

Die Lage am Abend Warum Fleischfresser hoffen dürfen, ohne Veganer verzweifeln zu lassen

Guten Abend, die drei Fragezeichen heute:
Trauer in Trier – Was ist über den Amokfahrer bekannt?
Fleisch aus dem Labor – Das ist wirklich Huhn?
Trump 2024 – Alles von vorn?
1. Trauer in Trier
»Wir sind 'ne kleine Großstadt. Man kennt sich. Und auch ein Oberbürgermeister, der durch die Innenstadt läuft und die Menschen zugedeckt, ermordet sieht, erkennt Bekannte, Freunde.« Bei der Trauerfeier nach der Amokfahrt von Trier hielt Oberbürgermeister Wolfram Leibe eine bewegende Rede und kämpfte mit den Tränen.
Eine Stadt im Schock erlebte meine Kollegin Lisa Duhm. Sie recherchierte vor Ort und sprach unter anderem mit einer Nachbarin des Amokfahrers. Auch der Frau stiegen Tränen in die Augen. Sie erzählte Lisa, der Alkohol habe seit Langem zum Leben von Bernd W. gehört. Der Alkoholpegel, den die Polizei bei W. nach der Festnahme gemessen habe, sei für ihn normal gewesen.
Ein Richter erließ heute einen Haftbefehl wegen Mordes gegen den Fahrer.
Hier lesen Sie mehr: Eine unbegreifliche Tat
2. Dieses Fleisch ist kein Gemüse
In seinem Bestseller »Wir sind das Klima« gesteht der Erfolgsautor und einstige Held aller Vegetarier Jonathan Safran Foer: Ja, manchmal esse auch er Fleisch, meistens Burger, einfach weil es guttue. Zugleich fordert er den radikalen Wandel, nämlich dass wir alle anders essen: »Keine tierischen Produkte vor dem Abend!« Das würde den CO2-Ausstoß massiv senken.
Daran musste ich denken, als ich den Bericht meiner Kollegin Julia Merlot aus dem Wissenschaftsressort las: Singapur erlaubt als erstes Land, im Labor produziertes Fleisch an Verbraucher zu verkaufen. Kein Fleischimitat aus Erbsen oder Tofu, sondern Huhn aus Zellkulturen: Ein US-Start-up mit dem Namen Eat Just hat im Bioreaktor Chicken-Nuggets gezüchtet. Allerdings mischten die Produzenten den tierischen Zellen auch Pflanzenproteine unter, um die Kosten zu senken.
Können wir also bald Fleisch essen, ohne Tiere zu töten und das Klima zu belasten? »Es wird noch dauern, bis solche Produkte in Deutschland verkauft werden«, sagt Julia. »Die Angst vor Künstlichem ist hierzulande weitverbreitet.« Noch ist es auch schwierig, die Struktur eines reinen, unverarbeiteten Stücks Fleisch zu erzeugen. Und es ist teuer: 2013 verschlang die Produktion eines Labor-Burgers aus den Muskelzellen einer Kuh rund 250.000 Euro. Das neue Laborhuhn ist zwar deutlich günstiger, aber teurer als Geflügel aus der Massentierhaltung. »Es könnte sich aber lohnen, rational auf die Sache zu blicken«, sagt Julia. »Fleischkonsum hat große Umwelt- und Klimafolgen. Wir brauchen also Alternativen für die Produktion.«
Mein Kollege Philipp Oehmke fragte Safran Foer einmal, ob er sich für seinen gelegentlichen Fleischkonsum schäme. Es sei ihm »irre peinlich«, antwortete der Autor. »Aber hier war es mir wichtig, die Wahrheit zu sagen. Ich möchte Leute wie Sie dazu bringen, ihr Verhalten zu ändern.« Ist gar nicht so schwer, wie ein seit anderthalb Jahren laufender Selbstversuch in Hamburg zeigt. Nur auf Sprüche aus dem Familien- und Freundeskreis muss man gefasst sein. So gesehen ist der kontaktbeschränkte Shutdown die beste Zeit, um anzufangen mit dem Veganer- oder Vegetarierdasein. (Zumal nicht appetitlich ist, was man aus Schlachthöfen hört und liest, heute etwa die Meldung, bei Tönnies in Sachsen-Anhalt habe es mehr als hundert Corona-Infektionen gegeben.)
Lesen Sie hier mehr: Erstmals im Labor gezüchtetes Fleisch zum Verzehr zugelassen
3. Geht alles wieder von vorn los?
»Die vergangenen vier Jahre waren fabelhaft«, sagte Noch-Präsident Donald Trump den Gästen in einem voll besetzten, weihnachtlich geschmückten Raum des Weißen Hauses. »Wir versuchen es mit vier weiteren Jahren. Anderenfalls sehen wir uns in vier Jahren.« Er schien zwar anzuerkennen, die Wahl verloren zu haben, doch er deutete an: Ich komme zurück. Erstmals äußerte er sich damit öffentlich zu den Spekulationen, die seit Wochen kursieren.
Wieso rücken die Republikaner nicht endlich von ihm ab? Mein Kollege Alexander Smoltczyk und meine Kollegin Elke Schmitter haben darüber mit dem Kulturhistoriker Wolfgang Schivelbusch gesprochen. Er sagt Sätze wie diese:
»Sie zucken vor seiner physisch-biologischen Präsenz und Übermacht.«
»Trump ist der Aufbruch einer Eiterbeule, die sich vorher gebildet hatte.«
»Ich bin kein Freund von schnellen Nazivergleichen. Aber Trumps Charisma lässt sich wohl am ehesten mit dem von Mussolini und Hitler in ihrer Zeit vergleichen.«
Das ganze Gespräch lesen Sie hier.
Was heute sonst noch wichtig ist
Großbritannien will kommende Woche mit dem Impfen beginnen: Das Vereinigte Königreich hat den Corona-Impfstoff von Biontech und Pfizer zugelassen – noch vor der EU und den USA. Die ersten Lieferungen werden schon bald erwartet.
Das Comeback der Kohle nach Corona: Der gesunkene CO2-Ausstoß während der Corona-Zeit ist laut einem Uno-Bericht nur eine Randnotiz in der Geschichte der Klimapolitik. Statt einer Wende könnte es sogar eine Renaissance der fossilen Energie geben.
Nur Verlierer: Der Streit droht die Koalition in Sachsen-Anhalt zu sprengen. Soll der Rundfunkbeitrag erhöht werden? Die Sache ist verfahren – und ARD und ZDF bleibt möglicherweise nur noch der Gang vor das Verfassungsgericht.
Von Covid genesen heißt nicht immer gesund: Forscher aus den Niederlanden haben untersucht, wie es Menschen drei Monate nach ihrer Covid-19-Erkrankung geht. Selbst leicht Erkrankte können demnach unter Langzeitfolgen leiden. Aber es gibt auch gute Nachrichten.
Sergej Skripal leidet an Atemnot: Mehr als zwei Jahre nach dem Giftanschlag von Salisbury hat der frühere britisch-russische Doppelagent Sergej Skripal noch immer mit den Folgen zu kämpfen. So erzählt es seine Tochter im Gespräch mit einer Verwandten.
Mein Lieblingsjahresrückblick: Die SPIEGEL CHRONIK
Ein kurzer persönlicher Rückblick: Als Student schaffte ich es irgendwann endlich, eine Journalistenschule davon zu überzeugen, mich zur Aufnahmeprüfung samt legendär schwerem Wissenstest einzuladen. Ich bekam folgende Tipps: Lies so viel du kannst, quer durch die Bibliotheken und Wartezimmer! Und lern die Jahresrückblicke von »Bunte« und SPIEGEL auswendig! Hat geholfen (auch wenn ich zum Entsetzen der Schulleiterin Schillers Räuber für eine Ballade hielt.)
Ein kurzer werblicher Rückblick: Heute ist das Jahresend-Heft des SPIEGEL erschienen, die CHRONIK 2020 (hier digital zu finden). Zahlreiche Kolleginnen und Kollegen aus allen Ressorts blicken zurück auf das Jahr der Seuche, die das Leben der Menschen auf der ganzen Welt veränderte – ihren Alltag, ihr Denken, ihre Existenzgrundlage. Außerdem geht es um die Politik des noch amtierenden US-Präsidenten Donald Trump, den Absturz des Dax-Konzerns Wirecard, das Attentat auf den Kremlkritiker Alexej Nawalny und die Proteste gegen Rassismus in den USA.

Das Team der CHRONIK 2020: Alfred Weinzierl, Elisabeth Kolb, Konstantin von Hammerstein, Lynn Dohrmann
Meine Kollegen Konstantin von Hammerstein und Alfred Weinzierl konzipierten die CHRONIK, meine Kolleginnen Lynn Dohrmann und Elisabeth Kolb gestalteten sie – Corona-bedingt natürlich fast ausschließlich per Videokonferenz aus dem Homeoffice. Das Heft auswendig zu lernen, käme mir heute übertrieben vor; es zu lesen, kann ich nur empfehlen.
Hier finden Sie das digitale Heft.
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
Volle Fracht im Seuchenjahr: Mitten in der Pandemie läuft die Containerschifffahrt plötzlich auf Hochtouren. Frachter sind randvoll, Container werden Mangelware. Läuft die Weltwirtschaft besser als gedacht?
»Ich beneide meinen Mann um die Leichtigkeit, mit der er Geld rausschleudert«: Mit zwölf schloss sie ihren ersten Bausparvertrag ab, wenig später folgte die erste eigene Immobilie. Collien Ulmen-Fernandes hat längst ausgesorgt – trotzdem traut sie sich oft nicht, sich Dinge zu leisten.
Als die Deutschen erstmals öffentlich über Sex stritten: In Berlin standen 1891 eine Hure und ihr Zuhälter vor Gericht. Sexualität wurde zum öffentlichen Thema. Das war damals neu – und aufregend.
Was heute nicht so wichtig ist

Schnelles Köpfchen
Foto: Frank Hoermann / imago images / Sven SimonKreisverkehr: Mick Schumacher, 21, hat es geschafft und fährt künftig in der Formel 1 beim italo-amerikanischen Haas-Team, wird aber trotzdem noch eine Weile lang damit leben müssen, dass keine Geschichte über ihn auskommt, ohne ihn mit seinem Vater zu vergleichen. Die Erwartungen sind schon allein ob des Namens groß – und versucht, sie zu dimmen: »Wir werden nächstes Jahr sicher nicht um Siege mitfahren.«
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »Darauf hatten sich die Koalitionspartner SPD, CDU und Grüne nach zähen Verhandlungen im Medienausschuss geeeinigt.«
Cartoon des Tages: No-Deal-Brexit

Und heute Abend?
Könnten Sie die Netflix-Serie »Das Damengambit« anfangen zu gucken, sie erzählt die Geschichte eines weiblichen Schachgenies, das aus dem Waisenhaus heraus zur Weltspitze aufsteigt. »Von Schach muss man wirklich nicht viel verstehen, um sich von der Geschichte in den Bann ziehen zu lassen«, sagt meine Kollegin Marie-Julie May. »Hauptfigur Beth Harmon bringt einen dazu, selbst mit Schach anfangen zu wollen. Vor allem aber jubelt man mit, wenn sie die Ungleichheiten in dieser männerdominierten Welt aufbricht.«
Marie-Julie hat darüber mit der deutschen Spielerin Elisabeth Pähtz gesprochen, ehemalige Europameisterin im Schnellschach und Vizeeuropameisterin im Blitzschach, derzeit in der Weltrangliste der Frauen auf Platz 20. Sie ist die einzige Spielerin, die unter den Top 100 der deutschen Männer-Rangliste geführt wird – aktuell an Rang 63. »Eine Frau, die sich bei den Männern durchsetzt, werden wir nicht mehr erleben«, sagt Pähtz. (Das ganze Interview lesen Sie hier.)
In diesem Sinne: Fühlen Sie sich matt, schauen Sie Schach.
Einen schönen Abend, herzlich
Ihr Oliver Trenkamp
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