interview lesen Sie hier. )
In diesem Sinne: Lift up the receiver.
Einen schönen Abend. Herzlich
Ihr Oliver Trenkamp
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