
Die Lage am Abend Der Mut zur Rebellion

Guten Abend, die drei Fragezeichen heute:
Ist die Berliner SPD undankbar gegenüber ihrem Regierenden Bürgermeister?
Haben Russlands Regimekritiker den gefährlichsten Job der Welt?
Darf Billie Eilish bald einen Präsidenten ihrer Wahl im Weißen Haus besuchen?
1. Ist die Berliner SPD undankbar gegenüber ihrem Regierenden Bürgermeister?
Wenn man selbst in einer gesitteten Stadt wie Hamburg lebt wie ich und nur gelegentlich Berlin besucht, fragt man sich oft, warum die Bewohnerinnen und Bewohner der Hauptstadt so stolz auf ihre ruppigen Umgangsformen wirken. Zunächst kam es mir deshalb wie eine grobe, typisch Berliner Unhöflichkeit vor, dass der Regierende Bürgermeister Michael Müller in seiner eigenen Partei, der SPD, nun um seine Aufstellung als Kandidat für den Bundestagswahlkampf im Wahlkreis Charlottenburg-Wilmersdorf kämpfen muss. Sollten die SPD-Leute dem Mann nicht dankbar sein, der zwar bisweilen als Langweiler verspottet wird, aber wegen seiner soliden Arbeit durchaus eine Menge Ansehen genießt?
Tatsächlich hat Sawsan Chebli, die Frau, die gegen Müller nun in einem innerparteilichen Konkurrenzkampf antritt , dafür ein paar gute Argumente. Zum Beispiel hat sie lange vor Müller angekündigt, dass sie in ihrem Heimatwahlkreis kandidieren wolle. Wie mein Kollege Christian Teevs schreibt , prallen in dem Duell zwischen Regierungschef Müller und seiner Staatssekretärin Chebli diverse Welten aufeinander: Eine junge Frau tritt gegen einen nicht mehr jungen Mann an, eine Aufsteigerin gegen ihren Förderer, die neue gegen die alte SPD.
Um jemanden zu überholen, so hat der Filmemacher Francois Truffaut mal gesagt, müsse man zwangsläufig dessen Fußstapfen verlassen und eigene Wege gehen. Insofern lässt sich die SPD-Politikerin Chebli ganz zu Recht nicht beirren von den Bedenken, die aus der Bundes-SPD gegen den Machtkampf im Wahlkreis zu hören sind. "In der Spitze der Berliner aber auch der Bundes-SPD würden aber viele auf diese Art Wahlkampf lieber verzichten", sagt der Kollege Teevs. "Sawsan Chebli scheut den Konflikt nicht. Sie trat im Gespräch sehr selbstbewusst auf und glaubt nach meinem Eindruck wirklich an ihre Chance gegen Müller. Der ist natürlich Favorit, aber allein dass seine Staatssekretärin gegen ihn antritt, sieht nicht gut aus für den Regierenden."
Lesen Sie hier die ganze Geschichte: "Darf man das? Antreten gegen den Chef?"
2. Haben Russlands Regimekritiker den gefährlichsten Job der Welt?
Ich bewundere Menschen, die den Mut haben, öffentlich die Mächtigen ihres Landes zu kritisieren, obwohl sie wissen, dass sie diese Kritik ihre Freiheit, ihren Beruf und sogar ihr Leben kosten kann. Vor ein paar Jahren war ich mit dem Theatermacher Milo Rau in Moskau, wo er für sein Theaterspektakel "Moskauer Prozesse" einige prominente Menschen, die mit der russischen Jusitz aneinandergeraten waren, in einem Schauprozess auftreten ließ. Damals traf ich unter anderem die Pussy-Riot-Aktivistin Jekaterina Samuzewitsch, die den schönen Satz formulierte, dass man in ihrem Land selbst über den Zustand der Redefreiheit eigentlich nur im Gerichtssaal reden könne.
Die Nachricht, dass der russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny vermutlich ohne Bewusstsein im Notfallkrankenhaus Nr. 1 der sibirischen Stadt Omsk liegt, die Ärzte nennen seinen Zustand "ernst", ist ein Schock für die Millionen von vor allem jungen russischen Followern, die Nawalny in seinem politischen Kampf gegen Korruption und die Bereicherung der Eliten unterstützen.
Auch wenn die genauen Ursachen von Nawalnys schlechtem gesundheitlichen Zustand noch unklar sind, so muss man leider feststellen, dass Kremlkritiker sehr gefährlich leben. Seit 2006 die Reporterin und Menschenrechtlerin Anna Politkowskaja in Moskau ermordet wurde und man im selben Jahr den Ex-KGB-Agenten Alexander Litwinenko in London mit strahlendem Polonium umbrachte, haben zahlreiche Gegner von Vladimir Putins Herrschaftsapparat über Anschläge und Bedrohungen berichtet.
Auf den Juristen Nawalny sind nach dessen Darstellung zuvor schon mehrere Attacken verübt worden, vor einem Jahr musste er während einer Haftstrafe in einem Krankenhaus angeblich wegen eines Allergieschocks behandelt werden. Meine Kollegin Christina Hebel sagt: "Nawalny ist der führende Oppositionspolitiker in Russland, einer der schärfsten Kritiker des Kreml. Er ist so unbequem für Putins Machtsystem, weil er es nicht nur schafft, Tausende Menschen zu Protesten zu versammeln, trotz der Repressionen im Land, sondern auch immer wieder die Mächtigen vorzuführen." Regelmäßig veröffentlicht Nawalny Videos auf YouTube zu den Besitztümern und Vermögen führender Politiker, Funktionäre und Geschäftsleute des Landes und macht so Korruption in Russland öffentlich. "Ihm und seinen Mitstreitern", sagt Hebel, ist es gelungen, "in den sozialen Medien eine echte Gegenöffentlichkeit aufzubauen."
Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Russischer Kremlkritiker im Koma
3. Darf Billie Eilish bald einen Präsidenten ihrer Wahl im Weißen Haus besuchen?
Ich war gerührt, als der Musiker Bob Dylan, angetan mit Fliege und Sonnenbrille, vor neun Jahren im Weißen Haus vom US-Präsidenten Barack Obama die "Presidential Medal of Freedom" umgehängt bekam. Da war der Held von mehreren musikbegeisterten Generationen noch nicht Literaturnobelpreisträger, aber immerhin auch schon 71 Jahre alt. Der Sängerin Billie Eilish, die immer noch erst 18 Jahre alt ist und trotzdem schon als Idol einer Generation durchgeht, wünsche ich, dass sie die Freiheitsmedaille schon in naher Zukunft bekommt.
Es war jedenfalls ein berührender, angenehm unglamouröser Auftritt, der Eilish beim virtuellen Parteitag der amerikanischen Demokraten gelang. Mir gefällt es, wie sich die Sängerin, die mal sagte, dass sie sich immer schwach fühle, wenn sie ein Lächeln zeigen müsste, als von der Wichtigkeit der Politik überzeugte Sprecherin aller ernsten, vernunftbegabten jungen Menschen begreift.
"Für mich hat Billie Eilish die Rolle als Stimme ihrer Generation auf dem Parteitag sehr überzeugend gespielt", sagt mein Kollege Felix Bayer, der den Auftritt der Sängerin analysiert. Als Billie Eilish neulich in einem Werbespot davon sprach, wie sehr es nerve, dass Menschen ihres Alters immer gefragt würden, was sie da eigentlich auf ihren Handys machen, fühlte Bayer sich ertappt. "Das hätte genauso von meiner Tochter stammen können."
Lesen Sie hier mehr zum Parteitag: Für die Zukunft ihrer Generation
Was heute sonst noch wichtig ist
Doppelschlag gegen Donald Trump: Beim Parteitag der US-Demokraten gehen Barack Obama und Vizepräsidentschaftskandidatin Kamala Harris mit dem amtierenden Präsidenten hart ins Gericht. Hinter den Auftritten steckt ein klares Kalkül.
Kleine Löcher, großer Klimaschaden: Eine neue Studie zeigt, dass aus den Gasnetzen der Städte viel Methan in die Atmosphäre entweicht. Das Gas schädigt das Klima weitaus mehr als Kohlendioxid.
Bundesregierung spricht Reisewarnung für Teile Kroatiens aus: Das Auswärtige Amt hat wegen gestiegener Fallzahlen Reisewarnungen für Teile Kroatiens ausgesprochen. Die Reisewarnung gilt unter anderem für die Hafenstadt Split und den Nationalpark Krka.
Stephen Bannon wegen Betrugs angeklagt: Einst war er einer der wichtigsten Berater von US-Präsident Donald Trump. Nun wurde Stephen Bannon festgenommen. Ihm wird Betrug im Zusammenhang mit einer Spendenaktion vorgeworfen.
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
Was ist ein Haus wirklich wert? Die Preise für Häuser steigen und steigen. Doch wann ist ein Objekt zu teuer? Der Immobiliensachverständige Bernhard Bischoff erklärt, worauf es ankommt - und warum die Küche oft ein Problem ist .
Wie man Einsicht in seine Krankenakte bekommt: Wenn Patienten den Arzt wechseln oder aus anderen Gründen ihre Unterlagen einsehen wollen, stellen sich manche Praxen quer. Experten sagen, was Sie tun können .
Jedes Kind kann schwimmen lernen: Die Wartelisten für Schwimmkurse sind lang. Eltern können aber selbst viel tun, um ihre Kinder ans Wasser zu gewöhnen - und müssen dafür nicht einmal ins Hallen- oder Freibad .
Was heute nicht so wichtig ist

In Amerika sind Tramper jahrzehntelang auf Güterzügen mitgefahren, das europäische Bussystem ist dafür weniger geeignet.
Foto:--- / dpa
Blinder Passagier auf Flixbus-Heck gestoppt: Der Mann war laut Polizei betrunken und nicht ansprechbar. Auf der Berliner Stadtautobahn ist die gefährliche Fahrt eines 28-Jährigen beendet worden - er saß auf einem Fahrrad-Gepäckträger.
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: "Di María ist mit seinem Tempo und seiner Spielinzelligenz ebenfalls eine Waffe."
Cartoon des Tages: Covid, Helau

Thomas Plassmann
Und heute Abend?
Der Schauspieler Misel Maticevic spielt in dem spannenden, klugen Kinofilm "Exil" einen Chemieingenieur mit Migrationshintergrund, der sich in seiner braven Vorstadtexistenz plötzlich bedroht sieht. Der Film des Regisseurs Visar Morina ist ein beklemmendes Kammerspiel, in dem die Zuschauerinnen und Zuschauer lange mit dem Protagonisten im Dunklen tappen. Wird der Held von Rassisten attackiert oder ist er nur ein gewöhnliches Mobbingopfer? Was hier erzählt wird, mag wie ein Krimi aussehen, aber es ist auch ein Gesellschaftsporträt unserer Zeit. Meine Kollegin Hannah Pilarczyk ist von "Exil" jedenfalls sehr angetan.
Ihnen einen schönen Abend. Herzlich
Ihr Wolfgang Höbel
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