
Die Lage am Abend Putins Schrumpelkanone
Guten Abend, das sind heute unsere drei Fragezeichen:
Militärparade in Moskau: Nagt der Krieg an Putins Panzershow?
Benin-Bronzen weiterverschenkt: Peinlich für Baerbock und Roth?
»Gierflation«: Drehen die Unternehmen heimlich an der Preisschraube?
1. Putins kleines Rohr
Mit einer Militärparade in Moskau hat Russland heute den Sieg über Nazideutschland im Zweiten Weltkrieg gefeiert. Allerdings bot sich im Vergleich zum Waffengeprotze früherer Jahre ein enttäuschendes Bild. Es gab deutlich weniger Soldaten zu sehen, weniger Militärfahrzeuge, so gut wie keine Kampfpanzer, keine Flugshow. Unsere Moskau-Korrespondentin Christina Hebel berichtet, dass auch viel weniger Zuschauer kamen. Nach der kürzlichen Drohnenattacke auf den Kreml habe eine eher nervöse als ausgelassene Stimmung geherrscht.
Wladimir Putin nutzte den Tag dennoch, um seinen Krieg gegen die Ukraine (»militärische Spezialoperation«) als Fortsetzung des Kampfs gegen den Faschismus darzustellen. Russland sei wieder das Opfer, es werde ein »echter Krieg« gegen die Heimat geführt, die Zivilisation stehe an einem Wendepunkt.
Den Westen attackierte Putin scharf: »Sie scheinen vergessen zu haben, wozu das Streben der Nazis nach der Weltherrschaft geführt hat – und wer dieses schreckliche, totale Böse besiegt hat.«
»Das Volk soll geeint werden durch die Rückkehr in die Vergangenheit«, analysiert unser langjähriger Moskau-Korrespondent Christian Neef . Außerdem belebe er nur zu gern die These vom äußeren Feind wieder, denn: »Das Beschwören der großen Kriegserfolge funktioniert nur, wenn man an das Bild Russlands als einer ständig belagerten Festung erinnert.«
Putin greife deshalb auf zwei von den Russen verinnerlichte Schlüsselwörter zurück: Faschismus und Nazismus. »Jeder Sowjetbürger, jeder Russe wuchs mit diesen Begriffen auf. ›Faschismus‹ oder ›Nazismus‹ waren Codes für das Böse.«
Putins Sprachrohre wie der TV-Moderator Wladimir Solowiow übernehmen dann die Aufgabe, die aktuellen deutschen Politiker nicht nur in die Nähe zu rücken, sondern sie in Nazis zu verwandeln. Etwa indem Solowiow vom »käuflichen Nazibastard Scholz« redet.
»Das ist Russlands Botschaft am 9. Mai 2023«, schreibt Neef.
Lesen Sie hier der Essay von Christian Neef: Putins Botschaft vom äußeren Feind
Sehen Sie hier das Video: Moskau, die nervöse Zone
Und hier weitere Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:
Putin stellt Russland als Opfer im Ukrainekrieg dar: Mit Spannung wurde Putins Rede zum »Tag des Sieges« erwartet. Vor Tausenden Soldaten rechtfertigte der russische Präsident darin den Ukrainekrieg. Dem Westen warf er vor, Russland zerstören zu wollen.
Luftangriffswarnung für zwei Drittel der Ukraine, Ex-Botschafter Melnyk kritisiert Nachfolger: In der Nacht gab es Luftalarm am Rande von Kiew. Andrij Melnyk findet scharfe Worte für seinen Nachfolger als Botschafter in Berlin. Und: Moskau vermutet Matsch als Grund für die ausbleibende Gegenoffensive. Die jüngsten Entwicklungen.
Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update
2. Benin-Bronzen: Eine Blamage für Baerbock und Roth?
Wie geht es weiter beim Thema Raubkunst aus Afrika? Seit am Wochenende bekannt wurde, dass Nigerias Noch-Präsident die von Deutschland zurückgegebenen Benin-Bronzen an die frühere Königsfamilie Benins weiterreicht, ist die Verwirrung groß. Landen die Kunstwerke jetzt in einer privaten Schatzkammer?
Das entspräche nicht den Vorstellungen von Bundesaußenministerin Annalena Baerbock und Kulturstaatsministerin Claudia Roth (beide Grüne), die Ende letzten Jahres eigens zu einem Staatsakt mit symbolischer Übergabe nach Nigeria gereist waren. Der Plan lautete: Die Bronzen sollten in einem noch zu errichtenden Museum in Benin City ausgestellt werden, dessen Bau vom deutschen Staat mit mehreren Millionen Euro unterstützt wird.
Stattdessen wird nun wohl Oba Ewuare II. entscheiden, wer die Kunstwerke künftig wann und wo zu sehen bekommt. Die Schweizer Ethnologin Brigitta Hauser-Schäublin schrieb in der »Frankfurter Allgemeinen« von einem »Fiasko«. Aus öffentlichem Gut werde exklusives Privateigentum. Es zeige sich, »wie leichtfertig formuliert die Vereinbarung zur Eigentumsübertragung zwischen Deutschland und Nigeria war«.
Das Auswärtige Amt hingegen teilte mit, die Verantwortung für die Benin-Bronzen liege in Nigeria. Die Rückgabe sei nicht an Bedingungen geknüpft worden. Beim Thema Bewahrung und Zugänglichmachung werde man sich nicht einmischen.
Das klingt vernünftig. Es wäre absurd, wenn Deutschland die Rückgabe geraubter Kunst mit Auflagen verbinden würde, wie der einst Bestohlene beziehungsweise dessen Nachfahren damit umzugehen hätten. Das wäre Neokolonialismus.
Doch dummerweise ist es genau das, was Baerbock und Roth mit ihrem Museumsplan bislang vorhatten: den Nigerianern zu sagen, wo die Kunst landen soll. Im »Sound der Überheblichkeit«, wie meine Kollegin Ulrike Knöfel kommentiert . »In Berlin darf man sich äußerst blamiert fühlen. Denn es sollte ja so aussehen, als habe man Nigeria vor der Eigentumsübertragung unmissverständlich klargemacht, wie es mit den Artefakten zu verfahren habe.«
Nun werde deutlich, dass dieses Klarmachen wie eine spätkoloniale Geste wirke.
Lesen Sie hier den Kommentar von Ulrike Knöfel: Sound der Überheblichkeit
3. Gierflation: Zocken uns die Unternehmen ab?
Warum ist in den Läden und Supermärkten fast alles so sprunghaft teurer geworden? Die Hersteller und Händler sagen: Wegen der steigenden Kosten bei Rohstoffen und Energie. Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit, wie die in den USA lehrende Ökonomin Isabella Weber sagt. Sie glaubt, dass ein Gutteil der Inflation auf die Gier der Unternehmen zurückzuführen ist, auf die Mitnahme übermäßiger Gewinne. Weber spricht von einer »Verkäuferinflation«.
Als die Wissenschaftlerin Ende 2021 vorschlug, die Inflation mit Preiskontrollen zu bekämpfen, wurde sie zunächst heftig kritisiert. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman schrieb »Einfach dumm« auf Twitter und löste einen Shitstorm gegen Weber aus. Später jedoch setzten mehrere Länder Webers Vorschlag in Form eines Energiepreisdeckels um. Und Krugman bat um Entschuldigung.
Mein Kollege Alexander Preker hat mit Weber über ihre neuesten Forschungsergebnisse gesprochen. Demnach sind die Gewinne von Starbucks, PepsiCo und General Motors deutlich stärker gestiegen als deren Kosten. Vor allem große Konzerne kassierten also ab.
Das müsse man sich aber nicht bieten lassen. Es sei ein gutes Zeichen, so Weber, »wenn große Handelsketten wie Edeka ankündigten, keine Mars-Produkte mehr zu führen«. Händler und Verbraucherschützer könnten eine Allianz eingehen, um gezielt Druck auf besonders preistreibende Unternehmen auszuüben.
Beim Einkauf könne man darauf achten, vor allem Eigenmarken der Händler zu kaufen. Allerdings seien auch diese teurer geworden, so Weber: »Wer schon immer zu Sachen im unteren Regalfach greifen musste, hat nun keine günstige Alternative mehr. Noch tiefer kann man nicht mehr greifen.«
Lesen Sie hier das Interview mit Isabella Weber: Bei welchen Produkten zocken uns die Unternehmen ab, Frau Weber?
Was heute sonst noch wichtig ist
Chinesische Investitionen in Europa fallen auf den tiefsten Stand seit 2013: Immer weniger EU-Firmen werden von chinesischen Investoren übernommen – dafür investiert Peking Milliarden in den Bau neuer Fabriken in Europa. Eines der wichtigsten Zielländer für Geld aus der Volksrepublik ist Ungarn.
Budweiser-Absatz bricht nach rechtem Shitstorm ein: Werbung einer Transgender-Influencerin für die Biermarke Bud Light hat in rechten US-Kreisen eine Welle der Wut ausgelöst. Der Bierabsatz brach ein – und nun zeigt die Konzernführung wenig Rückgrat.
Sachverständige empfehlen Aufnahme von Klimaflüchtlingen: Welche Verpflichtungen hat Deutschland gegenüber Klimaflüchtlingen? Ein unabhängiges Beratergremium der Bundesregierung hat dazu nun Vorschläge entwickelt. Im Zentrum der Idee: ein »Klima-Pass«.
Mutmaßlich rassistischer Übergriff – Berliner Schüler sollen psychologische Hilfe erhalten: Bei einer Klassenfahrt in Brandenburg soll es zu rassistischen Anfeindungen gekommen sein. Eine Berliner Senatsverwaltung bietet betroffenen Schülerinnen und Schülern nun Unterstützung an – Politiker fordern Aufklärung.
Meine Lieblingsgeschichte heute: Toniebox und Kinderlieder

Irina Heß / plainpicture
Als ich heute vor 21 Jahren zum ersten Mal Vater wurde, glaubte ich tatsächlich, ich könne Einfluss auf den Musikgeschmack meiner Kinder nehmen. Ich beschallte meinen Sohn mit Songs, die mir hörenswert erschienen, von Slint bis Slayer, spielte ihm Morrissey und Joy Division vor und zum Einschlafen Neil Young. Das funktionierte so lange, bis mein Sohn lernte, sein eigenes Abspielgerät zu bedienen, also mit spätestens zweieinhalb Jahren. Sein Bedarf an meiner Musik hielt sich fortan in sehr überschaubaren Grenzen.
Mein Kollege Julius Fischer , Jahrgang 1984, befindet sich nun offenbar in genau jener schmerzvollen Vaterphase, in der er feststellt, dass sein Sohn von den Beatles und den Fleet Foxes nichts wissen will, sondern 50 Mal nacheinander den ersten Track von »König der Löwen« hört. Oder die 20 schönsten Tierlieder vom Schwein für die Toniebox. Oder ein Album namens »MC Biber beim Freestyle-Battle«.
Julius’ Kolumne endet so: »Ein unangenehm kratzendes Geräusch reißt mich aus meinen Gedanken. Das große Kind hat die Platte vom Teller gerissen und eine Paw-Patrol-Figur draufgestellt, die nun schlingernd Karussell fährt. Außerdem hat es aus alter Gewohnheit das Schwein wieder angemacht. Das Baby zerbricht die Beatles-Platte. Ich hole meine Noise-Cancelling-Kopfhörer aus dem Regal und starte die Baby-Sleep-Playlist. Gleich werde ich schlafen. «
Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Das Schwein auf der Toniebox und mein Traum vom Rammsteinchen
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
Warum die Wirtschaftskrise Erdoğan den Sieg kosten könnte: Inflation, Kapitalflucht, Repressionen gegen Unternehmer – die Türkei steckt in einer schweren Wirtschaftskrise. Strafen die Bürgerinnen und Bürger Präsident Erdoğan bei den Wahlen am 14. Mai dafür ab ?
Vom Glück des Verlierens: Umarmt die Misere! Jan Böhmermann singt in einer ESC-Hommage darüber, wie euphorisierend null Punkte sein können. ABC und Frankie Goes to Hollywood geben Anschubhilfe .
Chef der Steuergewerkschaft soll bei Reisekosten betrogen haben: Das hessische Finanzministerium hat Strafanzeige gegen den Landeschef der Steuergewerkschaft, Michael Volz, erhoben: Es geht um Fahrtkosten und Dienstreisen während Krankschreibungen. Volz sieht sich als Opfer einer Intrige .
Zeuginnen mit Zeichenstift: Mörder, Gangster, Mafiosi: Seit mehr als 30 Jahren porträtieren Shirley Shepard und ihre Tochter Andrea die schillernden Figuren, die sich im Netz der New Yorker Justiz verfangen. Die Trump-Prozesse halten sie auf Trab .
Was heute weniger wichtig ist
Nahkampf: Mark Zuckerberg, 38, hat bei seinem ersten Wettkampf in Brasilianischem Jiu-Jitsu eine Gold- und eine Silbermedaille gewonnen. Der Facebook-Gründer und Multimilliardär postete Fotos von seinem Erfolg auf Instagram. Conor McGregor, ehemaliger Champion im Ultimate Fighting, kommentierte den Beitrag mit »Yo!!! F***ing awesome Mark«. Zuckerberg hat die Sportart, bei der es vor allem um Bodenkampf geht, während der Coronazeit für sich entdeckt. Auch die Schauspieler Ashton Kutcher, Jason Statham und Tom Hardy praktizieren Brasilianisches Jiu-Jitsu.
Mini-Hohlspiegel

Aushang an einem Restaurant-Café in Mannheim
Hier finden Sie den ganzen Hohlspiegel.
Cartoon des Tages

Entdecken Sie hier noch mehr Cartoons.
Illustration: Klaus Stuttmann
Und heute Abend?

Gesprächspartner Waters, Mendel
Foto: Andrea Artz / DER SPIEGELPink-Floyd-Mitgründer Rogers Waters ist auf Tournee durch Deutschland. Am Sonntag spielte er in Hamburg, heute ist er in Köln, demnächst in Berlin, München und auch in Frankfurt am Main, wo die Stadt und das Land Hessen vergeblich versucht haben, das Konzert zu verbieten. Mit seinem Ex-Bandkollegen David Gilmour ist Waters zerstritten. Trotzdem spielt er natürlich die ganzen großartigen Pink-Floyd-Klassiker: »Comfortably Numb«, »Wish You Were Here«, »Money«.
Dass ich mir keine Karte gekauft habe, liegt daran, dass ich Waters’ politische Tiraden nicht ertrage. Er ruft zum Boykott Israels auf, bezeichnet alle US-Präsidenten seit Ronald Reagan als Kriegsverbrecher, äußert Verständnis für Putin, der von der Nato provoziert worden sei. »Wie der Onkel, der auf Familienfeiern Verschwörungsmythen verbreitet«, sagt mein Kollege Arno Frank , der Waters vor einigen Wochen getroffen hat, zusammen mit Meron Mendel von der Bildungsstätte Anne Frank.
Im Streitgespräch im Mendel sagte Waters: »Ich bin kein Antisemit.« Doch das kaufe ich ihm nicht ab, wenn ich sehe, wie gerne er antisemitische Klischees bedient, von angeblicher »Apartheid« in Israel spricht und früher ein aufblasbares Schwein mit Davidstern über seiner Bühne schweben ließ.
Aber ist es denn in Ordnung, wenn ich weiter seine Platten höre? Hier greift, so meine Ansicht, die Trennung von Werk und Künstler. Ich höre mir ja auch Opern von Richard Wagner an, obwohl er mit fortschreitendem Alter zum Antisemiten wurde.
Oder ist es Doppelmoral? Wie sehen Sie das? Schreiben Sie mir gern: alexander.neubacher@spiegel.de
Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.
Ihr Alexander Neubacher, Leiter Meinung und Debatte