
Die Lage am Abend Alles wird gut (in ungefähr 300 Jahren)

Guten Abend, die drei Fragezeichen heute:
Lohnlücke zwischen Männern und Frauen – Ist die Teilzeitarbeit schuld?
Razzia – Was wird Deutschlands größtem Immobilienkonzern vorgeworfen?
Superreiche – Steht die Vermögensteuer vor einem Comeback?
1. »Todesstoß« Teilzeit?
Angenommen, die Menschheit gibt es in 300 Jahren noch, weil sie weder vom Atomkrieg noch von einer Klimakatastrophe eliminiert worden ist. Die im Jahr 2323 Lebenden könnten sich nicht nur deshalb freuen: Sie wären auch die erste Generation der Welt, in der gleiche Rechte, gleiche Pflichten und gleiche Bezahlung von Männern und Frauen real wären. Jedenfalls wenn die Uno-Frauenrechtskommission mit ihrer Prognose recht behält.
Laut der ist die Gleichstellung derzeit noch »300 Jahre entfernt«, so sagte es António Guterres heute vor der Uno-Vollversammlung in New York. Er mahnte: »Die über Jahrzehnte erzielten Fortschritte verschwinden vor unseren Augen.«
Die Rechte der Frauen würden überall auf der Welt »missbraucht, bedroht und verletzt«. Als Beispiele nannte er Müttersterblichkeit, die Verdrängung von Mädchen aus Bildungseinrichtungen und Kinderehen. Besonders schlimm sei die Lage in Afghanistan, wo die radikalislamischen Taliban Frauen und Mädchen aus dem öffentlichen Leben verbannt hätten. Selbst Schaufensterpuppen dürfen dort kein Gesicht mehr zeigen.
Vor diesem Hintergrund kann man sich fast darüber freuen, dass wir in Deutschland am heutigen Equal-Pay-Day über Probleme wie die Lohnlücke zwischen Männern und Frauen jammern. 18 Prozent beträgt sie. Frauen verdienten nach Angaben des Statistischen Bundesamts hierzulande 2022 im Schnitt 18 Prozent weniger pro Stunde als Männer. Allerdings muss man dabei berücksichtigen, dass Frauen häufiger in schlechter bezahlten Berufen beschäftigt sind. Auch die Teilzeitquote ist höher. Sehr viel höher als die der Männer.
Fast die Hälfte der weiblichen Angestellten in Deutschland arbeitet in Teilzeit – aber nur ein Zehntel der männlichen.
»Von Teilzeitarbeit ist abzuraten«, heißt es daher zum Beispiel in den Empfehlungen der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina für »Frauen in der Wissenschaft«. Mein Kollege Tobias Becker hat bei der Historikerin Ute Frevert nachgefragt, ob die Leopoldina-Empfehlungen noch zeitgemäß seien. Ihre Antwort ist wunderbar illusionslos:
»An dem Punkt bin ich beinhart. Wenn beide Geschlechter gleichermaßen in Teilzeit gehen würden, wäre ich absolut dafür, Teilzeitarbeit in der Wissenschaft zu ermöglichen. Aber die Situation ist eine andere. Nach der Geburt eines Kindes nehmen Männer meist nur zwei Monate Elternzeit, wenn überhaupt. Und anschließend sind es fast ausschließlich Frauen, die Teilzeitoptionen ergreifen. Frauen schießen sich damit selber raus und ziehen im Wettbewerb mit ihren männlichen Konkurrenten den Kürzeren. Wie gesagt: Wenn Männer ihre Arbeitszeit ebenso zurückfahren würden wie Frauen: kein Problem. Aber wir können uns die Welt nicht so backen, wie wir sie gerne hätten. Ausnahmen bestätigen die Regel, aber unter den jetzigen Verhältnissen gilt meist: Teilzeit ist der Todesstoß für eine wissenschaftliche Karriere.«
Lesen Sie hier das ganze Interview: »Teilzeit ist der Todesstoß für eine wissenschaftliche Karriere«
2. Razzia beim Wohnungsriesen
Deutschlands größter Immobilienkonzern Vonovia hat einen Ruf wie Donnerhall. Steigende Mieten und seine immense Marktmacht haben dazu geführt, dass die Mehrheit der Bevölkerung in Berlin dafür stimmte, den Immobilienriesen zu enteignen. Zuletzt geriet der Konzern in die Schlagzeilen, weil er sämtliche Neubauprojekte auf Eis legte, obwohl in Deutschland Hunderttausende Wohnungen fehlen.
Heute nun kam es noch dicker: Wegen Korruptionsverdachts haben die Staatsanwaltschaft Bochum und das Landeskriminalamt NRW Büros des Bochumer Unternehmens durchsucht. Das bestätigte der Konzern dem SPIEGEL. Gegen mehrere Mitarbeiter des Konzerns und andere Beteiligte werde wegen des Verdachts der Bestechlichkeit und Bestechung, der Untreue und des Betruges ermittelt, hieß es bei der Staatsanwaltschaft. Mitarbeiter sollen für die Vergabe von Aufträgen an Nachunternehmer Geld erhalten haben. Immerhin: Menschen seien nicht geschädigt worden und auch an Gebäuden seien keine Schäden entstanden, so eine Vonovia-Sprecherin. Besonders beruhigend wirkt diese Erklärung offenbar nicht: Die Vonovia-Aktie verlor zwischenzeitlich rund fünf Prozent an Wert.
Lesen Sie hier mehr: Razzia bei Wohnungskonzern Vonovia
3. Lastenverteilung in der Krise
Vom »Halbteilungsgrundsatz« habe ich heute zum ersten Mal im Leben gehört. Nämlich als ich den Text meines Kollegen David Böcking las. »Demnach muss der Staat dem Steuerzahler mindestens die Hälfte seiner Einkünfte lassen«, heißt es darin . Der Grundsatz stammt aus den Neunzigerjahren, als das Verfassungsgericht die deutsche Vermögensteuer rügte. In späteren Urteilen rückte das Verfassungsgericht vom Halbteilungsgrundsatz zwar wieder ab, aber die Vermögensteuer blieb außer Kraft.
Die Frage ist: wie lange noch? Angesichts der aktuellen Debatte über Lastenverteilung in der Krise und knapper werdender Haushaltsmittel fordern Gewerkschaftsvertreter schon länger ihre Wiedereinführung. »Eine Vermögensteuer ist mit dem Grundgesetz vereinbar – andere Behauptungen sind Unsinn«, sagte Yasmin Fahimi, Chefin des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB), heute dem SPIEGEL.
Argumentationshilfe bekommt sie jetzt von dem Staatsrechtler Alexander Thiele. In einem noch unveröffentlichten Gutachten im Auftrag der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung schreibt er, dass die Vermögensungleichheit zuletzt gewachsen sei. Allein mit unterschiedlicher Leistungsfähigkeit seien die Unterschiede »kaum noch zu rechtfertigen«, so Thiele.
»Wir müssen uns als gleich wahrnehmen«, sagte der Jurist meinem Kollegen David Böcking. »Ich muss verstehen, warum der andere das Hundertfache von mir hat. Dieser Begründungszusammenhang fehlt zunehmend.« Eine Vermögensteuer könnte Thiele zufolge zumindest teilweise »Abhilfe schaffen«.
Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Gewerkschaften trommeln für Comeback der Vermögensteuer
Was heute sonst noch wichtig ist
Habeck verspricht »große soziale Unterstützung« bei Heizungseinbau: Eine halbe Million Wärmepumpen im nächsten Jahr: Heizen soll das Klima immer weniger schädigen und doch bezahlbar bleiben. Wirtschaftsminister Habeck hat nun erklärt, wie das gelingen soll.
Grüne wollen Steuerklassen reformieren: Frauen verdienen oft viel weniger als Männer und sind im Alter besonders oft von Armut betroffen. Familienministerin Lisa Paus von den Grünen verlangt eine Änderung der Steuerklassen.
Mannschaftskasse von Werder Bremen aus Kabine gestohlen: Aus der Umkleidekabine der Werder-Profis ist die Mannschaftskasse entwendet worden. Es soll sich um einen fünfstelligen Betrag handeln, wie nun bekannt wurde. Die Polizei ermittelt.
Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine
Der große Munitionsmangel: Im Donbass gehen sowohl Russland als auch der Ukraine die Geschosse aus, Wagner-Chef Prigoschin spricht von »Granatenhunger«. Das Wettrennen um Nachschub könnte mitentscheidend für den Kriegsausgang werden .
Video soll Exekution eines ukrainischen Soldaten in Kriegsgefangenschaft zeigen: In den sozialen Netzwerken sorgt ein Video für Entsetzen. Es zeigt die Hinrichtung eines offenbar unbewaffneten Mannes, der mutmaßlich ukrainischer Soldat war. Kiew spricht von einem Kriegsverbrechen.
Deutsche Botschafterin in den USA zankt auf Twitter mit Toprepublikaner: Deutschlands Verhalten zum Ukrainekrieg sei eine Schande, meint der US-Senator und Bestsellerautor J.D. Vance. Topdiplomatin Emily Haber wollte das nicht so stehen lassen. Nun schaltet sich auch ein Ex-US-Botschafter ein.
Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
So tickt der Neue: Bei seinem ersten Auftritt vor der Weltpresse zeigt Außenminister Qin Gang, wie vergiftet Chinas Verhältnis zu den USA ist. Und wie gering die Aussicht, dass Peking im Ukrainekrieg vermitteln könnte .
Die Geisterbrigade: Kanzler Scholz hat Litauen eine deutsche Kampfbrigade zum Schutz vor Russland zugesagt. Strittig aber ist, ob der Verband dort dauerhaft stationiert wird. Verteidigungsminister Pistorius muss die Wogen glätten .
Wie schnell haben Sie erfasst, worum es hier geht? Viel zu lesen ist im Studium und in vielen Jobs Pflicht. Trainer Friedrich Hasse erklärt, wie man auch komplexe Texte knackt – schon einfache Tricks können helfen .
Darf ich jetzt doch auf dem Gehweg parken? Halb auf dem Bordstein geparkte Autos sind grundsätzlich illegal – aber seit Jahrzehnten geduldet. Nun gibt es zwei Gerichtsurteile. Was sich dadurch für Autofahrerinnen und Fußgänger ändert .
Was heute weniger wichtig ist
Wüsste man nicht, dass es Elon Musk in echt gibt, könnte man ihn leicht für eine ausgedachte Figur aus der Feder eines durchgeknallten Drehbuchschreibers halten. Wie passend, dass Regiestar Alex Gibney einen Film über den Tesla-Chef, Twitter-Zerberus und Weltraumpionier drehen will. Allerdings keine Satire und keine Comedyserie, sondern eine Dokumentation. In einem ersten Statement verspricht Filmemacher Gibney eine »ungeschönte Untersuchung« zu Musk und seinem wirtschaftlichen und politischen Einfluss.
Mini-Hohlspiegel

Aus der »Hessischen/Niedersächsischen Allgemeinen«
Hier finden Sie den ganzen Hohlspiegel.
Cartoon des Tages

Entdecken Sie hier noch mehr Cartoons
Illustration: Klaus Stuttmann
Und heute Abend?
Meiner Kollegin Susanne Beyer, die diese Woche die Lage am Morgen schreibt, kann ich mich nur anschließen: Sie hat empfohlen, das schon ein paar Tage zurückliegende Politiker-Derblecken auf dem Nockherberg in München nachzuschauen .
Ihr hat die Persiflage von Olaf Scholz, der von der Schauspielerin Nikola Norgauer verkörpert wurde, gut gefallen. Mein Highlight war die Rede von Kabarettist Maximilan Schafroth, der dieses Jahr sogar Standing Ovations bekam .
Es hat ihn bestimmt viel Überwindung gekostet, im Rahmen eines Starkbieranstichs vor amüsierhungrigen Publikum aus seiner Rolle als Fastenprediger herauszutreten und den Konflikt in der Ukraine zu thematisieren. Gut, dass er es gewagt hat!
Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.
Herzlich
Ihre Anna Clauß, Leiterin Meinung und Debatte