

Die Lage am Abend Geht so die neue deutsch-amerikanische Freundschaft?

Guten Abend, die drei Fragezeichen heute:
Joe Biden – betreibt der neue US-Präsident die alte Politik?
Infektionsgefahr in Schulen – tragen Kinder und Jugendliche die Viren in ihre Familien?
Schwarzer Filz – noch mehr Ärger für CDU und CSU wegen der Nebengeschäfte ihrer Amtsträger?
1. Der neue US-Präsident Biden geht mit der EU und Deutschland sehr frostig um – und redet in seiner ersten großen Pressekonferenz von seinen Impferfolgen
Der Zauber des Neubeginns in der Beziehung zwischen Europa und den USA ist unerwartet schnell einer ziemlich überraschenden Ernüchterung gewichen. »Der Honeymoon ist vorbei, bevor er begonnen hat«, zitieren meine Kollegen Christiane Hoffmann, Markus Becker, René Pfister und Christoph Schult in ihrem Bericht über die ersten Erfahrungen mit der neuen US-Regierung unter Joe Biden einen deutschen Diplomaten. Der neue US-Präsident hat zum Beispiel abgelehnt, dem Export von 30 Millionen in den USA lagernden AstraZeneca-Impfdosen zuzustimmen, die das Land wahrscheinlich niemals brauchen wird. In der Afghanistanpolitik folgte auf Ankündigungen, dass man wieder auf Beratungen mit den Alliierten setzen wolle, eine Brüskierung durch den neuen US-Außenminister Antony Blinken, der unter anderem damit droht, einen Großteil der US-Truppen doch schon zum 1. Mai abzuziehen. Im Fall der fast fertiggestellten, von den USA abgelehnten Pipeline Nord Stream 2, die Europa mit russischem Gas versorgen soll, heißt es aus Washington wenig kompromissbereit: »Die Deutschen müssen begreifen, wie ernst für uns das Thema ist.«

US-Präsident Biden: »Der Honeymoon ist vorbei«
Foto: Oliver Contreras / Sipa USA / ddpDie Kollegin und die Kollegen vergleichen die ersten Kommunikationsversuche zwischen der deutschen Kanzlerin Angela Merkel und dem Präsidenten Biden mit dem Floskelaustausch in einer schlechten Ehe, in der die Partner verlernt haben, offen miteinander zu reden. Bei einem Telefonat hätten beide es nicht gewagt, das Thema Nord Stream 2 überhaupt anzusprechen. »Biden ist wie Trump, nur etwas netter im Ton«, lautet die Überschrift der Beschreibung einer verfahrenen Beziehung.
Bei der ersten großen Pressekonferenz seiner vor mehr als zwei Monaten begonnenen Amtszeit versprach Biden nun unter anderem noch schnellere Impfungen in den USA. In ihrer Videoanalyse des Präsidentenauftritts beschreiben meine Kollegen René Pfister und Martin Jäschke den Redner Biden als »nahbar, menschlich, witzig« und als einen »Mann, der es versteht, seine Erfolge zu verkaufen«, leider aber auch oft »unpräzise in seinen Worten« ist. Das dürfte sich beim ersten Ehekrach zwischen den Regierenden Deutschlands und der USA ändern.
Video zur ersten Pressekonferenz von US-Präsident Biden: »Mein Vorgänger? Oh Gott, ich vermisse ihn«
Streit zwischen Deutschland und den USA: Biden ist wie Trump, nur etwas netter im Ton
2. Die Schulen sind kaum gerüstet dafür, dass die gefährlichere Variante des Coronavirus viele Kinder und Jugendliche befällt, die Politik ignoriert das weitgehend – mit fatalen Folgen
Die Wut steht gerade in keinem guten Ruf, aber manchmal packt auch Journalistinnen und Journalisten ein leider offensichtlich berechtigter Zorn. Meine Kollegin Rafaela von Bredow aus dem Wissenschaftsressort des SPIEGEL berichtet heute darüber, wie deutlich aktuelle wissenschaftlichen Erkenntnisse darauf hinweisen, dass die Coronavirusmutante B.1.1.7 sehr viele Kinder und Jugendliche befällt – und dass die Infizierten die Viren in ihre Familien tragen. Rafaela sagt: »Es macht mich wütend, dass wir es nicht geschafft haben, Schulen und Kitas zu sicheren Orten zu machen. Das ist ein Totalversagen der Politik.«

Kinder bei Corona-Selbsttests in einer Münchner Grundschule: »Die Patienten werden jünger«
Foto: Matthias Balk / dpaIn ihrem Text schildert Rafaela sehr eindringlich, wie fassungslos viele wissenschaftliche Expertinnen und Experten die Handlungsunfähigkeit der Politik verfolgen. »Zuerst vergingen Monate, in denen viele Leute glaubten, Kinder blieben auf magische Weise verschont von dem Virus. Man wollte nicht wahrhaben, dass sie sich ebenso mit Sars-CoV-2 infizieren wie Erwachsene – und andere anstecken, obwohl sie selbst oft keine Symptome haben.« Dann diskutierte man endlos über Schulschließungen, statt zum Beispiel für die Schülerinnen und Schüler flächendeckend zweimal die Woche durchgeführte Antigen-Schnelltests zu beschaffen und verpflichtend einzuführen. »Nun bricht, wie Virologinnen und Modellierer spätestens seit Januar prophezeien, eine dritte Infektionswelle mit Macht über Deutschland herein«, heißt es im Text. »Die deutlich ansteckendere und gefährlichere Mutante B.1.1.7 überzieht das Land. Und anstatt die Kontakte drastisch zu beschränken, wird gelockert – vor allem bei den Schulen.«
Nach den Befunden der Forscher ist das sogenannte Infektionsgeschehen bei den bis zu 14 Jahre alten Kindern hochgeschnellt und hat sich in den vergangenen fünf Wochen nahezu verdreifacht. Das Robert Koch-Institut spricht von Ausbrüchen, die »momentan insbesondere private Haushalte, zunehmend auch Kitas, Schulen und das berufliche Umfeld« beträfen.
Rafaela sagt: »Wir waren gewarnt. Seit Januar haben Wissenschaftler diese dritte Welle prophezeit, im SPIEGEL-Gespräch hat damals Christian Drosten unmissverständlich klargemacht, was im Frühling passieren wird, wenn wir den Shutdown nicht verschärfen.« Drosten veranschaulichte damals die Situation mit dem Bild vom klapprigen Lkw, mit dem wir einen steilen Berg hinunterfahren: »Wir müssen es unbedingt schaffen, nicht aus der Kurve zu fliegen. In dieser Situation hilft es nicht, die Augen zu schließen. Wir müssen durchhalten und vor allem eines tun: auf die Bremse treten.« Das ist, so Rafaela, leider nicht passiert. »Bei niedrigen Inzidenzen in der Bevölkerung kann man Schulen sicher betreiben. Aber die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten haben die Augen geschlossen. Im Januar hätten wir die Fallzahlen massiv drücken müssen, indem wir richtig schließen, Ausgangssperren verhängen. Arbeitgeber verpflichten, ihre Leute ins Homeoffice zu schicken, und wenn das nicht geht, harte Testregime einzuführen. Das wurde alles nicht gemacht.«
Lesen Sie hier die ganze Geschichte zur Corona-Mutante in Kitas und Schulen: »Passt gut auf euch und eure Kinder auf«
3. Parteiaustritt des Ex-CDU-Parlamentariers Mark Hauptmann, Millionenhonorare für den CSU-Veteranen Peter Gauweiler: Die Konservativen plagen sich weiter mit Filzvorwürfen
Schon in meiner Studentenzeit in München war der CSU-Politiker Peter Gauweiler ein äußerst umstrittener Mann, daran hat sich bis heute kaum etwas geändert. Er wurde bekannt als lautstarker Kämpfer für eine Law-and-Order-Politik und angefeindet zum Beispiel für seine steilen Thesen über den richtigen Umgang mit Aidskranken; im Austausch mit seinen Kritikern prägte er den cool klingenden Spruch: »Wer handelt, hat Feinde.« In Gauweilers Fall hat der Handelnde aber offenbar auch gute Freunde. Der CSU-Politiker soll zwischen 2008 und 2015 mehr als elf Millionen Euro vom Milliardär August Baron von Finck erhalten haben. Das berichtet die »Süddeutsche Zeitung«, die entsprechende Rechnungen einsehen konnte. Demnach erhielt Gauweiler die Gelder als »vereinbartes Honorar« für Beratungen in seiner Funktion als Anwalt – während er mit CSU-Mandat im Bundestag saß.

Der CSU-Politiker Peter Gauweiler
Foto: REUTERSGauweiler ist 71 Jahre alt, ein erfolgreicher Anwalt und seit vielen Jahren in der CSU. Er war von 2013 bis 2015 stellvertretender Parteichef, von 2002 bis März 2015 saß er für die CSU im Bundestag. Die Familie von Baron August von Finck ist eine der reichsten in Deutschland. Fincks Vermögen wird auf mehrere Milliarden Euro geschätzt. Worum es bei den honorierten Beratungstätigkeiten Gauweilers für den seit 1999 in der Schweiz residierenden Milliardär Finck ging, bleibt bisher unklar.
Die Millionenzahlungen an den CSU-Politiker dürften die Debatte über eine Offenlegung der Nebeneinkünfte von Abgeordneten weiter anheizen. Zuletzt hatten sich unter anderem die Unionspolitiker Georg Nüßlein (CSU) und Nikolas Löbel (CDU) den Vorwurf fragwürdiger Bereicherung eingehandelt, weil sie für Vermittlungstätigkeiten bei Schutzmaskengeschäften jeweils sechsstellige Provisionen kassierten. Beide haben ihre Bundestagsmandate niedergelegt. Auch der langjährige CSU-Landtagsabgeordnete Alfred Sauter, inzwischen aus der Fraktion ausgetreten, soll mutmaßlich rund 1,2 Millionen Euro erhalten haben.
In Thüringen teilte der dortige CDU-Landesverband heute mit, dass der unter Korruptionsverdacht stehende ehemalige Bundestagsabgeordnete Mark Hauptmann aus der CDU ausgetreten ist. Hauptmann ist in fragwürdige Lobbytätigkeiten für das autoritär regierte Aserbaidschan verwickelt. Inzwischen geht das Thüringer Landeskriminalamt dem Verdacht nach, dass auch er Provisionen für die Vermittlung von Maskendeals erhalten hat.
Lesen Sie hier die ganze Geschichte: CSU-Politiker Gauweiler kassierte offenbar elf Millionen Euro während seiner Zeit im Bundestag
Korruptionsvorwürfe Ex-Abgeordneter Hauptmann tritt aus CDU aus
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Was heute sonst noch wichtig ist
Biontech-Impfstoff kann auch bei Gefrierschrank-Temperaturen gelagert werden: Der Biontech-Impfstoff musste bisher bei minus 70 Grad gelagert werden, was die Logistik vor allem für Hausarztpraxen schwierig macht. Die EU-Arzneimittelbehörde hat nun neue Daten geprüft – und sich umentschieden.
Oberst der Bundeswehr soll trotz Coronainfektion zum Dienst gekommen sein: Wegen mutmaßlicher gravierender Verstöße gegen die Corona-Schutzregeln ermittelt die Bundeswehr gegen einen leitenden Offizier. Nach SPIEGEL-Informationen soll der Oberst trotz eines positiven Tests zum Dienst erschienen sein.
EU besorgt über Gesundheitszustand von Nawalny: Alexej Nawalny selbst wirft den Wächtern seines Straflagers Folter vor, ein Kremlsprecher wiegelt ab. Die EU fordert nun, die medizinische Versorgung des Oppositionellen zu ermöglichen.
Baguette soll Unesco-Welterbe werden: Ein Wahrzeichen wie der Eiffelturm: Das Savoir-faire und die Kultur des Baguettes soll nach dem Willen des französischen Kulturministeriums in die Liste des immateriellen Welterbes der Unesco aufgenommen werden.
Meine Lieblingsgeschichte heute
Der von einem Containerschiff verstopfte Suezkanal als Zeichen der Zeit: Natürlich bereitet die Strandung des Schiffs »Ever Given« vielen Menschen in aller Welt große Sorgen. Mein Kollege Patrick Beuth erkennt in den Bildern vom Unfall aber auch ein Geschenk an die Gemeinde der Internetnutzerinnen und -nutzer.

»Danke. Wir haben dieses Bild gebraucht«, schreibt Patrick in seiner Danksagung an den Kapitän, an die gescheiterten Bergungsexperten, an die Erbauer des Suezkanals und an die Fotografinnen und Fotografen vor Ort – im Namen des ganzen Internets: Danke. »Kein Motiv hat bisher die allumfassende Überforderung mit der Welt so auf den Punkt gebracht wie die »Ever Given«.« Und tatsächlich sind die mitgelieferten Beispiele sogenannter Memes sehr amüsant.
Containerschiff-Meme: Die »Ever Given« ist ein Geschenk ans Internet
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
»Es funktioniert besser mit jemandem, den man kennt«: Ob Spendendinner oder Impfstoffdebakel: Jens Spahn steht seit Monaten in der Kritik. Hier nimmt er Stellung zu seinen Fehlern und sagt, wie er mit der Wut der Menschen umgeht.
»Es ist der größte Genozid unserer Geschichte«: 300.000 Coronatote in einem Jahr: Brasiliens Ex-Präsident Lula macht dafür auch seinen Nachfolger Jair Bolsonaro verantwortlich. Er appelliert an Angela Merkel – und hat einen radikalen Vorschlag.
Das Geheimnis von Halix: Woher kommen die 29 Millionen Dosen Impfstoff, die Behörden in einem AstraZeneca-Werk entdeckt haben? Wohl hauptsächlich aus einer niederländischen Fabrik – hinter der eine deutsche Milliardärsfamilie steckt.
»Meine Furcht sagt mir, wie wichtig mein Tun ist«: Ihre Rede bei der Amtseinführung von US-Präsident Biden machte sie über Nacht weltberühmt. Wie geht die 23-jährige Amanda Gorman mit dem plötzlichen Ruhm um – und wie hat sie ihre Sprachstörung überwunden?
Was heute weniger wichtig ist
Gezähmter »Bild«-Wildfang: Julian Reichelt, 40, für seine Ruppigkeit bekannter und derzeit von seinem Amt freigestellter Chefredakteur der »Bild«-Zeitung, darf am kommenden Montag zurück an seinen Arbeitsplatz. Er bekommt aber eine Co-Chefin an die Seite gestellt. Sie heißt Alexandra Würzbach und ist nebenbei auch Chefredakteurin der »Bild am Sonntag«. Nach Compliance-Vorwürfen hatte die Kanzlei Freshfields gegen Reichelt ermittelt. Der habe »die Vermischung von beruflichen und privaten Beziehungen eingeräumt«, so Reichelts Arbeitgeber, der Verlag Axel Springer. Belege für den Vorwurf, er habe seine Macht missbraucht, habe es jedoch nicht gegeben. Meine Kollegin Isabell Hülsen und meine Kollegen Alexander Kühn, Martin U. Müller und Anton Rainer berichten, dass die Rolle der nun als Aufpasserin vorgesehenen Co-Chefredakteurin Würzbach in der Redaktion mit der Rolle der strengen Haushälterin Fräulein Rottenmeier aus dem Kinderbuch »Heidi« verglichen wird. Reichelt selbst gibt sich bußfertig und sagt: »Was ich mir vor allem vorwerfe, ist, dass ich Menschen, für die ich verantwortlich bin, verletzt habe.«
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »Demnach sollen bei einer Sieben-Tage-Inzidenz von über 100 Öffnungssschritte zurückgenommen werden.«
Cartoon des Tages: Superjens

Und heute Abend?
Könnten Sie das jüngste Buch von Julian Barnes lesen. Der britische Schriftsteller ist als begnadete Anekdotenschleuder berühmt. In jungen Jahren schrieb er einen Roman mit dem Titel »Flauberts Papagei«, in dem ein im Frankreich des 19. Jahrhunderts historisch verbürgter ausgestopfter Vogel eine Hauptrolle spielte. Sein neues Werk »Der Mann im roten Rock« handelt von einem Frauenarzt und Künstlerfreund namens Samuel Pozzi, der Ende des vorletzten Jahrhunderts in Paris lebte. Der Autor Barnes hat es als Sachbuch deklariert. Aber das Leben des Monsieur Pozzi erscheint in der Schilderung des 75-jährigen Schriftstellers wie ein wilder, klatschbegeisterter Roman.
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20.04.2021 22.05 Uhr
Keine Gewähr
Pozzi war der Arzt und Geliebte der Schauspielerin Sarah Bernhardt. Er ließ sich von einem Pariser Prominentenmaler, dem Amerikaner John Singer Sargent, auf einem pompösen Gemälde porträtieren. Und er war der Freund vieler Dandys, Aristokraten und Künstlermenschen, unter denen Schriftsteller Joris-Karl Huysmans (»Tief unten«) der berühmteste war. Für mich ist »Der Mann im roten Rock« das unterhaltsamste Buch dieses Frühjahrs. (Lesen Sie hier eine kurze Rezension.)
Einen schönen Abend. Herzlich
Ihr Wolfgang Höbel
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