
Die Lage am Abend Ein gerupfter US-Präsident auf Europatour

Guten Abend, die drei Fragezeichen heute:
Angeschlagener US-Präsident – Welche Figur macht Joe Biden nach der Schrumpfung seiner Reformpläne beim Besuch in Europa?
Vor dem Klimagipfel in Glasgow – Wieso könnte es beim Kampf gegen die Klimakrise ausgerechnet auf Angela Merkel ankommen?
Anstieg der Coronainfektionen – Warum will der Bundes-Ärztechef über einen Lockdown für Ungeimpfte diskutieren?
1. Der US-Präsident ist daheim im Kampf um sein Reformprogramm eingeknickt, das schwächt auch Joe Bidens Position beim G20-Treffen und beim Klimagipfel in Europa
»Ja, mach nur einen Plan, sei nur ein großes Licht«, heißt es in einer Ballade von Bertolt Brecht, »und mach dann noch 'nen zweiten Plan, gehn tun sie beide nicht.« An diese Brecht-Reime musste ich heute denken, als ich den Kommentar meines Washingtoner SPIEGEL-Kollegen René Pfister über die Nöte des an diesem Wochenende in Europa tourenden US-amerikanischen Präsidenten Joe Biden gelesen habe. »Schon seit Monaten ist Joe Biden damit beschäftigt, seine einst so anspruchsvolle Reformagenda Stück für Stück zurückzunehmen«, heißt es in Renés Text. Das abgespeckte Kompromisspaket, das er gestern vorgestellt hat, sei »nur noch ein Schatten der ambitionierten Pläne, mit denen er seine Amtszeit begonnen hat und die Amerika grundlegend verändern sollten.«
Dreieinhalb Billionen Dollar sollte Bidens »Build back better«-Plan kosten. Er wollte das Land so spektakulär erneuern wie Franklin D. Roosevelt mit dem New Deal. Doch als Biden nach monatelangen Verhandlungen mit der eigenen Partei jetzt den »Rahmenplan« für seine Sozial- und Klimaagenda vorstellte, war klar: Es wird, wenn überhaupt, nur die Hälfte davon übrig bleiben – 1,75 Billionen Dollar. Immerhin sollen US-Eltern Anspruch auf einen Kitaplatz erhalten und Senioren Zuschüsse für die häusliche Pflege bekommen – und immerhin sieht Bidens Plan vor, über 500 Milliarden Dollar in die Förderung klimafreundlicher Energie zu stecken. Trotzdem erscheint er nach den auch durch sein eigenes Ungeschick weitgehend missglückten Verhandlungen als ein Mann, der den Mund zu voll genommen hat.
Heute ist Biden nach Europa gereist, zum G20-Gipfel nach Rom und zur Klimakonferenz nach Glasgow. Statt mit einem klaren Ja für seine Reformen im Rücken stieg er, so der Kollege aus Washington, »als gerupfter Präsident in die Air Force One«. Was für eine Figur kann Joe Biden nun gegenüber seinen europäischen Gastgebern abgeben? In Rom trifft er unter anderem auf Angela Merkel, die gemeinsam mit Olaf Scholz da ist, und auf Emmanuel Macron, der über die Politik der USA wegen eines Streits um U-Boote gerade besonders verstimmt ist. René sagt: »Biden hat derzeit nicht einmal die eigene Partei in Washington im Griff. Wie will er da die Welt anführen?«
Lesen Sie hier mehr: G20-Gipfel in Rom – zwei glänzen, zwei streiten, zwei fehlen
Kommentar: Biden, der gerupfte Präsident
2. Damit der Klimagipfel in Glasgow Fortschritte bringt, sollte es Angela Merkels Job sein, die Pattsituation zwischen den USA und China aufzulösen
Bewegen sich die USA nicht, wird auch China mit Maßnahmen zum Klimaschutz nicht vorangehen. Trotz großer Ankündigungen traue der chinesische Präsident Xi Jinping seinem Kollegen Joe Biden nicht über den Weg, glauben viele Experten. Ohne China werden aber auch viele Schwellen- und Entwicklungsländer nichts tun. In das Patt der Großmächte könnte beim Klimagipfel in Glasgow am Sonntag die deutsche Kanzlerin Bewegung bringen. Sie sei die »einzige Hoffnung in dieser verfahrenen Situation«, schreibt meine Kollegin Susanne Götze in ihrer Analyse zu den »vier Knackpunkten« bei der Uno-Klimakonferenz, in der es um die Zukunft der Menschheit gehen wird. Nur Angela Merkel sei »lange genug im Amt und hat den Respekt von China und den USA« .
Glasgow wird von der Klimabewegung als – wieder mal – letzte Chance gesehen, die Trendwende noch zu schaffen. Für die Internationale Energieagentur, eine Uno-Organisation, ist die Konferenz der Test dafür, ob die Länder bereit sind, wirklich zu handeln und ehrgeizigere Ziele vorzulegen. Und besonders gefährdete Inselstaaten warnen, dass das einst vereinbarte Ziel, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, unerreichbar würde, wenn die Welt in Schottland nicht die Kurve kriegt.
Zur Eindämmung der Krise haben die Industrieländer unter anderem versprochen, pro Jahr mindestens 100 Milliarden Dollar für ärmere Länder bereitzustellen, um ihnen bei der Anpassung an die Klimakrise und bei der Energiewende zu helfen. Die ökonomischen Schäden durch Wirbelstürme oder Dürren überfordern viele afrikanische und asiatische Staaten. Sie fordern, dass die reicheren Länder für die Verluste zahlen, da sie historisch für den Klimawandel verantwortlich sind. Diese wollen sich rechtlich aber nicht in Haftung nehmen lassen. Da der Klimawandel absehbar noch viel teurere Schäden anrichten wird, müsste in Glasgow ein erster Kompromissvorschlag auf den Tisch – und die Frage beantwortet werden, woher das Geld kommen soll.
Immerhin sind der britische Premier Boris Johnson und sein Team offenbar hoch motiviert, die Länder zu höhergesteckten Klimazielen zu motivieren, etwa zu Maßnahmen, um den globalen Ausstoß von Treibhausgasen zu verringern. »Boris Johnson hat weder ein Renommee als engagierter Klimaschützer noch als geschickter Diplomat«, sagt meine Kollegin Susanne. Dafür trieben ihn andere Motive zu maximalem Engagement an: »Er muss den Gipfel zum Erfolg machen, um vom Brexit-Desaster abzulenken.«
Lesen Sie hier die Analyse: So kriegen wir im Kampf gegen die Klimakrise (vielleicht) noch die Kurve
3. Anstieg der Coronainfektionen – warum hält der Bundes-Ärztechef die Diskussion über einen Lockdown nur für Ungeimpfte für möglich?
Die Zahl der Coronainfektionen steigt, Bundesgesundheitsminister Jens Spahn empfiehlt allen über 60-Jährigen Auffrischungsimpfungen, in manchen Bundesländern wie Baden-Württemberg warnen Ärzte bereits vor einer Überlastung der Intensivstationen. Klaus Reinhardt, der Präsident der Bundesärztekammer, nennt die derzeit durch Deutschland schwappende Infektionswelle im Interview mit meiner Kollegin Cornelia Schmergal eine »Pandemie der Ungeimpften« . Inzwischen habe jeder und jede im Land die Möglichkeit gehabt, sich impfen zu lassen und einen Infektionsschutz aufzubauen.
Daher finde er es richtig, wenn die Bundesregierung die Verantwortung für Schutzmaßnahmen von Ende November an in die Hand der Länder legt. »Möglicherweise müssen wir bei weiter zunehmenden Fallzahlen eine gesellschaftliche Diskussion führen, ob Lockdownmaßnahmen nur für Ungeimpfte gelten«, sagt Reinhardt. Schließlich seien es derzeit vor allem die Ungeimpften, die mit schweren Covid-Verläufen in den Kliniken behandelt werden müssen. Die entscheidende Frage werde sein, wie stark die Krankenhäuser belastet sind – und das gelte nicht nur für die Intensivmedizin, sondern auch für normale Stationen.
Reinhardt fordert, dass die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung eine Kampagne zu Impfung und Infektionen startet, etwa mit Spots in sozialen Medien und im Fernsehen. »Wir müssen endlich Schluss machen mit den Fehlinformationen über angebliche Unfruchtbarkeit oder andere Spätfolgen durch das Impfen.« Nach SPIEGEL-Informationen kämpft auch die Bundeswehr trotz mehrerer Aufrufe von Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer weiter mit einer erheblichen Zahl von Corona-Impfverweigerern. Obwohl für die Truppe schon seit Monaten Impfstoff von Biontech und Moderna in ausreichender Menge bereitsteht, sind rund ein Viertel der Soldatinnen und Soldaten offenbar noch ungeimpft .
Lesen Sie hier das Interview mit Ärztepräsident Klaus Reinhardt: »Lockdownmaßnahmen nur für Ungeimpfte«
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Was heute sonst noch wichtig ist
Walter-Borjans will Amt als SPD-Chef abgeben: Er war zwei Jahre im Amt, jetzt soll schon Schluss sein: SPD-Chef Norbert Walter-Borjans tritt beim Parteitag im Dezember nicht erneut für den Vorsitz an – und hat einen Rat für die künftige Parteiführung.
Lindner hält an Pendlerpauschale fest: Der Abbau von Subventionen soll einer möglichen Ampelkoalition Geld für andere Projekte bringen. Streit gibt es in der Frage, welche Bundesgelder verzichtbar sind. FDP-Chef Lindner will die »arbeitende Mitte« nicht zusätzlich belasten.
Karliczek fordert Aus für Konfuzius-Institute: »Die richtigen Schlüsse ziehen«: In einem Brief an die Hochschulrektorenkonferenz zum Umgang mit den umstrittenen Konfuzius-Instituten findet die Bundesbildungsministerin deutliche Worte.
Gil Ofarim und Hotelmitarbeiter erhalten zahlreiche Hassnachrichten: Die Debatte über Gil Ofarim führt offenbar zu einer Hasswelle: Der Musiker hat zahlreiche antisemitische Nachrichten erhalten. Auch der Hotelmitarbeiter, der ihn beleidigt haben soll, wird angefeindet.
US-Milliardär bezeichnet Väter in Elternzeit als »Loser«: Der umstrittene Tech-Investor Joe Lonsdale hat via Twitter den US-Verkehrsminister Pete Buttigieg für seine Elternzeit verspottet. Die Reaktionen folgten prompt.
Meine Lieblingsgeschichte heute: Der Fall »Drachenlord«

Hassdemo gegen den YouTuber »Drachenlord« (August 2018)
Foto: DPA/ NEWS5In einem herausragend guten, klug argumentierenden aber auch zornigen Text schildert der SPIEGEL-Kolumnist Sascha Lobo den Fall des als »Drachenlord« bekannt gewordenen YouTubers Rainer Winkler – als katastrophales Versagen von Justiz, Medien und Gesellschaft. Saschas Text ist bereits seit Mittwoch auf der SPIEGEL-Seite zu lesen, leider komme ich erst heute dazu, ihn zu empfehlen, dafür mit besonderem Nachdruck. Sascha berichtet, dass der YouTuber Winkler einen breiten, fränkischen Akzent hat, dick ist und sich im Netz zeigt, wie er ist; und dass er dafür seit 2013 von einem Zehntausende Menschen starken Hassmob gequält wird. Nun hat das Amtsgericht von Neustadt an der Aisch den »Drachenlord« alias Winkler, weil er sich gewehrt hat, wegen gefährlicher Körperverletzung und anderer Straftaten zu zwei Jahren Haft ohne Bewährung verurteilt. »Ein empörendes Urteil, das von Unwissen, Unwillen und Unverständnis des Amtsgerichts und der Staatsanwältin zeugt«, schreibt unser Kolumnist und erkennt in dem Urteil das Produkt eines Versagens von Staatsorganen und medialer wie sozialmedialer Öffentlichkeit. »Winkler ist ein Opfer, das unsagbar gequält wurde und dem nichts blieb, als sich zu wehren. Staatsanwältin und Richterin haben damit genau die Täter-Opfer-Umkehr staatlich festgezurrt, an der der Hassmob seit vielen Jahren absichtsvoll arbeitet.«
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
»Ich weiß, wie es sich anfühlt, künstlich beatmet zu werden«: Bis ein Unfall ihre Karriere beendete, war Kristina Vogel eine der erfolgreichsten Bahnradsportlerinnen der Welt. Hier spricht sie über die Vorbildfunktion von Sportlern – der Fall Kimmich habe sie erschreckt .
In Hollywood sprechen sie von einem »Unfall mit Ansage«: Übermüdet, überlastet, unterbezahlt: Die Mitarbeiter von Alec Baldwins tödlicher Western-Produktion prangern miese Arbeitsbedingungen und laxe Sicherheitsstandards an. Nun stürzen sich auch noch Trump-Fans auf den Fall .
Die Milliarden-Abzocke beim Strom: Mit dubiosen Tricks umgingen Konzerne wie Bayer, Evonik und Daimler jahrelang die Ökostrom-Umlage. SPIEGEL-Recherchen zeigen: Statt die Summen zurückzuzahlen, setzte die Industrie eine Amnestie durch .
Sie wird Facebook gefährlich – und von der deutschen Politik umgarnt: Auf der einen Seite ein Megakonzern, auf der anderen eine Ex-Mitarbeiterin, gut vernetzt und gerissen: Mit ihren Enthüllungen greift Frances Haugen das System Facebook an. Warum trifft sie sich jetzt mit den Ampelparteien ?
Endet jetzt die Herrschaft der Michaels und Stefans? Auf den ersten Blick ist der neue Bundestag jünger und vielseitiger – doch stimmt das wirklich? Der SPIEGEL hat Daten über Geschlecht, Herkunft und Beruf ausgewertet .
Was heute weniger wichtig ist
Verblüffendes Tanztalent. Matthias Schweighöfer, 40, zeigt Begabung als bewegter Mann. Der deutsche Schauspieler durfte in der US-Talkshow von Jimmy Fallon auftreten. Dort stellte Schweighöfer seinen neuen Film »Army of Thieves« vor, an dem er als Regisseur und Hauptdarsteller beteiligt ist. Als es um einen Vergleich mit dem US-Popstar Justin Timberlake ging, sagte Schweighöfer in der Show, dass er ein guter, wenn auch schüchterner Tänzer sei und tanzte als Beweis gemeinsam mit Fallon im Studio. Der Talk-Gastgeber schmeichelt seinem Tanzpartner: »Ich bin froh, dass du jetzt auch in Amerika groß herauskommst und wir sehen können, wie charmant und talentiert du bist.«
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »Andere Kriminelle haben den Behörden zufolge im Anschluss Schadsoftwaresoftware wie TrickBot in den kompromittierten Netzwerken platziert und dann teilweise monatelang unentdeckt in den Systemen nach weiteren Schwachstellen gesucht.«
Cartoon des Tages: Klimawandel

Chappatte
Und am Wochenende?

Könnten Sie mal ein kluges Sachbuch lesen. »Welt im Lockdown« von Adam Tooze ist eine herausragende Studie über Corona und den neuen Kapitalismus. Mein Kollege Tobias Rapp nennt den Autor in seiner begeisterten Besprechung einen »Krisenhistoriker«. Interessanter Beruf. Tatsächlich hat Tooze auch schon über die Finanzkrise von 2008 und der folgenden Jahre ein tolles Buch geschrieben. In seinem aktuellen Werk analysiert Tooze, Corona habe endgültig dafür gesorgt, dass die Zeit des schwachen Staats vorbei ist. Der Neoliberalismus und der Glaube daran, dass Märkte Probleme besser regeln könnten als Regierungen, haben sich während der Pandemie weitgehend erledigt. Tooze betrachtet in »Welt im Lockdown« den Zeitraum zwischen Januar 2020, als das Virus nach und nach auf der Welt wahrgenommen wurde, und Januar 2021, als ein Impfstoff in erreichbare Nähe rückte. Beschrieben wird ein globaler Wandel, ökologisch, ökonomisch, politisch, geopolitisch, der früher womöglich mit der Vorhersage einer Revolution verbunden gewesen wäre. Aber, schreibt Tooze: »Wenn heute irgendetwas unrealistisch ist, dann ist es mit Sicherheit das.« Woraus mein Kollege Tobias folgert: »Die Krise ist zum Dauerzustand geworden.«
Einen schönen Abend. Herzlich
Ihr Wolfgang Höbel
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