
Die Lage am Abend Wissing, der Verbrennungspromotor

Guten Abend, die drei Fragezeichen heute:
Nach dem Treffen von Meseberg – weiß die FDP noch, was sie tut?
Nach erneutem Angriff auf Bachmut – geht den Russen die Munition aus?
Nach zwei Gewalttaten in Bramsche – werden in sozialen Netzwerken Legenden gesponnen?
1. Geisterfahrer Wissing
Wäre am vergangenen Sonntag Bundestagswahl gewesen, hätte die FDP um den Wiedereinzug ins Parlament fürchten müssen. Eine Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen sah die Liberalen nur bei fünf Prozent – mehr als eine Halbierung des Ergebnisses der Wahl im September 2021. Seit dem Hoch rund um den Wahltag kennen die Zustimmungswerte der Partei nur eine Richtung: abwärts.
Umso erstaunlicher ist es, mit welcher Vehemenz die FDP eine Politik verfolgt, die offenbar nicht mal mehr bei ihrer Stammwählerschaft verfängt. Das aktuellste Beispiel ist der verbissene Kampf, das Ende des Verbrennermotors zu verhindern, zumindest aber zu verzögern. Die EU-Abstimmung über das geplante Aus für neue Autos mit Diesel- oder Benzinmotor ab 2035 war am Freitag wegen Nachforderungen Deutschlands verschoben worden. Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) hatte gesagt, Deutschland könne einem solchen pauschalen Verbrenner-Aus zum derzeitigen Zeitpunkt nicht zustimmen. Die EU-Kommission müsse einen Vorschlag unterbreiten, wie klimaneutrale, synthetische Kraftstoffe, sogenannte E-Fuels, nach 2035 in Verbrennungsmotoren eingesetzt werden können.
Mal abgesehen davon, dass der Wirkungsgrad von E-Fuels als so gering eingeschätzt wird, dass man weniger von »Technologieoffenheit« sprechen kann, wie Wissing das gern tut, als von Klientelpolitik für Porschefahrer, scheint die FDP nicht mal mehr zu wissen, dass sie noch vor Kurzem den EU-Plänen zugestimmt hat .
Meine Kollegen Markus Becker, Gerald Traufetter und Serafin Reiber zitieren in ihrem Text aus einem Papier vom November 2022, in dem es heißt, »eine Zustimmung DEU kann dann erfolgen«. Abgesegnet haben es alle zuständigen Ministerien, auch das BMDV – diese Abkürzung steht für Bundesministerium für Digitales und Verkehr, also jenes Haus, dem Wissing vorsteht. Ist Wissings Widerstand also reiner Popanz, wie meine Kollegen fragen?
Vielleicht ist es eine Strategie – nämlich die FDP auf unter fünf Prozent zu drücken. Dann muss sie sich nach der nächsten Bundestagswahl gar nicht mehr mit Realitäten und Realpolitik beschäftigen und kann sich wieder ihrem Parteiprogramm widmen.
Lesen Sie hier mehr: Volker Wissing hatte EU-Einigung zu Verbrennerautos bereits zugestimmt
2. Scharfmacher Prigoschin
Keine Stadt in der Ukraine ist derzeit heftiger umkämpft als Bachmut. Seit Wochen versuchen die Russen, die 70.000 Einwohner zählende Industriestadt einzunehmen, seit Wochen hält die ukrainische Armee dagegen. Allein am Sonntag hat sie laut Reuters 95 Angriffe abgewehrt. Wolodymyr Nasarenko, ein ukrainischer Kommandeur in Bachmut, erklärte, die Verteidigung halte, auch wenn die Lage kritisch sei. »Die Situation in Bachmut und Umgebung ist ziemlich die Hölle, wie auf der ganzen Ostfront.«
Weil der russische Machthaber Wladimir Putin allein mit der staatlichen Armee bei seinem Ziel, die Ukraine gewaltsam zu erobern, wohl nicht vorankäme, setzte er von Anfang an auf die noch skrupellosere Söldnertruppe Wagner, angeführt vom ehemaligen Gastronomen Jewgeni Prigoschin, der seither als »Putins Koch« tituliert wird. Offiziell streitet der Kreml ab, dass die Söldner unter dem Kommando Putins stehen. Dabei ist offensichtlich, dass ohne dessen Segen gar nichts passiert.
Spätestens seit heute dürfte feststehen, dass Prigoschin vom Kreml abhängig ist. Wenn Wagner-Truppen nicht bald die im Februar versprochene Munition geliefert bekämen und sich deshalb zurückziehen müssten, drohe die gesamte Front zusammenzubrechen, erklärte der Wagner-Chef. Mit Blick auf ausbleibende Munitionslieferungen fügte er hinzu: »Im Moment versuchen wir herauszufinden, was der Grund dafür ist: ist es nur gewöhnliche Bürokratie oder ein Verrat?«
Mit Bürokratie dürfte er kaum die Verwaltungsstuben der Söldner-Zentrale meinen. Prigoschin sieht sich offenbar zu Höherem berufen, würde am liebsten selbst das Kommando übernehmen und Verteidigungsminister Schoigu ablösen. Doch der Kreml hält ihn auf Abstand. Einem seiner Vertreter wurde heute der Zugang zum Hauptquartier der »militärischen Spezialoperation«, wie der Angriffskrieg in Moskau genannt wird, in der Ukraine verweigert.
Abgesehen davon kritisieren immer mehr Kommentatoren und Kriegsverfechter in Russland Verteidigungsminister Schoigu für den Verlauf des Krieges, der nicht den raschen Sieg, dafür aber viele Rückschläge brachte. Schoigu steht erkennbar unter Druck. Um wenigstens bei seiner Truppe gut Wetter zu machen, besuchte er an diesem Montag russische Soldaten in der besetzten Stadt Mariupol. Zuvor war er in der Region Süd-Donezk. In einem von dem Ministerium veröffentlichten Video ist Schoigu zu sehen, wie er Soldaten Orden verleiht. Dabei gilt ja oft: je mehr Brustlametta, desto aussichtsloser die Lage.
Lesen Sie hier mehr: Wagner-Chef droht russischer Armeeführung
Und hier weitere Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:
Belarussische Oppositionsführerin Tichanowskaja zu 15 Jahren Haft verurteilt: Im Sommer 2020 forderte sie Belarus’ Machthaber Alexander Lukaschenko heraus. Nun wurde Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja in Abwesenheit schuldig gesprochen – wegen angeblichen Hochverrats.
Ukrainische Tennisspielerin Marta Kostjuk verweigert Russin Handschlag: Marta Kostjuk hat nach ihrem Finalsieg über die Russin Warwara Gratschewa auf die obligatorische Handschlaggeste verzichtet. Nicht zum ersten Mal. Ihren bislang größten Erfolg widmete sie den ukrainischen Streitkräften.
SPD-Spitzenpolitiker Klingbeil und Mützenich in Kiew eingetroffen: Wegen ihrer langjährigen Russlandpolitik ist die SPD in der Ukraine nicht wohlgelitten. Nun sind Parteichef Lars Klingbeil und Fraktionschef Rolf Mützenich in das Land gereist. Ihr Programm ist in Teilen geheim.
Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update
3. Tatort Bramsche
Binnen kurzer Zeit kam es zu zwei Gewaltverbrechen. Ende vergangener Woche richtete ein 81-Jähriger einen 16-Jährigen mit einem gezielten Kopfschuss hin. Das mutmaßliche Motiv: Lärmbelästigung. Am Wochenende wurde eine 19-Jährige am Rande einer Geburtstagsfeier getötet. Das Ganze spielte sich nicht etwa in einer Metropole wie Berlin oder Frankfurt am Main ab, sondern im beschaulichen Bramsche, einer rund 30.000 Einwohner zählenden Kleinstadt bei Osnabrück.
Zwei Verbrechen, beide in kurzem Abstand, beide in einer Kleinstadt – das Entsetzen ist groß. Beim zweiten Delikt geht die Staatsanwaltschaft von langwierigen Ermittlungen aus. »Dieser Fall dürfte uns noch lange beschäftigen«, sagte Oberstaatsanwalt Alexander Retemeyer mit Blick auf die rund 150 Gäste der Party in einer Schützenhalle in der Nacht zum Sonntag. Noch am Nachmittag hatte eine Haftrichterin Haftbefehl wegen Mordes gegen einen 20-Jährigen erlassen. Aufgrund der Art, wie die Leiche der jungen Frau aufgefunden worden war, gehen die Ermittler neben einem Tötungsdelikt auch von einem Sexualverbrechen aus.
Die 19-Jährige war nach ersten Erkenntnissen während der Feier anlässlich eines 18. Geburtstages gegen 1.30 Uhr vermisst worden. Gäste hätten sie dann gemeinsam gesucht und schwer verletzt auf einer Wiese gefunden. Im Krankenhaus sei der Tod festgestellt worden. Details zu den Todesumständen wollte die Staatsanwaltschaft zunächst nicht nennen, um kein mögliches Täterwissen preiszugeben.
»Wir gehen davon aus, dass sich die beiden nicht das erste Mal getroffen haben«, sagte der Sprecher der Osnabrücker Staatsanwaltschaft. In welchem Verhältnis genau der Mann und die Frau zueinander standen, sei allerdings noch Teil der Ermittlungen. Eine Mordkommission wurde eingesetzt.
In den sozialen Netzwerken überschlagen sich nun die Spekulationen und Falschbehauptungen. Beschuldigt werden – mal wieder – pauschal Menschen mit migrantischen Wurzeln. Doch sowohl Opfer als auch der mutmaßliche Täter sind Deutsche. Die Ermittler appellieren daher eindringlich, Gerüchte, Mutmaßungen und Lügen, die auf Facebook oder Messengern zu der Tat im Umlauf seien, nicht weiterzuverbreiten. »Wir bitten, sich nicht an Hass und Hetze zu beteiligen«, sagte ein Polizeisprecher. Es seien Hassbotschaften gegen den Tatverdächtigen im Internet im Umlauf, die strafbar seien. Die Polizei verfolge auch diese Botschaften.
Lesen Sie hier mehr: Gewalttat in Bramsche – Opfer und Tatverdächtiger sollen sich gekannt haben
Was heute sonst noch wichtig ist
Randale in Kino – Betreiber bricht Filmvorstellung ab: Sie kletterten über Sitze und warfen Snacks durch den Kinosaal: In Essen haben mehrere Personen eine Filmvorstellung massiv gestört. Mitarbeiter sahen sich gezwungen, die Polizei zu alarmieren.
Hohe Grunderwerbsteuer kommt Bundesländer teuer zu stehen: Die Grunderwerbsteuer hat sich für viele Bundesländer zu einer willkommenen Einnahmequelle entwickelt. Nach einer Untersuchung des Instituts für Weltwirtschaft schaden sie sich damit nur selbst.
Fan rutscht aus und grätscht in Liverpool-Spieler hinein – Klopp schäumt vor Wut: Nach dem siebten Tor gegen Manchester United gab es für die Liverpool-Spieler kein Halten mehr. In ihre Jubeltraube hinein rutschte ein Fan, der zuvor den Platz gestürmt hatte. Er traf Abwehrspieler Andrew Robertson am Knöchel.
Meine Lieblingsgeschichte heute:
Die meisten von Ihnen haben sicher schon mal von Mietnomaden gehört, also Menschen, die sich in Wohnungen einnisten, ohne jemals einen Euro Miete zu bezahlen, und dann weiterziehen, sobald ihr Treiben auffliegt. Aber kennen Sie das Phänomen auch bei Kaufimmobilien? Mein Kollege Dietmar Hipp beschrieb es kürzlich am Beispiel eines Paares in Hessen . In ihrem Eigenheim hatte sich eine fünfköpfige Familie niedergelassen – obwohl das Paar und ihre 18-jährige Tochter dort noch wohnten. Sie planten, in die Südsee auszuwandern und hatten im Sommer vergangenen Jahres deshalb ihr Einfamilienhaus verkauft – an eine Frau, die behauptet hatte, sie habe 2,5 Millionen Euro geerbt und könne sich deshalb die Immobilie, die knapp 700.000 Euro kosten sollte, problemlos leisten. So erzählen es die Verkäufer.
Als die Überweisung angeblich unmittelbar bevorstand, ließ das Paar die Frau und ihre Familie vorzeitig einziehen, beide Familien teilten sich über Wochen das Gebäude. Doch das Geld kam trotz wiederholter Beteuerungen nicht, dafür gab es immer neue Ausreden. Das Paar machte einen entscheidenden Fehler: Es händigte vorzeitig die Schlüssel aus – und war fortan im Unrecht bei den Bemühungen, die Nomaden aus dem Haus zu bekommen. Nun hat das Treiben allerdings doch noch ein gutes Ende gefunden. Die Leute, die fast ein Jahr im Keller hausten, sind nun wieder raus – und dürften nach der nächsten Immobilie Ausschau halten.
Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Als die Hauskauf-Nomaden endlich weiterzogen
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
Ein persönlicher Triumph – und ein klares Zeichen an Putin: Mit ihrer Haltung zum Ukrainekrieg hat die estnische Premierministerin die Parlamentswahl gewonnen: Kaja Kallas holte so viele Stimmen wie noch kein Kandidat seit der Unabhängigkeit von der Sowjetunion .
So teuer ist die Pflege in Heimen geworden: Der Platz im Pflegeheim wird für viele unbezahlbar. Eine neue Auswertung zeigt, wie stark die Eigenbeteiligung in den Bundesländern gestiegen ist – in einzelnen Heimen um knapp 2000 Euro im Monat .
Wie ein Raubtier, das nicht satt wird: Max Verstappen in Topform, der Teamkollege ebenfalls, das Auto sowieso: Red Bull triumphiert auch beim Saisonauftakt in Bahrain. Die Konkurrenz kapituliert fast – »die spielen mit uns«, sagt Mercedes-Chef Toto Wolff .
Was heute weniger wichtig ist
Ritter der Kokosnuss: Der britische Ex-Premier Boris Johnson will seinen Vater Stanley Johnson mit dem Titel »Sir« würdigen lassen. In der Liste der traditionellen »Resignation Honours«, mit denen britische Ex-Regierungschefs nach ihrem Abschied verdiente Persönlichkeiten ehren können, taucht Johnson Senior als eine von rund 100 Personen auf. Das letzte Go gibt aber der amtierende Premier, in diesem Fall Rishi Sunak, ein parteiinterner Konkurrent Johnsons, der ihm einen Strich durch die Rechnung machen könnte. Da ist er sich womöglich einig mit der Opposition: »Ich denke, das entspricht dem Verhaltensmuster Boris Johnsons rund um Vetternwirtschaft«, sagte Wes Streeting von der Labour-Partei.
Mini-Hohlspiegel

Aus »Österreich am Sonntag«
Hier finden Sie den ganzen Hohlspiegel.
Cartoon des Tages

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Illustration: Thomas Plaßmann
Und heute Abend?
Vor 40 Jahren wurde in Deutschland der letzte Song aus Michael Jacksons wegweisendem Album »Thriller« ausgekoppelt, es war die namensgebende Single »Thriller«. Dieses Werk würde Jackson überdauern, das war damals schon klar. Ich möchte Ihnen gern die Pianistin Natalie Tenenbaum ans Herz legen, eine recht unbekannte Studiomusikerin und Filmmusikkomponistin, die noch nicht mal geboren war, als »Thriller« erschien. Sie kam in Israel zur Welt und zog 2003 nach New York.

Meilenstein der Musikvideo-Geschichte: »Thriller« von Michael Jackson
Foto: Mary Evans / Sony / IMAGOAus Anlass des Jubiläums nahm sie ein »Ultimate Michael Jackson Mashup« auf, in dem sie neben Thriller-Kompositionen auch Songs des Nachfolgealbum »Bad« zu einem Medley vermengte. Ich habe selten so viel Fingerakrobatik, selten so viel Verve, selten so viel Hingabe am Klavier erlebt. Tenenbaum ist Pianistin und Rhythmusgruppe in einem, als Schlagzeug dient der Klavierdeckel, als Gitarre die Saiten im Klavier, beides nimmt sie parallel zum Spiel auf und ruft es per Pedal ab. Ein Erlebnis, hören Sie mal rein .