
Die Lage am Abend Das ist ja kriminell

Guten Abend, die drei Fragezeichen heute:
Neue Zahlen aus der Polizeilichen Kriminalstatistik – ist der Anstieg der Straftaten wirklich besorgniserregend?
Verhaftung eines US-Journalisten in Russland – was wird Evan Gershkovich vorgeworfen?
Inflation in Deutschland – warum sinken die Verbraucherpreise so langsam?
1. Deutschland, ein Krimi-Land?
Die Polizeibehörden von Bund und Ländern haben im vergangenen Jahr deutlich mehr Straftaten registriert als in den Jahren zuvor. Damit kehrt sich in der Statistik der positive Trend zumindest auf den ersten Blick um. Nachdem die Zahl der Straftaten in den fünf Jahren zuvor jeweils niedriger gewesen war als im Vorjahr, stieg sie im Jahr 2022 um 11,5 Prozent auf bundesweit rund 5,63 Millionen Fälle an. Die Aufklärungsquote sank im gleichen Zeitraum um 1,4 Prozentpunkte auf 57,3 Prozent.
Bei der Gewaltkriminalität stellte die Polizei sowohl im Vergleich zum Vorjahr als auch im Vergleich zum Vor-Corona-Jahr 2019 eine Zunahme fest. Mit rund 197.000 Fällen gab es den Angaben zufolge 2022 fast 20 Prozent mehr Fälle als im Vorjahr und knapp neun Prozent mehr als 2019.
Die Zahlen wirken erschreckend, doch sie sind mit Vorsicht zu betrachten. Die Psychologin und Kriminologin Stefanie Kemme warnt, aufgrund dieser Statistik voreilige Schlüsse zu ziehen. »Von dramatischen Anstiegen zu sprechen, ist verfrüht«, sagt sie. Erfasst seien lediglich Straftaten, die angezeigt wurden oder von denen die Polizei auf anderem Weg erfahren habe. »Wenn die Polizei in bestimmten Deliktsbereichen stärker ermittelt, führt dies zu einer unmittelbaren Zunahme der Zahlen in der Statistik«, so Kemme. Das sogenannte Dunkelfeld würde nicht berücksichtigt. Wenn dort die Zahl der Straftaten sinkt, spiegelt sich das nicht in der Statistik wider. (Hier das ganze Interview .)
Ergebnisse der Dunkelfeldforschung konnten aber schon seit Ende der Neunzigerjahre eine Abnahme der Jugendgewalt nachweisen. Seit 2008 hätten die Jugendkriminalität und auch die Jugendgewalt kontinuierlich abgenommen, und auch die Gewaltdelikte der Kinder oder speziell der 12- oder 13-Jährigen nähmen seit Beginn der Nullerjahre ab, so Kemme. »Trotzdem wird immer wieder als Reaktion auf Zunahmen bestimmter Deliktsbereiche in der Statistik reflexartig nach Gesetzesverschärfungen gerufen.« Gerade besonders erschreckende Fälle wie der Mord an der 12-jährigen Luise in Freudenberg durch zwei etwa gleichaltrige Mädchen befeuern die Debatte. Kemme aber sagt: Freudenberg sei ein absoluter Einzelfall, kein Trend. »In den letzten Jahrzehnten kam es im Schnitt nur ein- bis dreimal jährlich vor, dass 12- bis 14-jährige Kinder Tatverdächtige wegen Mordes waren, inklusive der Versuche.«
Dass die übrigen Zahlen so hoch ausfallen, dürfte auch mit Corona zusammenhängen. Mein Kollege Philipp Kollenbroich hat darüber mit dem Experten Dietrich Oberwittler gesprochen, Wissenschaftler am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht. »Mit den Lockdowns sind die Menschen aus den Innenstädten verschwunden und damit auch die Straftaten«, sagt Oberwittler. Das gelte für alle Delikte. »Nach Ende der Lockdowns ist die Kriminalität ebenso schnell wieder zurückgekommen.«
Lesen Sie hier mehr: Der rätselhafte Anstieg der Jugendkriminalität
2. Schock in Moskau
Bei der Nachricht, dass der Russland-Korrespondent des »Wall Street Journal«, Evan Gershkovich, in Jekaterinburg vom russischen Geheimdienst FSB festgenommen wurde, bekam ich einen Schreck. Bei einer solchen Meldung denkt man sofort, es hätte jeden anderen Kollegen und jede andere Kollegin in Russland treffen können. Plötzlich rückt einem der Willkürstaat Russland persönlich näher, während er sonst für viele ein abstraktes Gebilde aus den Nachrichten bleibt. Gegen Gershkovich ist inzwischen ein Haftbefehl ausgestellt worden. Nach Angaben des FSB soll er auf Ersuchen der Vereinigten Staaten angeblich Informationen über ein Unternehmen des russischen militärisch-industriellen Komplexes gesammelt haben, die Staatsgeheimnisse darstellen. Er soll nach Medienberichten zu der Söldnertruppe Wagner und dem Ukrainekrieg recherchiert haben.
Gershkovich wird wohl mindestens bis zum 29. Mai in Untersuchungshaft bleiben müssen. Seinem Anwalt Daniil Berman wird der Zugang zum Gefängnis und dem Verfahren verwehrt. (Hier mehr dazu.)
Die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, erklärte auf Telegram, dass die Aktivitäten Gershkovichs »nichts mit Journalismus« zu tun gehabt hätten. Laut Kremlsprecher Dmitrij Peskow sei Gershkovich angeblich »auf frischer Tat« ertappt worden. Eine Pseudo-Begründung des Kreml, Putins Politik hat ja auch nichts mit Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zu tun. Für Menschen, die die Meinungs- und Pressefreiheit bis zur Unkenntlichkeit verstümmeln, ist natürlich jedes Telefonat eines Journalisten potenzieller Landesverrat.
Der Vorgang ist für westliche Korrespondenten ein Schock, weil er die Grenzen dessen erweitert, was ihnen droht. »Bisher fürchteten sie eher, wegen ›Diskreditierung der Armee‹ als wegen Spionage belangt zu werden, und die schärfste Strafe schien der Entzug der Akkreditierung und die Ausweisung«, sagt mein Kollege Christian Esch, der seit vielen Jahren für uns über Russland berichtet. »Jetzt geht es um Haft im berüchtigten Untersuchungsgefängnis des FSB. Die Einsätze sind drastisch gestiegen, ist das Signal aus Moskau.«
Der SPIEGEL berichtet weiterhin aus Moskau – und über Russland . Heute starten wir den neuen SPIEGEL Original Podcast »Putins Krieg im Netz«. In sechs Episoden erzählt er, was die #VulkanFiles enthüllen. Ein Whistleblower hat interne Pläne einer Firma verraten, die für Russlands Geheimdienste digitale Waffen baut. Die Recherche führt uns in die Ukraine. Aber die Hacker greifen längst weltweit an – auch in Deutschland. Und Ex-Mitarbeiter der Firma leben und arbeiten mitten in Europa. Jeden Donnerstag neu und mit SPIEGEL+ die nächste Folge schon eine Woche früher.
Und hier weitere Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:
Die Superkriegerin: Die ukrainische Sängerin Alina Pash will zugleich internationaler Popstar und Botschafterin ihrer kriegsgeplagten Nation sein. Kann das funktionieren?
Maschas Vater offenbar auf der Flucht gefasst: Seine Tochter malt ein Antikriegsbild, er wird zu zwei Jahren Straflager verurteilt – und setzt sich ab. Nun soll Alexey Moskaljow laut Medienberichten in Belarus festgenommen worden sein.
Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update
3. Wenn man das in D-Mark umrechnen würde...
Wie doch ein und dieselbe Zahl unterschiedliche Interpretationen zulässt: Die Verbraucherpreise stiegen im März um 7,4 Prozent gegenüber März 2022. »Die Inflationsrate macht im März einen großen Satz nach unten«, sagt Thomas Gitzel, Chefvolkswirt VP Bank. »Die Inflation in Deutschland verharrt trotz einer Abschwächung im März auf hohem Niveau«, textet dagegen die Nachrichtenagentur dpa.
Im Februar war noch eine Jahresteuerungsrate von 8,7 Prozent gemessen worden. Erstmals seit vergangenem August lag die Inflationsrate im März damit wieder unter der Acht-Prozent-Marke. »Das ist doch mal eine gute Nachricht: Die Inflation in Deutschland bildet sich zurück«, sagt auch Jörg Zeuner, Chefvolkswirt Union Investment. Ich finde aber eine Steigerung der Preise um 7,4 Prozent immer noch keine gute Nachricht. Denn der Rückgang basiert vor allem auf den gesunkenen Energiepreisen. Bei vielen wichtigen anderen Preisbestandteilen wie etwa Lebensmitteln, weiteren Gütern und Dienstleistungen zeigt der Trend nach wie vor nach oben. Die Preise für Nahrungsmittel stiegen im März wie bereits im Februar überdurchschnittlich stark. Im Februar hatte der Anstieg im Jahresvergleich 21,8 Prozent betragen, für März gehen die Statistiker sogar von 22,3 Prozent aus.
Für Verbraucherinnen und Verbraucher bedeutet die Entwicklung auch aus anderen Gründen keine Entlastung. Die Preise werden mit dem Niveau des Vorjahresmonats verglichen. Im März vergangenen Jahres waren die Verbraucherpreise um 5,9 Prozent im Jahresvergleich gestiegen. Gemessen daran fällt der aktuelle Anstieg höher aus.
In anderen EU-Ländern ist die Inflation noch stärker rückläufig als in Deutschland. Das spanische Statistikamt INE schätzte die Inflation im März in Spanien auf lediglich 3,1 Prozent, ausgedrückt im international vergleichbaren harmonisierten Verbraucherpreisindex. Das Statistische Bundesamt gibt diesen Index in seiner ersten Schätzung mit 7,8 Prozent an.
Es scheint also, als ob meine Kollegen Holger Dambeck, Claus Hecking und Maria Marquart vor einer Woche den Nagel auf den Kopf getroffen haben, als sie schrieben, dass der Einzelhandel womöglich die Verbraucher abzockt . Auch Isabel Schnabel, Vorstandsmitglied der Europäischen Zentralbank, sagte der Financial Times: »Ein Teil des hohen Inflationsdrucks könnte tatsächlich auf die größere Marktmacht der Unternehmen zurückzuführen sein.«
Lesen Sie hier mehr: Inflationsrate sinkt auf 7,4 Prozent
Was heute sonst noch wichtig ist
Wie Habeck die Zustimmung zum Autobahnausbau rechtfertigt: Haben die Grünen im Koalitionsausschuss zu stark nachgegeben? Wirtschaftsminister Habeck hat die Ergebnisse zum Autobahnausbau im »heute journal« verteidigt – und räumte ein: Es gibt einen Haken.
Linke kritisiert Auftritt von König Charles im Bundestag: »Hochgradig geschichtsvergessen«, »seltsam«, »absurd«: Die Linke poltert gegen den Auftritt des britischen Königs Charles im Bundestag. Ein Abgeordneter kündigt an, der Rede fernbleiben zu wollen.
Bundeswehr verzeichnet mehr Abgänge als neue Rekruten: Die Truppe schrumpft: Zum zweiten Jahr in Folge haben mehr Soldatinnen und Soldaten die Bundeswehr verlassen als neue dazukamen. Immer mehr quittieren den Dienst sogar vorzeitig.
VW lehnt Einigung zu möglicher Sklavenarbeit in Brasilien ab: Eine irre Wendung in der Konzerngeschichte von VW: Einst baute der Autobauer im Regenwald eine riesige Rinderfarm auf, mit Unterstützung der damaligen Militärdiktatur. Nun könnte das Projekt ein juristisches Nachspiel haben.
Meine Lieblingsgeschichte heute – so verheizen Sie am besten Ihr Geld

Derzeit beliebt: Installation einer neuen Gastherme
Foto: Jan Woitas / dpaSchon unter normalen Umständen hätte ich die Geschichte von Matthias Kaufmann gelesen: »Lohnt sich jetzt noch der Kauf einer Gas- oder Ölheizung?« Seit gestern herrscht bei mir allerdings besonders hoher Handlungsdruck, denn mitten in die Diskussion über die Heizungspläne der Ampel hat unsere Gasheizung nach 20 Jahren den Geist aufgegeben. Wir steckten mit unserer Hausgemeinschaft ohnehin in den Planungen, das alte Gerät in einem geordneten Verfahren auszuwechseln, haben uns über Erdsonde-Wärmepumpen schlaugemacht, mit erlaubnisfähigen Tiefenbohrungen beschäftigt, Wasserschutzregularien studiert, denn eine bestimmte »Schlufftonlage« in circa 50 Meter Tiefe darf keinesfalls durchbohrt werden. Nun hat uns das kaputte Gerät vor vollendete Tatsachen gestellt. In Matthias Text lese ich, dass man für eine neue Gasheizung etwa 5000 Euro einkalkulieren muss. Der Heizungsbauer unseres Vertrauens rief allerdings eine Summe von bis zu 30.000 Euro auf. Hat sicher nix mit Goldgräberstimmung zu tun. Ist bestimmt nur die normale Inflation...
Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Lohnt sich jetzt noch der Kauf einer Gas- oder Ölheizung?
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
Der Bürger*innenkrieg: Volksinitiativen, Klagen, Morddrohungen: Der Widerstand gegen Genderstern und Binnen-I wird härter. Warum ein Vater gegen das Gendern an der Schule seines Kindes jetzt sogar vor Gericht zog – und wie die Lehrkräfte kontern .
»Aus rechtsstaatlichen Gesichtspunkten fast schon kaltschnäuzig«: Marco Buschmann will die Hauptverhandlungen von Strafprozessen digital dokumentieren. Der Justizminister trifft bei Gerichten und Datenschützern aber auf teils enormen Widerstand. Auch die praktischen Hürden sind groß .
Ein jüdischer Staat in Bayern? Nirgends in Europa wurden so viele jüdische Kinder geboren, nirgends so viele jüdische Hochzeiten gefeiert wie in Föhrenwald in Oberbayern – und das nach 1945. Dann wurden alle Spuren des »letzten Schtetls« verwischt. Was war passiert?
Was heute weniger wichtig ist
Anziehend: Seit ein paar Wochen steht die Schauspielerin Gwyneth Paltrow, 50, vor Gericht, weil sie in einen Skiunfall verwickelt gewesen sein soll. Nun wird geklärt, ob sie Schuld daran trägt oder nicht. Allerdings trägt sie vor allem auffällige Klamotten bei dem Prozess. Meine Kollegen Maren Keller hat sich dem Phänomen »So diskutiert das Internet darüber« mal näher gewidmet – und kommt zu dem Schluss, dass ihr der Gerichtssaal als Laufsteg und Insta-Kulisse dient. Allein das von Paltrow benutzte Notizbuch kostet 250 Euro. Maren schreibt: »Es ist überall ausverkauft, wahrscheinlich von ihren Followerinnen und Followern.«
Mini-Hohlspiegel

Werbung vor einem Restaurant in Mönchengladbach
Hier finden Sie den ganzen Hohlspiegel.
Cartoon des Tages

Entdecken Sie hier noch mehr Cartoons.
Illustration: Klaus Stuttmann
Und heute Abend?
Könnten Sie sich »Nuhr im Ersten« anschauen. Der Satiriker Jan Böhmermann ließ in seiner letzten Sendung »Magazin Royale« den ARD-Kabarettisten Dieter Nuhr auf ziemlich fies-perfekte Art von Sebastian Rüger parodieren (Nuhr kam nicht besonders gut dabei weg...). »Von vorn bis hinten wurde das »Nuhr im Ersten«-Konzept als »Nuhr im Zweiten«-Verarsche umgesetzt, ohne dass man das Publikum vor dem Bildschirm vorbereitet hatte, was das Ganze soll«, schrieb mein Kollege Christian Buß nach Böhmermanns Verriss.
Nun bin ich neugierig, ob und wie Nuhr das kontert. Sein Repertoire ist normalerweise klar umrissen: gegen die Europäische Union, gegen Transsexualität, gegen Gendersensibilität, gegen Integrationspolitik – und das alles sehr holzschnittartig und auf Effekt haschend für das schenkelklopfende »Darüber wird man ja wohl noch lachen dürfen«-Publikum. Mal sehen, ob Nuhr in der Lage ist, auch das Florett zu fechten oder nur Stechbeitel kann.
Wenn Sie übrigens weder auf Böhmermann noch auf Nuhr stehen, lege ich Ihnen den Berliner Alleskönner Fil alias Philip Trägert ans Herz . Ich habe ihn vergangenen Freitag im Centralkomitee in Hamburg gesehen. Er ist »der lustigste Mensch der ganzen Welt«. Sage nicht ich, sagt das Internet.
Einen schönen Abend. Herzlich
Ihr Janko Tietz, Ressortleiter Deutschland/Panorama