
Die Lage am Abend Von welchen Corona-Regeln wir Abstand nehmen sollten

Guten Abend, die drei Fragezeichen heute:
Corona-Kontrollen - Nur nach Hause kommen sie nicht, oder?
Merz drohte - Was verrät der rabiate Machtkampf in der CDU über unsere Demokratie?
Bleibender Einschlag - Wie dauerhaft hat Trump die USA geprägt?
1. Söders Vorstoß

Noch einigermaßen gleichauf, bald prescht einer vor
Foto: FABRIZIO BENSCH / AFPDie Shutdown-Beschlüsse sind gerade mal einen Tag alt, da prescht, wer sonst, Markus Söder vor und kündigt an: Setzen wir alles um, "eins zu eins". Außerdem werde Bayern wohl den Katastrophenfall ausrufen - und die Kontaktbeschränkungen gelten nicht nur im öffentlichen Raum, sondern auch im privaten Bereich. Man setze auf Hinweise und Anzeigen von Nachbarn, so wie bei Ruhestörungen, sagte Söder. Wir sind strenger, disziplinierter, vorsichtiger als der Rest des Landes, das war die Botschaft. (Später hieß es aus der Staatskanzlei: Bitte nicht als Aufruf zur Denunziation verstehen.)
Kontrollen in Wohnungen? Aufrufe, die eigenen Nachbarn im Auge zu behalten? Eine Selbstumfrage im Homeoffice kommt zu dem Ergebnis: Selbst übervorsichtige Corona-Streber, die schon vor dem Shutdown das Haus kaum noch verlassen und ihre Freunde mit Ermahnungen genervt haben, bekommen ein mulmiges Gefühl. Gefährdet nicht schon der Eindruck, zu Hause gegängelt zu werden, die Akzeptanz für die anderen Maßnahmen?
Auch Angela Merkel hatte gestern bei den Ministerpräsidenten kontrollierbare Regeln für Privaträume ins Gespräch gebracht, statt bloßer Empfehlungen. (Wie die Verhandlungen insgesamt liefen, hat ein Team um meinen Kollegen Maik Großekathöfer recherchiert - die Rekonstruktion finden Sie hier ). Den Vorstoß der Kanzlerin würgte Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier ab, die Unverletzlichkeit der Wohnung sei im Grundgesetz festgeschrieben: "Angela, lass es, das führt ins Elend!" Als ich das las, blitzte kurz Dankbarkeit auf: Wir sind Volker.
Die Rekonstruktion finden Sie hier: Schon nach 90 Minuten herrschte Einigkeit
Mehr zur heutigen Regierungserklärung der Kanzlerin finden Sie hier: Merkels bittere Medizin
Und mehr zu Ängsten in Altenheimen hier: Wo Einsamkeit mehr gefürchtet wird als Corona
2. Merz' Eigenfoul
Wohl niemandem blieb verborgen: Friedrich Merz ist nicht damit einverstanden, dass der CDU-Parteitag wegen der Pandemie verschoben wird. Dafür hat Merz selbst gesorgt, mit Interviews und Auftritten, mit Sätzen über das Partei-Establishment und eine angebliche Intrige, die von Armin Laschet und dessen Anhängern ausgehe.
Merz hatte die öffentliche Eskalation in einer internen Spitzenrunde zuvor sogar angedroht, wie meine Kollegen Florian Gathmann, Christoph Hickmann und Veit Medick herausfanden (ihre Rekonstruktion des Treffens lesen Sie hier ). Sein Gepolter offenbarte sich schnell als Eigentor mit anschließendem Eigenfoul - er stellt sich selbst ein Bein.
"Auf die Verlierer kommt es an. Das ist einer der Grundsätze der Demokratie, die ständig Verlierer produziert, da sie auf Abstimmungen und Wahlen beruht", kommentiert mein Kollege Dirk Kurbjuweit. "Wenn Politiker ihre Niederlage nicht akzeptieren, setzen sie das System unter Stress." Genau das sei jetzt in der CDU passiert, Merz kann sich nicht damit abfinden, dass die Partei ihren Vorsitzenden später wählen wird als geplant. "Merz hat den Charaktertest nicht bestanden", urteilt Dirk.
Hier lesen Sie den ganzen Leitartikel: Der rabiate Machtkampf in der CDU zeigt, wie bedrohlich sich die politische Kultur ändert
3. Trumps Vermächtnis
Vielleicht lohnt es sich im Klein-Klein des US-Wahlkampfgetümmels, den Blick zu weiten für große Fragen: Ist Donald Trump nur ein Betriebsunfall der amerikanischen Geschichte, eine "Verirrung", wie sein demokratischer Herausforderer Joe Biden sagt? Ein Team aus mehreren Kolleginnen und Kollegen hat in den USA nach den Gründen geforscht, warum ein Mann wie Trump überhaupt Präsident werden konnte - und ob die Spaltung der amerikanischen Gesellschaft, durch die Trump ins Amt kam, rückgängig gemacht oder zumindest verkleinert werden kann.
Meine Kollegin Alexandra Rojkov sprach mit einem Familienvater in Pennsylvania, der mit der Waffe in der Hand kämpfen will, sollten die Demokraten gewinnen. René Pfister folgte dem Präsidentensohn Don Jr., der sich bereit macht, das populistische Erbe seines Vaters anzutreten. René recherchierte auch in der republikanischen Partei, die sich ganz und gar dem Willen des Präsidenten unterworfen hat. "Der Trumpismus wird nicht verschwinden, selbst wenn der Präsident am Dienstag abgewählt werden sollte", sagt René. "Trump ist nur das Symptom einer Krise, die am Fundament der Demokratie in den USA nagt."
Die SPIEGEL-Titelgeschichte lesen Sie hier: Trumps Amerika
Was heute sonst noch wichtig ist
"Mitleid, Wut und Zorn": Erst der Mord an einem Geschichtslehrer, nun der Anschlag in einer Kirche - Hass und Gewalt erschüttern Frankreich. Der jüngste Angriff in Nizza dürfte die Krise noch verschärfen.
Hinweis auf mutmaßlichen Dresden-Attentäter blieb liegen: Im Sommer 2019 erhielt der BND den Hinweis, dass ein Syrer nach der Haftentlassung einen Anschlag begehen will. Die sächsischen Behörden erreichte das erst jetzt - nach dem tödlichen Messerangriff von Dresden.
Sawsan Chebli erwirkt einstweilige Verfügung gegen "Tichys Einblick": Ein sexistischer Beitrag in einer Publikation des Journalisten Roland Tichy über die Berliner SPD-Politikerin Sawsan Chebli sorgte für Empörung. Chebli ging juristisch dagegen vor, nun hatte sie Erfolg vor Gericht.
Labour suspendiert früheren Parteichef Corbyn: Schon länger steht Jeremy Corbyn wegen Antisemitismus-Vorwürfen in der Kritik. Nun hat seine Partei den früheren Labour-Chef suspendiert. Dem Rausschmiss ging ein Untersuchungsbericht voraus.
In eigener Sache: Ein bisschen Filanthropie
Gestern war der Berliner Zeichner und Komiker Fil zu Gast in der Büchershow Spitzentitel meines Kollegen Volker Wiedermann. Fil zeichnete ein Bild zum Shutdown, das wir verlost haben, zusammen mit einem Drei-Monats-Gratis-Zugang zu SPIEGEL+. Vielen Dank für die vielen Hundert Mails, die Sie geschickt haben (und die vielen, vielen Wortspiele wie "Fil hilft Fil", "Filosophie", "Filleicht gewinne ich ja"). Ich werde nicht alle beantworten können, ich muss, höhö, filtern. Gewonnen hat Susanne Gross aus Planegg, Gratulation!
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
Der Staat soll zahlen: Investoren werfen der Finanzaufsicht vor, für die Pleite von Wirecard mitverantwortlich zu sein - und ziehen vor Gericht. Haben die Schadensersatzklagen Aussicht auf Erfolg?
So träge sind Deutschlands Kinder: Zu wenig Bewegung, mäßige Motorik, kein Bock auf Leistung: Der "Vierte Deutsche Kinder- und Jugendsportbericht" liefert alarmierende Erkenntnisse.
Ist der Mont-Saint-Michel noch zu retten? Hitze und Trockenheit, Sturmfluten, Hagel und steigender Meeresspiegel bedrohen die großen Monumente der Menschheit. Wenn wir sie aufgeben, geben wir uns selbst auf.
Was heute nicht so wichtig ist
Morgenständchen: Popstar Katy Perry, 36, und ihr Verlobter, der Schauspieler Orlando Bloom, 43, machen, was viele Prominente in den USA gerade tun, und rufen zur Stimmabgabe auf. Ihr Mittel der Wahl: ein Instagram-Video, in dem sie auch ein Liedchen singen, mit Kaffeetassen in der Hand, offenkundig kurz nach dem Aufstehen. Eine Zeile lautet: "Raus aus den Federn und auf zur Wahlurne!"
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: "Der frühere FDP-Bundesinnenminister Gerhardt Baum hatte auch eine stärkere Einbindung der Landesparlamente gefordert, wie es im Grundsgesetz als Möglichkeit festgeschrieben ist."
Cartoon des Tages: SchMerz lass nach

Und heute Abend?
Als Corona-Übervorsichtiger weiß ich nicht, ob ich es empfehlen soll, aber Sie könnten natürlich noch mal ins Kino gehen, bevor die Säle nächste Woche wieder zumachen. Heute läuft der deutsche Oscar-Kandidat "Und morgen die ganze Welt" an.
Mala Emde spielt in dem Film die Studentin Luisa, die sich neben dem Jurastudium immer stärker in linken und antifaschistischen Kreisen engagiert. Sie will sich gegen rechte Populisten und Nazis zur Wehr setzen. Gleich bei ihrer ersten größeren politischen Aktion kommt es zu Gewalt. Ein hochpolitischer Film, der seine internationale Premiere beim wichtigen Filmfestival von Venedig gefeiert hatte. (Hier finden Sie die Filmbesprechung meiner Kollegin Hannah Pilarczyk. )

Sebastian Wells / Sebastian Wells/OSTKREUZ
Ihnen einen schönen Abend. Herzlich
Ihr Oliver Trenkamp
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Anmerkung: Dieser Text wurde nach Erscheinen um die Anmerkung ergänzt, dass Söders Ausführungen nicht als Aufruf zur Denunziation verstanden werden könnten. Auch der Vorspann wurde nachträglich umformuliert.