

Die Lage am Abend Wann streiken die Corona-Helden im Einzelhandel?

Guten Abend, die drei Fragezeichen heute:
Einzelhandel und Corona - Taschen voll, Konto leer?
Politik und Corona – Strenger werden oder über die Stränge schlagen?
Diego Maradona – Was machte ihn so besonders?
1. Taschen voll, Konto leer?
Zum Einstieg schnell ein paar Zahlen:
Der Umsatz im deutschen Onlinehandel stieg von Januar bis September preisbereinigt um 21 Prozent.
Im November und Dezember werden voraussichtlich 420 Millionen Pakete in Deutschland zugestellt – rund 60 Millionen mehr als im Vorjahreszeitraum.
Der Lohnzuwachs der Zusteller aber lag seit 2010 rund zehn Prozentpunkte unter dem in der gesamten Wirtschaft.
Noch ein paar Zahlen, ist gleich vorbei:
Deutschlands größter Supermarktkonzern, die Schwarz-Gruppe (Kaufland, Lidl), macht 2020 voraussichtlich etwa 140 Milliarden Euro Umsatz. Der Umsatz steigt seit Jahren. In diesem dürften die Einnahmen schätzungsweise noch einmal um zwölf Prozent gestiegen sein – auch dank Corona. Bei Wettbewerbern wie Aldi, Rewe, Edeka ist das Bild ähnlich.
Die Kassiererinnen, Lageristen, Verkäufer an der Wurst- oder Käsetheke allerdings haben im Vergleich zum vergangenen Jahr rund sieben Prozent weniger verdient – im Schnitt 167 Euro. Zwar haben fast alle Großkonzerne im Handel sich mit Einmalzahlungen bei ihren Beschäftigten bedankt, aber mitunter waren die Dankesgesten auch ziemlich fragwürdig. »Netto« würdigt die »außergewöhnliche Leistung aller Kolleginnen und Kollegen der besonders geforderten Unternehmensbereiche Filiale und Logistik mit einem Rabatt in Höhe von 20 Prozent, bis zu einem maximalen Einkaufswert von 1000 Euro«. Um mögliche 200 Euro Rabatt zu bekommen, müssen die Netto-Beschäftigten also erst mal 800 Euro bei ihrem eigenen Arbeitgeber ausgeben.
Nun kann man sagen, ist halt so, regelt der Markt – oder sich auch hinstellen wie Linkenfraktionschef Dietmar Bartsch und wettern, dass sich die »Eigentümer die Taschen voll hauen«. Das wird sie allerdings wenig beeindrucken.
Die Verdienste in der Automobilfabrik oder im Stahlwerk sind auch deshalb sehr viel höher, weil die Belegschaften teils zu 90 Prozent in der IG Metall sind und die gegenüber den Arbeitgebern eine glaubwürdige Drohkulisse bei Tarifverhandlungen aufbauen kann.
Wenn im Handel mit Streik gedroht wird, zucken die Arbeitgeber mit den Schultern. Es hat kaum Konsequenzen. Denn nur sehr wenige Beschäftigte sind gewerkschaftlich organisiert. Sie sind keine Macht, vor der man sich fürchten muss. Solange das so bleibt, wird es Jahr um Jahr Meldungen geben, dass die gute Konjunktur in dieser oder jener Branche bei den Beschäftigten nicht ankommt.
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Hier können Sie eine SPIEGEL-Umfrage unter Einzelhändlern lesen: So ändert sich das Shoppen im Shutdown
Furcht vor neuen Zugangsbeschränkungen: Handel fürchtet Schlangen und Hamsterkäufe
2. Politik und Corona – Strenger werden oder über die Stränge schlagen?
»Wir dürfen keine Zeit verlieren. Die Todeszahlen sind aktuell so hoch, als würde jeden Tag ein Flugzeug abstürzen«, sagte Markus Söder heute. Bayerns Ministerpräsident gibt wieder den Mahner und Macher. Derselbe Söder, der heute in der Konferenz mit Kanzlerin Merkel dafür plädieren wird, dass Weihnachten wie immer gefeiert werden muss, Corona hin, Corona her. In der Tat haben die Gesundheitsämter binnen 24 Stunden 410 Corona-Todesfälle gemeldet. Damit ist am Mittwoch ein neuer Höchstwert erreicht worden. Insgesamt sind in Deutschland 14.771 Menschen mit dem Virus gestorben.
Dass Söder auf der einen Seite warnt und auf der anderen fünfe gerade sein lässt, liegt auch daran, dass es nicht nur um das Infektionsgeschehen geht, wie mein Kollege Stefan Kuzmany in seinem Kommentar schreibt. »In der Pandemie verständigen sich die Ministerpräsidenten und das Kanzleramt, die Massen- und die sogenannten sozialen Medien, was die Gesellschaft ausmacht, auf was sie verzichten kann und soll – und auf was auf keinen Fall«, so Stefan. »Die deutsche Suppe schmurgelt auf ihre Essenz zusammen, und was nicht dazugehört, möge verdampfen.« Weihnachten als Familienfest gehört demnach zur Essenz, mögen die Todeszahlen hinterher auch neue Rekorde erreichen.
Man möchte nicht in der Haut der Politikerinnen und Politiker stecken, die Tag für Tag entscheiden müssen. Dass schon jetzt im Shutdown light Menschen an ihre psychischen Grenzen kommen, hat meine Kollegin Nike Laurenz mit der Psychiaterin Sabine Köhler besprochen. »Wir Psychiater müssen häufiger als sonst zur Abwendung von Gefahr alle Hebel in Bewegung setzen, also Angehörige einschalten oder die Notfalleinweisung in eine Klinik vornehmen«, so Köhler. Menschen werden panischer, vermissen Kontakte, Depressionen werden verstärkt.
Politiker wie Söder müssen also jeden Tag aufs neue abwägen: Was ist besorgniserregender? Steigende Infektionszahlen oder eine Gesellschaft, die durchzudrehen droht? Steigende Todeszahlen oder eine abschmierende Wirtschaft? Vor diesem Hintergrund ist das Bekenntnis zum traditionellen Weihnachtsfest – allen anderen Überlegungen zum Trotz – wohl die richtige Entscheidung.
Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Robert Koch-Institut meldet Höchstzahl an Todesfällen
Kommentar zu den Corona-Maßnahmen: Wir sind, was wir uns erlauben
»Eine Katastrophe für Menschen mit psychischen Vorerkrankungen« – Interview mit der Psychiaterin Sabine Köhler
3. Lang lebe die Legende
Diego Maradona ist tot. Zuletzt lag der Fußballheld noch im Krankenhaus, Ärzte sprachen von »Entzugserscheinungen«, er musste sich einer schweren Gehirnoperation unterziehen. Die Sorge war groß, ob er den Kampf gegen die Krankheit und gegen sich selbst gewinnen würde. Er hat ihn verloren. Der argentinische Fußballweltmeister von 1986 ist erst im Oktober 60 Jahre alt geworden.
»Diego war zuletzt sehr depressiv«, sagte sein Anwalt Morla. »In dieser Zeit rund um seinen Geburtstag vermisst er immer sehr jene, die nicht mehr bei uns sind – vor allem seine Mutter.« Die Isolation in der Corona-Pandemie hatte ihm zudem schwer zu schaffen gemacht.
Vor dem ersten Spiel seines Vereins Gimnasia y Esgrima La Plata nach der Corona-Pause kam er zwar kurz ins Stadion, um Glückwünsche und Geschenke entgegenzunehmen. Allerdings musste er von zwei Begleitern beim Gehen gestützt werden. Die Partie selbst verfolgte Maradona auf Anraten seines Arztes von zu Hause aus.
Maradona hatte immer wieder mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen. 2000 diagnostizierten Ärzte ein Herzleiden, verursacht durch Kokainkonsum. Es folgten unter anderem Entziehungskuren und eine Magenverkleinerung. Seine größten Erfolge feierte der Argentinier beim italienischen Klub SSC Neapel, wo die Fans »jetzt drei Jahre weinen werden«, wie ein Kollege eben anmerkte.
Hier wichtige Texte über Diego Maradona:
Maradona muss länger in Klinik bleiben
Maradonas einziges SPIEGEL-Interview
Hier eine Besprechung von Peter Ahrens über eine Doku über den Fußballer: Diego ging verloren
Was heute sonst noch wichtig ist
Chinas Staatschef gratuliert Biden zum Sieg: Wladimir Putin schweigt immer noch, aber Xi Jinping hat es nun getan: Chinas Staatschef beglückwünschte Joe Biden zu seinem Sieg bei der US-Präsidentschaftswahl.
Bundesregierung verstärkt Kampf gegen Rassismus und Extremismus: Rassismus und Extremismus in Deutschland sollen verstärkt bekämpft werden – ein Ausschuss des Kabinetts hat fast 90 Maßnahmen beschlossen. Dafür sieht die Bundesregierung mehr als eine Milliarde Euro vor.
Vogelgrippe breitet sich in Deutschland aus: An der deutschen Küste sind in den vergangenen Wochen Hunderte Wildvögel an der Vogelgrippe verendet. Fachleute warnen, das Virus könne Geflügelhaltungen gefährden. Für den Menschen ist es harmlos.
Auto fährt ans Tor des Bundeskanzleramts: In Berlin wollte ein Autofahrer ins Bundeskanzleramt vordringen – scheiterte jedoch am Tor. Fotos im Netz zeigen, dass das Fahrzeug mit Botschaften beschmiert ist. 2014 gab es bereits einen ähnlichen Vorfall.
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
»Ich hätte Andrea Nahles stärker unterstützen müssen«: Am Samstag gibt Kevin Kühnert den Vorsitz bei den Jusos ab. Wird er jetzt seriös? Hier spricht er über seine bisherige und zukünftige Rolle innerhalb der SPD.
Wird Desertec doch umgesetzt? Die Idee, die Wüste als Energiequelle zu nutzen, erlebt ein Revival: Grüner Wasserstoff soll aus Nordafrika nach Deutschland fließen. Doch es gibt einen Haken.
»Die Pharmaindustrie macht sich ganz hervorragend als Bösewicht«: Der Sprachwissenschaftler Christian Sieg sagt, warum Verschwörungstheorien keine Theorien sind – und wie man ihnen begegnen sollte.
Was heute nicht so wichtig ist
Lange Leitung: Justin Trudeau, 48, bekannt als kanadischer Ministerpräsident und Beau unter den Weltenlenkern, ist auf einen Telefonstreich hereingefallen – er ging einer falschen Greta Thunberg auf den Leim. Er solle Blumen pflücken und aus der Nato austreten, sie verfüge über eine tolle Perspektive und leidenschaftliche Worte, so umschmeichelten sie sich gegenseitig. Hinter dem Streich sollen zwei russische YouTuber mit Geheimdienstverbindung stecken. Also nur halb so lustig. Hier lesen Sie die Meldung: Justin Trudeau fällt auf falsche Greta Thunberg herein
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »Die US-Industrie meldete für Oktober ein unerwartet deutliches Auftragsplus geschafft.«
Cartoon des Tages: Corona-Tanz der Länderchefs

Und heute Abend?
Können Sie sich Paul Desmond anhören, wenn Sie mögen. Der heute vor 96 Jahren im schönen San Francisco geborene Altsaxofonist gilt als einer der größten Lyriker des Jazz. Er war ein scheuer aber sehr cooler Mann, wollte möglichst so klingen »wie ein trockener Martini«, sagte er einmal über seinen Sound. Seine Komposition »Take Five« kennen Sie vielleicht. Die ist aber ganz schön durchgenudelt. Hören Sie sich lieber »Brandenburg Gate« an. Das Stück hat zwar sein Langzeitpartner am Klavier, Dave Brubeck, geschrieben.
Aber hier zelebriert Desmond am eindrucksvollsten seine Gabe, mit seinen Improvisationen den europäischen klassischen Komponisten wie Tschaikowski, Debussy, Strawinski und allen voran Johann Sebastian Bach Reminiszenz zu erweisen. Desmond wurde nur 52 Jahre alt, er trank viel und rauchte viel und starb 1977 an Lungenkrebs. Sein ganzes Vermögen und die Tantiemen für seinen Hit »Take Five« vermachte er dem Roten Kreuz.
Und? Angehört? Ich hoffe, es hat Ihnen gefallen. Ich wünsche Ihnen einen schönen weiteren Abend, bis morgen!
Ihr Janko Tietz
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