Arno Frank

Die Lage am Abend Was sind uns Kinder wert?

Guten Abend, die drei Fragezeichen heute:

  1. Wird es die Kindergrundsicherung in dem Umfang geben, den es braucht?

  2. Wird der Tag kommen, an dem Europa wirklich etwas gegen das Sterben im Mittelmeer unternimmt?

  3. Und ist der Streit um Nordirland wirklich beigelegt?

1. Sind elf Milliarden ausreichend?

Die Kindergrundsicherung, ja nun. Das Thema klingt einschläfernd in den Ohren von Leuten, die keine Kinder und genug auf dem Konto haben. Tatsächlich ist es recht elektrisierend und von großer gesellschaftspolitischer – nein, nicht Sprengkraft – Wichtigkeit. Vermutlich wird es auch die Ampel nicht sprengen, Konfliktpotenzial aber hat es schon. So beharrt FDP-Finanzminister Christian Lindner auf dem Standpunkt, »einfach mehr Geld« helfe nicht gegen Kinderarmut. Man muss nun kein linksgrüner Träumer sein, um zurückzufragen: was denn sonst? Aktuell beträgt das Kindergeld 250 Euro, und das kostet heute allein schon ein wirklich vernünftiger Schulranzen.

Foto: Jake Warga / Getty Images

Die grüne Familienministerin Lisa Paus (»Was läuft denn da?« – »Tagesschau!« – »Wer ist denn das?« – »Das ist Lisa Paus, die grüne Familienministerin!« – »Nie gehört!«) hätte nun von Kassenwart Lindner gerne elf Milliarden Euro, um das im Koalitionsvertrag vereinbare Projekt endlich anzuschieben. Im Gespräch mit meinen Kolleginnen Kristin Haug und Silke Fokken sagt sie: »Die Kindergrundsicherung ist das wichtigste sozialpolitische Projekt « dieser Bundesregierung und müsse daher »Priorität haben«.

Elf Milliarden sei ein Betrag, der bei einer kompletten Abschaffung des Solidaritätszuschlags allein bei Spitzenverdienern als Plus übrig bleibe – also durchaus zu schultern. Entscheidend, so Paus, sei der »Paradigmenwechsel« von der individualisierten Beantragungskultur zu einer automatisierten »Servicepflicht«, in der dann der Staat stehe.

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Und hier weitere Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:

  • Das sind die Geschichten hinter den Kriegsbildern: Die Tage nach der Invasion, Kinder im Keller, Jubel in Cherson, ein Präsidentenporträt: fünf Kriegsfotografinnen und -fotografen über ihre Aufnahmen, die im Auftrag des SPIEGEL entstanden sind.

  • Diese Waffen prägen den Krieg in der Ukraine: Schultergestützte Abwehrwaffen stoppten den russischen Vormarsch, Mehrfachraketenwerfer die Artilleriewalze. Auch deutsche Rüstung hilft den Ukrainern gegen die Invasoren. Welche Systeme welchen Effekt haben – der Überblick .

  • Die Toten, die Putin verschweigt: Sie suchen auf Friedhöfen, in Archiven, im Internet: Russische Freiwillige wollen herausfinden, wie viele Soldaten in der Ukraine wirklich gefallen sind. Ihre Datenbank offenbart erstaunliche Details .

  • Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update

2. Sind 200 Menschen viel?

Das vielleicht zweitschaurigste Detail beim aktuellen »Bootsunglück vor der italienischen Küste« ist, dass diese rund 200 Menschen mehrheitlich aus Iran, dem Irak und Afghanistan fünf Tage vor ihrem Schiffbruch mit einem hölzernen Boot an einem Felsen im Meer vor Kalabrien in der Türkei in See gestochen sind. In der Türkei, von wo man die griechischen Inseln zwar direkt vor der Nase hat, sich womöglich aber bereits die Umstände herumgesprochen haben, unter denen Migrantinnen und Migranten auf Lesbos oder Samos interniert werden.

Strand bei Cutro: Trümmer des Unglücksbootes

Strand bei Cutro: Trümmer des Unglücksbootes

Foto: Giuseppe Pipita / ZUMA Wire / IMAGO

Unter Umfahrung also des kompletten Peloponnes, um nicht in Griechenland europäischen Boden zu betreten, haben 200 Menschen ihr Leben aufs Spiel gesetzt. 120 davon haben es schätzungsweise verloren.

Die Opfer sind noch nicht geborgen, da ist die Havarie bereits Politikum, da drückt die rechtsextreme italienische Ministerpräsidentin ihr Bedauern aus (»aber …«), und da drückt ihre neue linke Herausforderin Elly Schlein ebenfalls ihr Bedauern aus, ohne »aber …«. Es nützt nur nichts.

Da steht dann der kalabrische Regierungspräsident vor der Kamera und spricht wahr: »Diese Art der Tragödie hätte vorher vermieden werden müssen«, und: »Europa darf uns nicht im Stich lassen«. Erstens habe Kalabrien bereits 18.000 Flüchtlinge aufgenommen. Zweitens existiert noch immer keine Möglichkeit für Asylsuchende, sich einfach in ein – bedeutend günstigeres – Flugzeug zu setzen, um in Europa eine Aufnahme zu beantragen. Weil es das nicht gibt (und auch keine koordinierte europäische Seenotrettung, die diesen Namen verdienen würde), müssen Männer, Frauen und Kinder in Seelenverkäufer steigen.

Das schaurigste Detail ist, dass (zumindest mir) bei unserem Video – Algorithmen haben weder Humor noch Moral – eine Werbung für Urlaub an der türkischen Ägäis-Küste vorgeschaltet ist. Mit Picknick am Strand und jungen, schönen, weißen Menschen auf seetüchtigen Segelschiffen.

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3. Sind 27 Staaten beruhigt?

Im jahrelangen Brexit-Streit zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich um den rechtlichen Status der britischen Provinz Nordirland ist es zu einer Einigung gekommen. Das vermeldeten britische Medien und zahlreiche Agenturen noch vor der gemeinsamen Pressekonferenz von Ursula von der Leyen (EU) und Rishi Sunak (UK) in London, aber nach einem Tweet der Kommissionspräsidentin. Sie freue sich, hatte sie vor der Reise auf die Insel geraunt, »ein neues Kapitel mit unserem Partner und Freund aufzuschlagen«.

EU-Kommissionschefin von der Leyen und Premier Sunak

EU-Kommissionschefin von der Leyen und Premier Sunak

Foto: Dan Kitwood / AFP

Im Grunde war die heikle Zollfrage zwischen den beiden Territorien auf der irischen Insel im Nordirland-Protokoll geregelt. Demnach sollte es zwischen Nordirland (UK und also seit dem Brexit nicht mehr in der EU) und Irland (EU-Mitglied seit 1973) keine harten Zollgrenzen mehr geben. Faktisch wurde die Zollgrenze daher in die Irische See verlagert, was nach dem Gefühl vieler Brexiteers das Königreich von seiner nächstgelegenen Überseeprovinz trennte. Nicht wenige politische Beobachter hatten befürchtet, durch diese Regelung könne der Nordirland-Konflikt (eine Art Godzilla unter den politischen Konflikten in Europa) zu neuem Leben erweckt werden.

Bei Redaktionsschluss ist noch nicht klar, worin genau Entgegenkommen und Kompromiss in dieser Frage bestehen. Gleichwohl ist es ein nicht unangenehmes Zeichen, wenn ausnahmsweise mal Meinungsverschiedenheiten wirklich von Leuten geregelt werden, die vergleichsweise geräuschlos von einer Hauptstadt (Brüssel) in die andere (London) pendeln. Geht doch!

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Podcast Cover

Was heute sonst noch wichtig ist

  • SPD nach finaler Auszählung in Berlin nur noch 53 Stimmen vor Grünen: Die erste Wahl war fehlerhaft, die Wiederholung verlief weitestgehend unfallfrei. Nun sind in Berlin alle Wahlzettel offiziell ausgezählt – doch das Endergebnis macht den Koalitionspoker nicht leichter.

  • Greta Thunberg demonstriert gegen Windparks: Normalerweise kämpft die Umweltaktivistin für grüne Energien. Doch nun blockiert sie Norwegens Energieministerium: weil ein Windpark die Rechte indigener Völker beschneidet. Verwickelt ist auch ein deutsches Unternehmen.

  • EY-Mitarbeiter in China sollen kommunistische Parteiabzeichen tragen: Rote Fahne, Hammer, Sichel – diese kommunistischen Symbole passen nicht unbedingt zu einer Unternehmensberatung. Doch bei Ernst & Young in China sollen Mitarbeiter das Emblem der KP nun offen an der Brust präsentieren.

  • Verbraucherzentrale warnt vor überhöhten Abschlägen für Strom und Gas: Am Mittwoch treten die Energiepreisbremsen in Kraft. Dann sollen die Kosten für Verbraucher gedeckelt werden. Doch manche Anbieter nutzen offenbar den Moment: Sie fordern teils mehr als tausend Euro pro Monat.

Meine Lieblingsgeschichte heute:

…ist ein Essay, in dem mein Kollege René Pfister sich etwas von der Seele geschrieben hat, und zwar seine Sorge über den andernorts galoppierenden, hierzulande aber bereits gar nicht mal mehr sooo samtpfötig sich anschleichenden Machtwechsel im Journalismus. Mich hat das interessiert, weil ich im weitesten Sinne ebenfalls »was mit Medien« mache und diese Medien, gerne die klassischen, auch zur eigenen Meinungsbildung und Information heranziehe.

Voraussetzung für das Vertrauen, das Menschen dem Journalismus entgegenbringen, ist seine Objektivität. Oder zumindest ein spürbares Ringen darum. Pfister beobachtet nun (und belegt das auch mit zahlreichen Beispielen), dass das Ideal objektiver Berichterstattung immer häufiger zugunsten einer »guten Sache« aufgegeben wird.

Okay, die Anführungszeichen waren jetzt gemein. Das Abwenden einer Klimakatastrophe, das Eintreten für Menschenrechte oder der Kampf gegen Rassismus – alles objektiv gute oder zumindest löbliche Anliegen. Nur eben nicht unbedingt, und darauf beharrt Pfister mit einer Renitenz, die man altväterlich oder professionell nennen mag, im Journalismus. Gibt der sich einer Sache hin, gibt er seinen kritischen Kern preis.

Die Frage wäre, ob es diesen Preis wert ist.

Pfister meint, nö, ist es nicht, zumal auch der guten Sache damit nicht geholfen sei. Er befürchtet einen Journalismus, »der nicht mehr versucht, sich objektiv der Wahrheit anzunähern – sondern sich in Gruppen von Reportern organisiert, die ihre jeweils eigene Realität konstruieren, um den Interessen« ihrer ideologischen Neigungsgruppen zu dienen. Wenn das ein- und zutrifft, würde sich der Journalismus auf der einen Seite obsolet machen, ohne auf der anderen Seite wirklich etwas zu erreichen.

Wer sich nicht selbst schon in einer Blase häuslich eingerichtet hat, könnte das bedenkenswert – und bedenklich – finden.

Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen

  • Schaulaufen mit dem Kriegsfeind: Die Waffenindustrie trifft sich in Abu Dhabi zu einer ihrer größten Messen. Zwischen hochmodernem Kriegsgerät stellen auch Russen und Ukrainer ihre Produkte aus – während in Europa scharf geschossen wird .

  • Wo Arbeitnehmer besonders früh in Rente gehen – und wie viel sie bekommen: Dreiste Franzosen, genügsame Deutsche: Die Debatten über Rentenreformen lassen alte Klischees aufleben. Die Daten unterschiedlicher Staaten widerlegen einige davon und bestätigen andere .

  • In guten wie in schlechten Zeiten: Auf die jüngste Gewalt des Mullah-Regimes reagiert der Westen mit Sanktionen. Mit dem öko-linken Freiburg hält eine deutsche Stadt trotzdem an partnerschaftlichen Beziehungen zu einer iranischen Metropole fest. Warum? 

  • Gestörte Stadt. Gestörte Menschen: Und Belfast brennt immer noch: Jan Carson erzählt in ihrem besonderen Roman »Firestarter« von Irlands gewaltvoller Vergangenheit – und von zwei Vätern auf Identitätssuche .

Was heute weniger wichtig ist

Theo Waigel, 83, den Älteren unter uns noch als Finanzminister unter Helmut Kohl, den Ästheten unter uns noch als »der Mann mit den Augenbrauen« erinnerlich, legt keinen großen Wert darauf, in der Öffentlichkeit erinnert oder gar erkannt zu werden. Der »Augsburger Allgemeinen« erzählte er nun, vor einer Weile in Tirol angesprochen worden zu sein: »Sie sind aber nicht der Theo Waigel?«, worauf der Waigel verneinte. Darauf habe der Mann seinen Fehler erkannt, der Waigel sei »ja schon gestorben«, was der Waigel freudig bestätigte: »Sie haben recht – vor drei Jahren oder so«.

In dieser Anekdote, will mir scheinen, steckt eine kleine Lektion in Lebensweisheit. Es könnte auch Paranoia sein. Jedenfalls nötigt mir die Heiterkeit, mit der hier ein christsozialer Politiker und immerhin »Vater des Euro« die Restbestände seiner einstigen Bekanntheit auf dem Friedhof des Hörensagens entsorgt, über weltanschauliche Differenzen hinweg Respekt ab. Mindestens aber ein Lächeln.

Mini-Hohlspiegel

Von Dewezet.de

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Entdecken Sie hier noch mehr Cartoons

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Illustration: Klaus Stuttmann

Und heute Abend?

Wer Familie hat, kann in den Keller hinab- oder auf den Speicher hinaufsteigen, das Spiel »Risiko« aus dem Stapel mit den seit Jahrzehnten nicht mehr gespielten Spielen ziehen, den Staub von der Verpackung pusten – und mal wieder, Sie haben es erraten, »Risiko« spielen. Zwar sang der unvergleichliche Vic Chesnutt einst: »Board games are boring, may they rot on the shelf«, aber trifft das auch auf »Risiko« zu? In Zeiten, da das geostrategische »Great Game« in der Realität wieder eröffnet ist?

Natürlich kommt es auf die Variante an. Seit der Quatsch zu Beginn der Achtzigerjahre beinahe auf dem Index gelandet wäre, müssen gegnerische Armeen nicht mehr »vernichtet«, sondern nur »besiegt« werden. Wer früher fremde Länder »erobert« hat, darf sich heute »Befreier« nennen. Zu lernen wäre erstens, dass »Framing« in der Brettspielindustrie eine lange Tradition hat. Wir spielen noch die alte Variante, in der allerdings auch nicht von »unterjochen« und »brandschatzen« die Rede ist.

Kriegerisch bleibt’s trotzdem und auch ungerecht, wenn die alliierten Töchter sich gleich zu Beginn durch die Gnade der Karten im Besitz von ganz Nordamerika sowie Asien befinden. Alle Versuche, die geschmacklose Auseinandersetzung auf diplomatischem Wege zu beenden (»Unentschieden, okay? Und Pudding für alle?«), fruchteten leider nicht. Zu lernen war zweitens, dass die menschliche Natur offenbar auch am Spielbrett die menschliche Natur ist.

Zu beantworten wäre, drittens, die Charakterfrage, ob man ein Spiel wie »Risiko« in Zeiten riskanter Kriege überhaupt spielen sollte. Das mag jeder für sich beantworten. Schach jedenfalls ist in moralischer Hinsicht auch nicht auf der sicheren Seite...

Einen friedlichen Abend wünscht Ihnen Ihr

Arno Frank, Autor

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