
Die Lage am Abend Wann Mehrheit Mehrheit ist

Guten Abend, die drei Fragezeichen heute:
Demokratie in Berlin – was sind schon 105 Stimmen?
Überall Ballons – seit wann fliegen sie denn?
Maaßen soll gehen – wird die CDU den Mann jetzt los?
1. Was sind schon 105 Stimmen?
Wer sich bildlich vorstellen möchte, wie schön Demokratie ist, sollte sich einen einzigen S-Bahnwagen in Berlin vorstellen. Darin, stellen wir uns vor, sind alle Sitzplätze belegt, und zusätzlich stehen noch neun Fahrgäste auf dem Gang herum. Macht insgesamt 105 Leute, für deren Abklappern ein Verkäufer der Obdachlosenzeitschrift »Motz« höchstens zwei Minuten braucht. Oder eben genau die 105 Stimmen, mit denen am Ende der Auszählung die SPD vor den Grünen lag.
Zwar hat die CDU in der Hauptstadt dagegen eine ganze Kleinstadt an Stimmen hinzugewonnen. Aber SPD, Grüne und Linke haben bereits signalisiert, dass sie gemeinsam sehr gern wieder eine »regierungsfähige Koalition« auf die Beine stellen würden. Ob das mit der regierenden, gleichwohl angezählten Franziska Giffey als Bürgermeisterin geschehen wird? Man weiß es nicht. Schon fordern erste Genossen einen »Neuanfang«, womöglich ohne Giffey an der Spitze . Nach der Wiederholungswahl ist vor den Verhandlungen.
Die grüne Bettina Jarasch jedenfalls hat signalisiert (womit »signalisieren« die eigentlich immer?), Mehrheit sei Mehrheit, auch wenn es eben nur eine Mehrheit von 105 Stimmen ist, und daraus ausnahmsweise mal keinen »Auftrag zur Regierungsbildung« abgeleitet, wie das heute leider auch bei klareren Verlierern üblich zu sein scheint. Wenn jemand sich auf die Suche nach Partnern machen muss, dann die siegreiche CDU.
Auf Bundesebene mag das Ergebnis von Berlin gerade für SPD und FDP bedauerlich sein. Speziell für die FDP, der in der Ampel unter Umständen verloren gegangen ist, was sie ihr »Profil« nennen würde .
Übrigens ist es in einer Demokratie durchaus üblich, dass drei befreundete Parteien nun einmal gewonnen haben, falls es für den einsamen Spitzenreiter allein nicht reichen sollte. Wenn Bundespolitiker von CDU und CSU jetzt das Rote Rathaus für die CDU fordern, sollten sie das vielleicht etwas leiser tun. Könnte sein, dass bald in einem (östlichen) Bundesland die AfD zur stärksten Kraft wird – und nur von einer Koalition, sagen wir, weniger Demokratie-skeptischer Parteien von der Macht abgehalten werden kann.
Lesen Sie hier mehr: Die CDU kann sich bei der SPD bedanken
2. Seit wann fliegen sie denn?
Nein, den Hinweis auf »99 Luftballons« von Nena wollen wir an dieser Stelle nicht noch einmal bemühen (den gab's ja schon). Stattdessen sei darauf hingewiesen, dass der Ballon zu den ältesten Mitteln zählt, die man in der militärischen Aufklärung kennt. In China sowieso, aber auch die Franzosen setzten diese Dinger gern ein. Im Einsatz waren sie zuletzt als Sperrballons gegen feindliche Flieger. Und im Zweiten Weltkrieg – dies nur als Erklärungsversuch für US-spezifische Hysterien – experimentierten die Japaner mit Ballonbomben. 9000 sollen auf den Weg über den Pazifik geschickt worden, 1000 sollen angekommen sein – und einer davon forderte sechs Todesopfer.
Seit die USA vor zehn Tagen einen mutmaßlichen chinesischen Spionageballon in ihrem Luftraum abgeschossen haben, geht es plötzlich Ballon auf Ballon. Zuerst hat China dementiert, dann von einem Wetterballon gesprochen – und beschuldigt nun seinerseits die USA, China ebenfalls mit Ballons auszuspähen. Es sei überdies »ziemlich klar«, so ein Sprecher des chinesischen Außenministeriums im Hinblick auf Abhöraktivitäten der USA in aller Welt, »welches Land das führende Spionage-Imperium in der Welt ist«.
Offenbar waren diese Ballons, von wem auch immer in welche Richtung auch immer ausgesandt, schon länger unterwegs. Warum sie nun plötzlich zum Thema werden? Das mag durch innenpolitische Debatten in den USA angeheizt sein, bei denen die Republikaner den Demokraten Schwäche vorwerfen. Es mag aber auch daran liegen, dass man auf diese unidentifizierbaren Flugobjekte bisher einfach nicht so sehr geachtet hat. Wie es so ist. Wir kennen das ja aus dem eigenen Alltag. Fällt einem einmal was auf, sieht man es überall.
Lesen Sie hier mehr: Unbekannte Flugobjekte über Nordamerika – woher diese Häufung?
3. Wird die CDU den Mann jetzt los?
Es kommt nicht oft vor, dass ein Mitglied des Kanuvereins kleine Löcher in die Boote bohrt und die Ruder ansägt. Wenn das aber der Fall ist, wird der Betreffende in der Regel ausgeschlossen aus dem Verein. Auch dann, wenn er vorgibt, mit seinen Taten nur zum Wohl des Ganzen beigetragen haben zu wollen. Er ist dann eben nicht mehr tragbar.
So geht es nun der CDU mit Hans-Georg Maaßen, der einmal sieben Jahre den Verfassungsschutz geleitet und spürbar ins, gelinge gesagt, Obskure abgerutscht ist. In der Partei hat der ehemalige Spitzenbeamte keine Funktion. Er ist nur Vorsitzender der, gelinde gesagt, rechtskonservativen »Werteunion«, die in der CDU ebenfalls keine Funktion hat – nur eben viele Mitglieder aus CDU und CSU.
Der Bundesvorstand der CDU hat nun einstimmig beschlossen, was zu erwarten – oder doch zu erhoffen – war, nämlich ein Parteiausschlussverfahren gegen einen Mann einzuleiten, der »laufend gegen die Grundsätze und Ordnung der Partei« verstoße. Sein verschwörungsideologisches und völkisches Vokabular ist dabei von dem der AfD nicht zu unterscheiden.
Maaßen selbst beweist Chuzpe und hat in einem Brief an CDU-Generalsekretär Mario Czaja statt eines Ausschlusses für eine »Warnung« plädiert, die er, soviel Kulanz muss sein, »grundsätzlich zu akzeptieren bereit wäre«. Fraglich, ob sich der Vorstand auf solche Tänzchen einlässt und Maaßen an der langen Leine weiterlaufen lässt. Bedenkenswert ist dennoch, was mein Kollege Veit Medick schon vor knapp zwei Wochen geschrieben hat : »Außerhalb der CDU könnte er zur größeren Bedrohung heranreifen als innerhalb«.
Lesen Sie hier mehr: CDU-Bundesvorstand beschließt Parteiausschlussverfahren gegen Maaßen
Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine
Nato-Generalsekretär Stoltenberg schließt Kampfjets für die Ukraine nicht aus: Erst Kampfpanzer, nun auch Kampfjets? Die mögliche Lieferung von Flugzeugen in die Ukraine ist im Westen umstritten. Nun hat Nato-Chef Stoltenberg skizziert, ob und wann eine Entsendung realistisch sein könnte.
Moldaus Präsidentin warnt vor russischem Staatsstreich: Der ukrainische Präsident Selenskyj will Informationen darüber haben, wie der Kreml versuchen könnte, die Macht in Moldau zu erlangen. Nun ruft die Präsidentin der Republik zur Wachsamkeit auf.
Russische Airlines bitten offenbar um lockere Wartungsregeln: »Ausnahmsweise« sollten bestimmte Wartungsintervalle verlängert werden: Einem Bericht zufolge leiden russische Airlines wegen der Sanktionen unter Ersatzteilmangel. Betroffen sind Maschinen von Boeing, Airbus und Co.
Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update
Was heute sonst noch wichtig ist
EU entgeht offenbar einer Rezession: Es kommt wohl nicht so schlimm wie befürchtet: Die Europäische Union hat nach Ansicht der Kommission die Energiekrise gut gemeistert. Deutschland schrammt wohl knapp an einer Rezession vorbei.
Frau nach 170 Stunden unter Trümmern gerettet: Nach dem Beben in der Türkei und Syrien ziehen Retter immer seltener Menschen lebend aus den Trümmern. In Gaziantep überlebte eine 40-Jährige sieben Tage in den Ruinen eines fünfstöckigen Hauses – fast schon ein Wunder.
Lauterbach will Notaufnahmen der Krankenhäuser entlasten: Die Notfallmedizin gerät vielerorts an ihre Grenzen – nicht erst seit Corona. Nun hat eine Expertenkommission konkrete Reformvorschläge geliefert, die vom Gesundheitsminister unterstützt werden.
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
»Und am 18.6. ist dann die Welt untergegangen«: Mehr als zwei Jahre lang hat Markus Braun geschwiegen. Nun hat der Ex-Chef des Skandalkonzerns Wirecard vor Gericht seine Version der Geschichte erzählt – und was er über seinen geflohenen Ex-Buddy Jan Marsalek denkt .
Der Brexit macht die Briten ärmer: Der EU-Austritt sollte die Briten von ihren vermeintlichen Fesseln befreien. Doch drei Jahre später steckt das Land in einer tiefen Krise. Und die Ökonomen vom Internationalen Währungsfonds prophezeien: Der Absturz geht weiter .
Sein letzter Zweifler ist er selbst: Jalen Hurts galt vielen Fachleuten lange als Mittelklasse-Quarterback. Im Super Bowl lieferte der Spielmacher der Philadelphia Eagles nun eine historisch gute Leistung ab – und war am Ende doch am Boden zerstört .
Was heute weniger wichtig ist
Geburtsanzeige: Während alle Welt über den Babybauch von Rihanna, 34, redet, droht fast unterzugehen, dass auf den neusten Instagram-Posts der Schauspielerin Blake Lively, 35, kein Babybauch mehr zu sehen ist – so halb dezent hat sie der Welt die Kunde von der Geburt ihres vierten Kindes überbracht, dazu die Worte: »Puppy Bowl Sunday, war beschäftigt«.
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Illustration: Thomas Plaßmann
Und heute Abend?
Geht es in fünf Episoden durch die Kulturgeschichte der Menschheit. Gewiss, da kann man auch Egon Friedells ebenso mehrbändige wie unbändige »Kulturgeschichte« lesen. Oder die tonnenschweren »Propyläen Weltgeschichte« studieren. Aber die fünf Episoden von »Cunk on Earth« auf Netflix sind nicht nur leichter verdaulich, sondern auch entschieden komischer.
Als Kunstfigur namens Philomena Cunk schreitet hier die britische Schauspielerin und Komödiantin Diane Morgan im Sauseschritt den Zeitstrahl entlang – von den ersten Höhlenmalereien, von denen sie wenig beeindruckt ist, bis zum Smartphone: »Sie starren sicher gerade auf eins, statt mich anzusehen, während ich das sage«. Cunk ist ignorant und respektlos, unbeeindruckt auch gegenüber ehrwürdigen Expertinnen auf dem Feld der Schrift, der Malerei oder der Skulptur.
So erklärt sie vor einer Skizze von Leonardo da Vinci für einen Helikopter, ihr – immer wieder erwähnter – Freund »Paul« habe eine bedeutend beeindruckendere Skizze für das Laufrad einer Schlange angefertigt. Wenn sie über den Islam referiert, ist eine schwarze Texttafel eingeblendet: »Dieser Inhalt ist in Ihrem Gebiet nicht verfügbar«.
Hübsch auch, wie sie in der letzten Folge wissen will, ob Elvis sich »auf Social Media« schon für seine »kulturelle Appropriation« schwarzer Musik entschuldigt habe. Als ihr gesagt wird, dass Elvis tot ist, folgert Cunk: »Dann hat er sich jetzt den Lebensstil der Toten angeeignet? Was für ein verdammter Dieb!«.
Zwar hat man schnell verstanden, wie diese Komik funktioniert. Aber fünf Episoden sind keine 15.000 Jahre. Und wir können nebenbei ja immer noch aufs Smartphone gucken.
Einen lehrreichen Abend wünscht Ihnen
Ihr Arno Frank, Autor
Anmerkung: In einer früheren Version dieses Textes hieß es fälschlicherweise, die Berliner Verkehrsbetriebe würden die S-Bahn betreiben. Es ist aber eine Tocher der Deutschen Bahn, wir haben die Stelle korrigiert.