
Die Lage am Abend Die Reichen und die Rechten

Guten Abend, die drei Fragezeichen heute:
Reiche Bürger: Warum steigt die Zahl der Millionäre, auch in Deutschland?
Reichsbürger: Wie groß ist die Gefahr durch Rechtsextreme?
Es-reicht-Bürger: Warum eskalieren in Serbien die Corona-Proteste?
1. Brecht und billig: Sind so viele Millionäre
Wenn es um Reichtum, Kapitalismus, Ungerechtigkeit geht, da kann ein Marx-Zitat nicht weit sein. Hier steht es schon im nächsten Satz: "Man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt!" Aber wie klingt diese Melodie eigentlich?
Leider oft sehr bürokratisch, wie mein Kollege Benjamin Bidder aus dem Wirtschaftsressort einmal mehr erfahren hat, als er ein Papier (in Wahrheit ein PDF) mit dem sperrigen Namen "World Wealth Report" durcharbeitete. "Millionäre werden da als HNWI bezeichnet, High Net Worth Individuals", sagt Benjamin, "das zeigt schon, dass es da um eine etwas abgehobene Sphäre geht." Sein Bericht setzt die Dinge ins Verhältnis:
Von den 83 Millionen Deutschen haben gut 1,4 Millionen ein Vermögen von einer Million Dollar oder mehr (US-Währung, weil international besser vergleichbar).
Somit ist jeder 57. Deutsche Millionär.
Die Zahl der Millionäre in Deutschland stieg letztes Jahr um 8,6 Prozent, die Wirtschaftsleistung aber nur um 0,6 Prozent.
In den USA gibt es 600.000 mehr Millionäre als im Jahr zuvor, insgesamt 5,9 Millionen.
Somit ist jeder 55. US-Amerikaner Millionär.
Weltweit stieg die Zahl der Millionäre um etwa neun Prozent.
Die Reichen werden reicher, auch dieser Trend setzt sich fort. Die Verhältnisse, sie sind halt so. Frei nach Brecht, der darf auch nicht fehlen, wenn es um Reichtum, Kapitalismus, Ungerechtigkeit geht. Klingt meist auch besser als Marx.
Hier finden Sie den Überblick: Zahl der deutschen Dollarmillionäre steigt weiter
2. Der Rechts-Staat?
"Die größte Bedrohung für die Sicherheit in Deutschland", so schätzt Horst Seehofer die Gefahr ein, die von Rechtsextremisten, Antisemiten und Rassisten ausgeht. Gesagt hat er das heute, als er zusammen mit dem obersten Verfassungsschützer den Jahresbericht der Behörde vorstellte (Details lesen Sie hier).
Es sprach dort derselbe Innenminister, der nicht so gern untersuchen lassen möchte, ob Rassismus in der Polizei grassiert. Der sich, wie unsere Kolumnistin Samira El Ouassil schreibt, "offenbar gerade seine ganz eigene Cancel Culture gönnt". Die "Seehofereinfachung" funktioniert laut Samira so: Rassismus ist verboten, also gibt es ihn in den Behörden nicht.
Ein Blick allein auf die heutige Berichterstattung lässt die Zweifel an dieser Logik zum Widerstand wachsen:
Die Vorsitzende der Linksfraktion im hessischen Landtag, Janine Wissler, hat erneut Todesdrohungen bekommen. Die Spur führt zu Computern der Polizei. Ein Beamter wurde vernommen, weil seine Kennung für die Adressabfrage benutzt wurde.
Indizien legen nahe, dass der Asylsuchende Oury Jalloh vor 15 Jahren durch Gewalteinwirkung in einer Polizeizelle starb. Noch immer ist der Fall nicht aufgeklärt: Erst blockierte das Justizministerium, jetzt sperren sich Zeugen.
Schon die Frage, ob es ein Problem mit rassistischer Polizeigewalt gibt, halten manche für unanständig. Sie unterbinden die Debatte gern mit einem im Kern unpolitischen Argument, wie mein Kollege Jonas Schaible bereits vor einiger Zeit analysierte - dem Vorwurf des "Generalverdachts". Man schüre nur Misstrauen.
Dabei ist es umgekehrt: Die Erkenntnis, wie groß oder klein die Gefahr durch rechtsextreme Beamte ist, schafft Vertrauen in den Rechtsstaat. Die Institutionen bewiesen Transparenz und den Willen zur Selbstheilung. Vielleicht sollte Seehofer seiner Kollegin Annegret Kramp-Karrenbauer genauer zuhören. Sie hatte nach dem KSK-Debakel an die Soldaten appelliert: Jeder Einzelne muss entscheiden, ob er Teil der Lösung werden oder Teil des Problems bleiben will.
Lesen Sie hier die ganze Kolumne: Seehofer gönnt sich Cancel Culture
3. Politische Hygienedemo für die EU: In Serbien kocht die Wut über
Beim schnellen Zappen durch die Nachrichten, beim Wischen durch Twitter auf dem Handy waren in den vergangenen Tagen brennende Autoreifen zu sehen, prügelnde Polizisten, aufgebrachte Demonstranten, die das Belgrader Parlament stürmen. Die Corona-Proteste in Serbien eskalieren - so oder ähnlich las es sich. Nicht falsch, aber eben auch nicht die ganze Wahrheit.
Denn wie so oft ist die Welt komplizierter als der erste Eindruck: In Serbien drehten nicht einfach Verschwörungstheoretiker frei, es geriet keine Hygienedemo gegen drohende Ausgangssperren außer Kontrolle, es steht viel mehr auf dem Spiel, wie mein Kollege Jan Puhl aus dem Auslandsressort erklärt.
Zwar diffamiert Präsident Aleksandar Vucic die Demonstranten als durchgeknallt und tönt martialisch: "Serbien wird siegen." (Funfact: Der Mann diente einst Milosevic als Propagandaminister.) Doch nur vordergründig geht es um die Seuche. Tiefer Frust hat sich ausgebreitet "über das zunehmend autoritäre Regime der Vucic-Partei SNS, die das EU-Kandidatenland immer weiter nach Osten statt nach Westen führt", analysiert Jan.
"Natürlich sind bei den Protesten Spinner dabei", sagt er. Aber zur Wahrheit gehöre auch: Viele Demonstranten wollen ihr Land näher an die EU heranrücken, sie kämpfen gegen Korruption, sie fürchten Vertuschung und Willkür der herrschenden Klasse. Auch ihr Ziel ist Hygiene, aber eben politische.
Lesen Sie hier die ganze Analyse: Brandbeschleuniger Corona
Meine Lieblingsstory heute: Black Views Matter
Im Journalismus gibt es die Regel: Hund beißt Mann - das ist keine Geschichte. Mann beißt Hund - das ist eine Geschichte. Das Besondere, Ungewöhnliche zu erzählen, gehört zu unseren Aufgaben. Ein Fotograf wird zum Star, die Leute interessieren sich nicht mehr nur für seine Bilder, sondern für ihn - er tritt hinter der Kamera hervor. Das klingt nach einer Geschichte.

Bitte recht grimmig
Foto:Tyler Mitchell
Tyler Mitchell ist 25 Jahre alt und der erste Schwarze, der für die "Vogue" Titelbilder fotografiert; Beyoncé ließ sich von ihm in Szene setzen. Meine Kolleginnen Trisha Balster, Ulrike Knöfel und Eva Thöne aus dem Kulturressort erzählen die Geschichte dieses besonderen jungen Mannes, der große Kunst und Instagram miteinander versöhnt. "Er ist einer, der die Bildwelten und Bewegungen des Internets aufsaugt und modifiziert", schreiben die Kolleginnen .
Als Modefotograf trägt er die Widersprüche einer Generation in sich, die sich konsumfeindlich und politisch gibt, doch exzessiv konsumiert. Sie beschreiben Mitchell aber auch als "wütenden Kämpfer, den der Wahlsieg von Donald Trump 2016 geprägt hat und der dem reaktionären Backlash in den USA etwas entgegensetzen will".
Der Instagram-Algorithmus spülte die Mitchell-Fotos auf Trishas Mobiltelefon, so fiel ihr der Fotograf auf. "Weil mir die starken Bilder nicht aus dem Gedächtnis gingen, habe ich mir auch den Namen gemerkt", sagt sie. Es gebe immer eine politische Ebene in den Fotos, selbst wenn er Mode fotografiert oder Reklame macht. Mitchell will mit dem Auslöser etwas auslösen.
Die ganze Geschichte lesen Sie hier: Seine Wut
Was heute sonst noch wichtig ist
US-Justiz darf Trumps Finanzunterlagen einsehen: Donald Trump weigert sich seit Jahren, seine Finanzunterlagen herauszugeben. Nun hat das Oberste Gericht entschieden, dass ein Staatsanwalt die Dokumente einsehen darf - der US-Kongress aber vorerst nicht.
Firmen sollen Geheimdiensten beim Installieren von Staatstrojanern helfen: Die Regierung will Telekommunikationsanbieter in die Pflicht nehmen - etwa indem sie dem Verfassungsschutz helfen, Überwachungssoftware auf Geräte von Verdächtigen zu spielen. Die Branche und die Opposition protestieren.
Weniger Studierende, mehr Probleme: Den britischen Topunis fehlen wegen der Pandemie Zehntausende ausländische Studierende - und mit ihnen viel Geld. Das könnte besonders die ohnehin schwachen Regionen treffen. Und zum Problem für Premier Johnson werden.
Alexander Falk zu viereinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt: Hat der Unternehmer Männer angeheuert, um einen unliebsamen Anwalt zu verletzen? Das Frankfurter Landgericht sieht das so - und hat den Angeklagten nun schuldig gesprochen.
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
Die Angst vor dem Ende des Blockbusters: Amerikas Filmindustrie verliert durch die Coronakrise Milliarden. Trotzdem werden Blockbuster wie Christopher Nolans "Tenet" immer wieder verschoben. Schuld ist die Gier der Branche .
Wie Eltern die Sprachentwicklung ihrer Kinder fördern können: Je mehr Wörter Kinder von ihren Eltern hören, umso besser entwickelt sich ihr Gehirn. Vorlesen gilt als besonders nützlich - doch entscheidend ist etwas ganz anderes .
Sorge dich nicht, bade! Der Schweizer Autor Fabio Andina erzählt in seinem Roman "Tage mit Felice" aus dem Alltag eines 90-jährigen Eigenbrötlers. Ein Besuch am Ort des Geschehens .
Der Traum von der perfekten Burg: Das Erbauen von Festungen war im Mittelalter handwerkliche Meisterarbeit, die sich Experten teuer bezahlen ließen. Oft überstieg die Anzahl der Arbeiter die der Bewohner .
Was heute nicht ganz so wichtig ist

AFP / Jure Makovec
First Lady on Fire: Ob der brenzligen Lage in den USA wird Donald Trump, 74, immer wieder als Brandstifter bezeichnet, von uns sogar als Feuerteufel. Jetzt ist eine Holzstatue seiner Frau Melania, 50, in Flammen aufgegangen. Die als Vogelscheuche verspottete Skulptur stand in ihrem Geburtstort in Slowenien. Die Täter? Laut Polizei "unbekannte Vandalen".
Shower-Geschichte: Kanye West, 43, selbst erklärter Anwärter auf die US-Präsidentschaft, will seine Partei "Birthday Party" nennen, wie er via "Forbes"-Interview kundtat. Ob er wirklich kandidiere, will er binnen 30 Tagen entscheiden; die Idee anzutreten sei ihm unter der Dusche gekommen. "Wenn wir gewinnen, ist das ein Geburtstag für jeden."

KENA BETANCUR/ AFP
Bat and win: Javicia Leslie, 33, spielt die neue Batwoman in der gleichnamigen Serie, nachdem vor zwei Monaten die bisherige Darstellerin Ruby Rose, 34, Federn gelassen und überraschend hingeworfen hatte. Die Nachfolgerin lässt verlauten: "Ich bin sehr stolz darauf, die erste schwarze Schauspielerin zu sein, die im Fernsehen die legendäre Rolle spielt, und als bisexuelle Frau fühle ich mich geehrt."
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: "Wenn Panzersoldaten im Altenheim 'Mensch ärgere dich' nicht spielen"
Cartoon des Tages: Immer diese Geisterfahrer

Und heute Abend?
Vielleicht den neuen Tom Hanks gucken. Mein Kollege Lars-Olav Beier findet zwar, das Weltkriegsepos "Greyhound" havariert auf Apple TV+. Aber mich als Nicht-Cineasten überzeugt schon, dass der Film nur 90 Minuten dauert. Das könnte ich schaffen, bevor ich einschlafe.
In diesem Sinne: erst Abendbrot verdrücken, dann Schiffe versenken.
Ihnen einen schönen Abend. Herzlich,
Ihr Oliver Trenkamp
PS: Noch eine Bitte zum Schluss, falls Sie nicht gestern schon mitgemacht haben: In dieser Umfrage können Sie uns Ihre Meinung zur "Lage am Abend" sagen, es dauert nur drei Minuten und ist anonym. Danke!
PPS: Wenn der SPIEGEL Sie anschreiben darf, um Sie auch in anderen Dingen nach Ihrer Meinung zu fragen, können Sie sich hier für unsere Umfragen anmelden. Danke noch mal!
PPPS: Hier können Sie die "Lage am Abend" bestellen.
Anmerkung: In einer früheren Version dieses Textes hieß es, Seehofer wolle den Lagebericht über Rechtsextreme im Staatsdienst nur in eingeschränkter Version vorlegen lassen. Das ist in der Form nicht ganz richtig. Zumal er am Donnerstag ankündigte, das Bundesamt für Verfassungsschutz werde noch in diesem Jahr ein Lagebild über Extremisten im öffentlichen Dienst vorlegen. Wir haben den Satz gestrichen.