Janko Tietz

Die Lage am Abend Das neue »Deutschlandtempo«-Limit

Guten Abend, die drei Fragezeichen heute:

  1. Reaktionen auf Einigung beim Koalitionsausschuss – fährt die Fortschrittskoalition auf neuen Autobahnen rückwärts?

  2. Das britische Königspaar in Deutschland – wie nah kommt man König Charles III.?

  3. He said, Xi said – besucht der chinesische Staatspräsident die Ukraine?

1. Fortschrittskoalition fährt auf neuen Autobahnen rückwärts

Bei Twitter ist mir ein Foto einer Demonstrantin begegnet, die ein Schild mit der Aufschrift trägt – »Gesucht: Klimakanzler, zuletzt gesehen: auf Wahlplakaten«. Das fasst relativ gut zusammen, wie zumindest einer der drei Partner der Ampel die Einigung beim Koalitionsausschuss bewertet: die Grünen. Gestern schrieb ich an dieser Stelle, dass der Koalitionsgipfel womöglich erst an Pfingsten erklommen sein könnte, weil die FDP bereits 2022 getroffene Verabredungen wieder infrage stellt. Da nahm ich an, dass die Grünen noch mehr kämpfen oder die FDP noch einlenkt.

Beides trat nicht ein. Die gestrige Einigung nach fast 50 Stunden Verhandlungen war mehr oder weniger ein Durchmarsch der sozialliberalen Zweierkoalition. Auch wenn die Polit-Prosa etwas anderes suggeriert: Das Klimaschutzgesetz ist aufgeweicht, die verbindlichen jährlichen Ziele für einzelne Sektoren wie Energie, Industrie, Verkehr oder Gebäude können sich gegenseitig ausgleichen. Für die jeweiligen Ministerinnen und Minister (looking at you, Volker Wissing) besteht kaum noch Handlungsdruck, sich anzustrengen – können ja die anderen übernehmen für ihn. Zudem ist das 16-seitige Einigungspapier so wachsweich formuliert, dass es in alle Richtungen interpretierbar ist.

Die Grünen reklamieren für sich, das Thema Neueinbau von Gasheizungen zu ihren Gunsten geregelt zu haben, FDP-Chef Lindner sagte dagegen, das Verbot sei »vom Tisch«. Die Grünen argumentieren, es würden keine neuen Autobahnen mehr gebaut, allenfalls »eine eng begrenzte Zahl von besonders wichtigen Projekten und Teilprojekten zur Engpassbeseitigung«, die FDP verweist auf 144 Projekte aus dem Bundesverkehrswegeplan, in dem sehr wohl neue Autobahnen enthalten sind.

Umweltexperten bewerten die Einigung als fatal. Der Geschäftsführer des WWF Deutschland, Christoph Heinrich, sprach von einem »Frontalangriff auf das Klimaschutzgesetz«, die Nichtregierungsorganisation Campact kritisierte, die Koalition »amputiert das einzig wirksame Klimaschutzinstrument aus den Zeiten der Großen Koalition«, der BUND griff Bundeskanzler Scholz direkt an. »Zwei Wochen nach der drastischen Warnung des Weltklimarates vom selbst ernannten ›Klimakanzler‹ keine Spur«, das Klimaschutzgesetz werde »weichgespült«.

Als Scholz sich heute im Bundestag befragen ließ, saß Wirtschaftsminister Habeck neben ihm auf der Regierungsbank. Man sah ihn körperlich leiden bei dem, was sein Chef an Antworten gab. Scholz sprach von »Tempo«, »Modernisierung« und »Beschleunigung«. Bei Gebäuden werde es »pragmatische« und »sehr zugewandte Lösungen« geben, »alle Aufgaben werden alle zielgerichtet« verfolgt. Jetzt komme das »Deutschlandtempo«. Ich habe das Wort »Scholzomat« lange nicht mehr gelesen, aber beim Zuhören kam es mir wieder in den Sinn. Allein als der Kanzler die Versäumnisse der »Konservativen in den vergangenen Jahrzehnten« monierte, konnte Habeck sich ein Grinsen nicht verkneifen.

Der Beschluss ist noch keine 24 Stunden alt, doch von einer Einigung kann wohl keine Rede sein. »Das, was wir beschlossen haben, das reicht noch nicht. Deshalb werden wir auch dranbleiben«, sagte die Grünen-Co-Chefin Ricarda Lang im Deutschlandfunk. Nach dem Koalitionskrach ist vor dem Koalitionskrach.

2. Der goldene Handschlag

Seit Monaten ist der Stab um Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier damit beschäftigt, das Protokoll für den Besuch von König Charles III. und seiner Gemahlin Camila zu erstellen. Allein das Briefing des Bundespresseamtes umfasst 15 Seiten. Alles ist minutiös geplant. (14:10 Uhr Ankunft auf dem Flughafen Berlin-Brandenburg, militärischer Teil – Bildtermin, begrenzte Zulassung –, 15:10 Uhr Begrüßung mit militärischen Ehren durch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Elke Büdenbender, Pariser Platz – Bildtermin, begrenzte Zulassung –, 15:45 Uhr Begrüßung durch den Bundespräsidenten und Frau Büdenbender, Schloss Bellevue, Schlosstreppe – Bildtermin, begrenzte Zulassung –, anschl. Gästebuch, anschl. Rede des Bundespräsidenten im Rahmen des Empfangs »Energiewende und Nachhaltigkeit«, Verabschiedung von König Charles III. durch den Bundespräsidenten, usw.).

Jetzt ist das britische Königspaar endlich da. Die beiden – sie in frühlingshaftem Hellblau, er mit blauer Krawatte – wurden am Nachmittag auf dem Hauptstadtflughafen BER mit Salutschüssen begrüßt, bevor ihr Tross zum Brandenburger Tor in die Innenstadt aufbrach. Dort warteten Hunderte Schaulustige auf die Chance, das Königspaar aus der Nähe zu sehen. So einfach ist das aber gar nicht – auch hier gilt offenbar, was für Pressevertreter gilt: begrenzte Zulassung. Um sich dem König nähern zu können, muss man sich einreihen und strikte Kontrollen über sich ergehen lassen. Meine Kollegin Anja Rützel hat das getan, ausgerüstet mit ihrem erprobten Höckerchen, das sie schon in London dabei hatte, als sie von der Beisetzung von Queen Elizabeth II. berichtete. Anja wird für Sie einen Text recherchieren, wie es ist, als Normalbürgerin etwas vom royalen Glamour mitzubekommen. So viel kann ich schon verraten: Wer aus der Schlange aufs Klo musste, muss sich wieder hinten anstellen.

Mein Kollege Hannes Schrader hingegen hat den aufwendigen Akkreditierungsprozess durchlaufen und klebt mehr oder weniger direkt an des Königs Fersen. Ihm können die rund 900 Beamten aus Spezialeinheiten des deutschen Bundeskriminalamts und Leibwächtern aus Großbritannien sowie Sprengstoffspürhunde egal sein. Am Ende brachte es nur nichts: Hannes verharrte auf einer Pressetribüne und sah kaum etwas, Anja hatte es dagegen bis in die erste Reihe der Zuschauer geschafft und ergatterte den goldenen Handschlag des Königs.

3. He said, Xi said

Als Chinas Staatspräsident kürzlich bei Russlands Machthaber Wladimir Putin zu Gast war, wollten beide die Welt glauben lassen, dass ihr Verhältnis 1A ist. Immerhin dauerte der Besuch drei Tage, dem Gast wurde der besonders prunkvolle Katharinensaal geöffnet, man unterzeichnete zahlreiche Abkommen. Doch ein Detail blieb aus: Xi verließ das Land, ohne öffentlich seine Unterstützung für Moskaus Feldzug gegen die Ukraine bekundet zu haben.

Dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj ist dieses Detail sofort aufgefallen. Putin habe keine Verbündeten, schloss Selenskyj im AP-Interview daraus. Er lud Xi Jinping zu einem Besuch in die Ukraine ein. »Wir sind bereit, ihn hier zu sehen«, sagte Selenskyj demnach. Es sei klar, dass China, das als Wirtschaftsmacht Moskau lange Zeit wohlwollend gegenüberstand, nicht mehr bereit sei, Russland zu unterstützen.

Selenskyj vermutete, dass Putins Ankündigung kurz nach Xis Besuch, taktische Atomwaffen nach Belarus zu verlegen, das näher am Nato-Gebiet liegt, davon ablenken sollte, dass der Besuch des chinesischen Staatschefs nicht gut verlaufen war. (Mehr zu Putins Vorgehen lesen Sie hier .)

Nach schweren Verlusten holt Russland US-Erkenntnissen zufolge unterdessen veraltete Panzer aus den Depots, von denen einige noch aus den Fünfzigerjahren stammen. »Die Bedrohung ist ständig, unsere Grenze wird ständig beschossen«, sagte Selenskyj in seiner allabendlichen Videoansprache über die Eindrücke seines Besuchs in der Region Sumy im Nordosten der Ukraine. »Aber das Leben und unsere Menschen sind offensichtlich stärker als alle Ängste.«

Und hier weitere Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:

  • »Adoptiert keine ukrainischen Waisenkinder, die illegal verschleppt wurden«: Fast 20.000 ukrainische Kinder wurden laut Kiew im russischen Angriffskrieg bisher deportiert. Nun richtet Vizepremier Wereschtschuk eine Botschaft an die Russinnen und Russen.

  • »Putin hat wahrscheinlich nicht verstanden, welche Auswirkungen dieser Schritt haben wird«: Warum will Russland taktische Atomwaffen in Belarus stationieren? Pavel Podvig, Experte für die russischen Atomstreitkräfte, sagt, was hinter dem Plan steckt – und warum Putin sich verkalkuliert haben könnte .

  • Was ist wichtiger – TikTok oder Munition für die Ukraine? Ein Munitionsfabrikant möchte in Norwegen mehr Geschosse für die Ukraine produzieren. Doch ein Rechenzentrum für TikTok nimmt ihm den nötigen Strom weg. Seine Beschwerde beschreibt das Jahr 2023 perfekt.

  • Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update

Podcast Cover

Was heute sonst noch wichtig ist

  • Robert Gallinowski ist tot: »Ach, Robert, Du wirst fehlen«: Der Schauspieler war in zahlreichen deutschen Krimiserien zu sehen, oft in der Rolle des harten Kerls. Nun ist Robert Gallinowski überraschend im Alter von 53 Jahren gestorben.

  • Gesetz zu Kinderehen ist verfassungswidrig: 2017 wurde das Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen erlassen. Doch nun hat das Bundesverfassungsgericht entschieden: Es verstößt gegen das Grundgesetz. Jetzt muss nachgebessert werden.

  • Deutsche Staatsschulden steigen auf 2,4 Billionen Euro: Coronapandemie und Energiekrise haben dem Staat viel abverlangt – auch finanziell. Die Staatsschulden sind mit 2,4 Billionen Euro auf einem Rekordhoch. Ökonomen warnen vor den Folgen.

  • Pistorius tauscht Spitze des Bundeswehr-Beschaffungsamtes aus: Zu langsam, zu bürokratisch, zu ineffektiv: Am Beschaffungsamt der Bundeswehr gibt es seit Langem Kritik. Nun zieht Verteidigungsminister Pistorius personelle Konsequenzen.

Meine Lieblingsgeschichte heute: Kommt Zeit, kommt Rad

Foto: Westend61 / Getty Images

Seit Kurzem beteiligt sich der SPIEGEL an der Initiative »Jobrad«. Man kann darüber ein Dienstfahrrad leasen und Steuern sparen. Eigentlich hatte ich erwogen, mir ein neues Bike darüber zuzulegen. Allerdings ein E-Bike, denn ich wohne 17 Kilometer vom Redaktionsgebäude entfernt. Nun habe ich das Interview mit Uwe Tegtbur gelesen, Direktor des Instituts für Sportmedizin an der Medizinischen Hochschule Hannover und Präsident des Sportärztebundes Niedersachsen. Und der sagt: »E-Biker haben mit Fahrradfahrern nichts zu tun.« Tegtbur hat Daten von insgesamt 1250 E-Bike- und 629 Fahrradfahrern und -fahrerinnen ausgewertet, um dem Vorurteil auf den Grund zu gehen, ob E-Bikes wirklich nur leistungsschwache Mopeds sind. Mehr noch: Ob E-Bikes sogar faul und träge machen würden. Seine Erkenntnisse werden Sie überraschen. Vielleicht so viel: Ich müsste kein schlechtes Gewissen haben, wenn ich mir ein E-Bike statt eines normalen Fahrrads anschaffe!

Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen

  • Elektroautos sind meistens günstiger als Verbrenner: E-Autos sind zu teuer – dieses Vorurteil hält sich hartnäckig. Dabei rechnet sich die Anschaffung laut einer Fraunhofer-Studie schon heute häufig, trotz des höheren Kaufpreises. Das hängt aber von mehreren Faktoren ab.

  • 720 Euro in München, 640 Euro in Berlin – für ein Zimmer: Im vergangenen Jahr wurden WG-Zimmer in deutschen Hochschulstädten deutlich teurer – und die Mieten steigen weiter, wie neue Zahlen zeigen. Warum es trotzdem Grund zur Hoffnung gibt .

  • Liebe Gestresste, dieser Text ist für Sie: Keine Zeit zu lesen? Diesen Text sollten Sie sich trotzdem gönnen – denn schon diese wenigen einfachen Methoden können Ihnen helfen, sich gegen Stress im Job zu schützen .

  • »Hinsetzen, nicht mehr aufstehen – das ist keine Option«: Bei der Leichtathletik-WM der Senioren hat Klemens Wittig bereits zwei Titel gewonnen. Hier erzählt der 85-Jährige von einem nervigen Fersensporn, dem Konkurrenzkampf und einem Traum, den er sich noch erfüllen möchte .

Was heute weniger wichtig ist

Unten durch in Down under: Der ehemalige US-Präsident ist gerade auf Welttournee. Am 3. Mai kommt Barack Obama, 61, nach Berlin. Dort wird er in der Mercedes-Benz-Arena im Bezirk Friedrichshain auftreten, wo bislang Superstars wie Genesis oder Taylor Swift auftraten. Es steht noch nicht fest, wen er in Deutschland aufs Korn nimmt. In Australien, wo Obama gerade vor 9000 Zuschauerinnen und Zuschauern sprach, hatte er sein Feindbild klar adressiert, beklagte Spaltung und Hass in der Gesellschaft, verkörpert durch Medienmogul Rupert Murdoch: »Da ist dieser Typ, den ihr kennen dürftet, Vorname Rupert, der für vieles die Verantwortung trägt…«

Mini-Hohlspiegel

Aus der »Mitteldeutschen Zeitung«

Aus der »Mitteldeutschen Zeitung«

Hier finden Sie den ganzen Hohlspiegel.

Cartoon des Tages

Entdecken Sie hier noch mehr Cartoons.

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Illustration: Klaus Stuttmann

Und heute Abend?

Schaue ich Fußball. Schon allein, um mich weiterzubilden. Denn gestern hatte ich geschrieben, dass Jupp Heynckes vor zehn Jahren zuletzt das berühmte Triple aus Meisterschaft, DFB-Pokal und Champions League für den FC Bayern München geholt hat. Die Lage am Abend war noch keine 60 Sekunden veröffentlicht, da kamen die ersten freundlichen Mails von Leserinnen und Lesern: Wie ich denn Hansi Flick unterschlagen könne. Der habe doch 2020 ebenfalls diese Meisterleistung vollbracht. Stimmt, hatte ich nicht mehr parat. Ich habe das korrigiert und gelobe Besserung.

Nun stehe ich vor einem kleinen Dilemma. Bayern München spielt heute nicht, da kann ich mich nicht weiterbilden. Was schaue ich dann? Das Länderspiel Argentinien – Curaçao war heut Nacht um 1:30 Uhr, das ist schon vorbei (Argentinien gewann mit 7:0. Der argentinische Superstar Lionel Messi erzielte übrigens sein 100. Tor im Trikot der Nationalmannschaft). Gleiches gilt für die U17-EM-Qualifikation der Frauen, Portugal – Deutschland. Das Spiel begann schon 16 Uhr. Blieben noch die Champions-League-Spiele der Frauen, FC Barcelona – AS Rom und FC Arsenal WFC – FC Bayern München. Die laufen allerdings nicht im öffentlich-rechtlichen Fernsehen.

Also müssen eventuell Sie und ich wohl mit dem Sachsenpokal-Spiel SG Dynamo Dresden – FSV Zwickau vorliebnehmen. Das läuft immerhin im Livestream des MDR. Und ich laufe keine Gefahr, irgendwas mit Triple durcheinanderzubringen. Denn beide Vereine sind davon in etwa so weit entfernt, wie Hansi Flick vom Weltmeistertitel.

Einen schönen Abend. Herzlich

Ihr Janko Tietz, Ressortleiter Deutschland/Panorama

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