Alexander Neubacher

Die Lage am Abend Die Arroganz der Ampelmacht

Guten Abend, die drei Fragezeichen heute:

  1. Wahlrechtsreform: Missachtet die Ampelkoalition die Anstandsregeln der Demokratie?

  2. Emissionen: Deutschland erreicht sein Klimaziel 2022 – aber reicht das?

  3. Weltfußball: DFB gegen Infantino – na und?

1. Die Ampel verbiegt das Wahlrecht

Die Ampelkoalition ist offenbar entschlossen, ihren Plan für eine Wahlrechtsreform mit Macht durchzusetzen. Mag die Opposition auch noch so laut protestieren. Am Freitag soll im Bundestag abgestimmt werden; die Koalitionsmehrheit steht. Probeabstimmungen in den Regierungsfraktionen am Dienstag endeten einstimmig (Grüne, FDP) oder mit überwältigender Mehrheit (SPD).

Der Ampelplan sieht vor, dass die Zahl der Abgeordneten von derzeit 736 auf 630 verringert wird.  Einige Erststimmenkönige und Wahlkreisgewinner könnten künftig kein Bundestagsmandat bekommen. Außerdem soll die Grundmandatsklausel abgeschafft werden. Bislang ziehen Parteien in den Bundestag ein, sobald sie mindestens drei Direktmandate holen, auch wenn sie insgesamt an der Fünfprozenthürde gescheitert sind.

Dass der Bundestag, das zweitgrößte Parlament der Welt nach dem chinesischen Volkskongress, kleiner werden soll, ist gut und richtig. Doch das Verfahren der Koalition ist es meiner Meinung nach nicht. Dass die neue Regel vor allem zulasten der Opposition geht, zeigt die ganze Arroganz der Ampelmacht.

Die CSU muss fürchten, künftig aus dem Bundestag zu fliegen, wenn sie die bundesweit geforderten fünf Prozent nicht erreicht. Zuletzt lag sie nur knapp darüber, obwohl sie in Bayern in 45 von 46 Wahlkreisen das Direktmandat holte.

Glaubt die Ampelkoalition im Ernst, es diene der Demokratie, wenn die ganzen CSU-Leute künftig draußen bleiben? Oder die Linke, die in einigen Gegenden noch immer Volkspartei ist? Ohne Grundmandatsklausel wäre die Linke schon in dieser Legislaturperiode nicht im Bundestag vertreten.

Nun kann man der CSU mit Recht vorwerfen, dass sie in den vielen Regierungsjahren mit Unionsmehrheit nichts getan hat, um den Bundestag auf faire Weise zu verkleinern. Und dass die Linke mit gerade mal drei gewonnenen Wahlkreisen gleich eine ganze Fraktion mit 39 Abgeordneten bilden darf, ist sicher auch nicht der Weisheit letzter Schluss.

Doch ein so weitreichender Eingriff in das Regelwerk der Demokratie sollte sich bitte auf einen breiten, möglichst lagerübergreifenden Kompromiss stützen, nicht nur auf die aktuelle Regierungsmehrheit. Darüber herrschte bislang auch weitgehend Einigkeit in der deutschen Politik.

Die Ampel hat diesen Konsens nun rücksichtslos aufgekündigt, mit weitreichenden Folgen. Wird künftig jede neue Regierung das Wahlrecht im eigenen Sinne umbiegen? Die Gefahr besteht: Man könnte es ja mal versuchen. Das Prinzip erinnert an die USA, wo durch das sogenannte Gerrymandering trickreich immer mal wieder Wahlkreisgrenzen und damit auch Mehrheiten verschoben werden.

Mit ihrem Vorgehen hat die Ampel viel Vertrauen zerstört. Ihr bleiben keine zwei Tage, um auf die Opposition zuzugehen und den Schaden für die Demokratie zu begrenzen.

2. Kaum zu glauben, aber Deutschland erfüllt sein Klimaziel 2022

Deutschland hat sein Klimaziel für 2022 geschafft. Das erklärte heute das Umweltbundesamt. Der Ausstoß an klimaschädlichen Treibhausgasen sank nach vorläufigen Zahlen um 1,9 Prozent gegenüber dem Vorjahr, also um etwa 15 Millionen Tonnen. Er liegt jetzt bei 746 Millionen Tonnen. Im Vergleich zu 1990, dem Jahr, das bei den Klimazielen der Bundesregierung als Vergleichsjahr gilt, beträgt der Rückgang jetzt mehr als 40 Prozent.

Einige Bereiche haben allerdings deutlich mehr zur Einsparung beigetragen als andere. Die Industrie schaffte einen Rückgang der Emissionen von 10,4 Prozent. Wohingegen bei der Energieerzeugung sogar 4,4 Prozent mehr Emissionen anfielen, vor allem wegen des Kohlestroms. Im Verkehrsbereich gab es einen kleinen Rückgang um 0,7 Prozent. Bei den Gebäuden waren es minus 5,3 Prozent.

Wenn man bedenkt, dass der Krieg in der Ukraine das deutsche Energiesystem erschüttert hat und es nach Corona außerdem viel Nachholbedarf gab, ist das keine schlechte Bilanz. Ich schreibe das, weil man sonst ja oft den Eindruck hat, in der Klimapolitik gehe nichts voran.

Trotzdem ist das Umweltbundesamt nicht zufrieden. Um die Vorgaben des Klimaschutzgesetzes bis 2030 einzuhalten, das Ziel sind minus 65 Prozent gegenüber 1990, müsste es ab jetzt dreimal so schnell gehen. Doch es hängt vor allem in den Bereichen Verkehr und Gebäude.

Ein Team aus unserem Wissenschaftsressort hat die Optionen zusammengetragen , mit denen die Bundesregierung beim Klimaschutz zulegen könnte: Tempolimit, Schluss mit Öl- und Gasheizungen, Wärmenetze in den Städten, Förderung von E-Autos statt Verbrennerfahrzeugen. Das entspricht im Wesentlichen den Forderungen der Grünen in der Koalition. Die FDP hingegen setzt auf einen verschärften Emissionshandel, der alle Bereiche übergreifend abdeckt.

3. Fifa-König Infantino regiert

Der Deutsche Fußball-Bund DFB wird Fifa-Chef Gianni Infantino morgen bei dessen Wiederwahl die Unterstützung verweigern. Das teilte heute DFB-Präsident Bernd Neuendorf in der ruandischen Hauptstadt Kigali mit. Die Auswirkungen auf den Weltfußball werden ähnlich bedeutsam sein wie bei der Frage, ob deutsche Spieler eine Regenbogenbinde tragen oder nicht, nämlich null. Infantinos Amtsverlängerung ist längst ausgemacht. Es gibt nicht mal einen Gegenkandidaten.

Ebenfalls geeinigt hat sich die Fifa auf neue Regeln für die nächste Männer-WM 2026 . Bei der Endrunde in den USA, Kanada und Mexiko sollen 48 Teams in insgesamt 104 Partien antreten. Das sind 16 Teams und 40 Spiele mehr als bislang. Dazu wird eine zusätzliche K.-o.-Runde vor dem Achtelfinale eingeführt.

Die Fifa argumentiert, dass die WM noch weltumspannender werden soll. Aber, wie mein Kollege Peter Ahrens schreibt , natürlich geht es auch um Geld: »Mehr Spiele bedeuten mehr TV-Einnahmen, eine einfache Rechnung. In Katar hat die Fifa gut sieben Milliarden Euro eingenommen. 2026 peilt der Weltverband eine Marke von elf bis vielleicht sogar 13 Milliarden Euro an.«

Aus Teilen der Fußballwelt kommt dazu Kritik. So viele Partien seien Raubbau an der Gesundheit der Spieler; die vielen weit entfernten Spielorte bedeuteten Reisestress und Klimaschäden, das sportliche Niveau leide.

Ich glaube allerdings, dass es sich dabei um eine sehr deutsche Sichtweise handelt. Fifa-König Infantino hat längst verstanden, dass er die Deutschen nicht braucht.

Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:

  • Russland möchte Drohnenwrack bergen: Ein russischer Kampfjet kollidiert mit einer US-Drohne. Das Objekt stürzt ins Schwarze Meer, Washington zürnt. Russland hat nun Interesse an dem Wrack bekundet.

  • Aus Niedersachsen direkt an die Front: Ukrainische Soldaten haben ihre Ausbildung am Kampfpanzer Leopard 2 in Deutschland abgeschlossen. Bald kehren sie an die Front im Donbass zurück – und hoffen auf einen Durchbruch gegen Hunderttausende russische Rekruten.

  • »In einer entscheidenden Zeit werden die Ukrainer zu Kriegern«: Die Schlacht um die Stadt Bachmut tobt weiter. Präsident Selenskyj und seine Militärs rufen zum Durchhalten auf – und beschwören die Stärke der Ukraine.

Podcast Cover

Was heute sonst noch wichtig ist

  • Finanzprüfer des Bundes rechnen mit der Bahn ab: Seit Jahren steigen die Schulden der Bahn – und zwar um fünf Millionen Euro jeden Tag. Das schreibt der Bundesrechnungshof in einem Bericht über den Konzern. Er spart nicht mit Kritik am Eigentümer, dem Bund.

  • RTL Zwei sagt umstrittene Wendler-Doku ab: RTL Zwei wollte Skandalsänger Michael Wendler abermals eine Plattform bieten – trotz dessen rechtsextremer Äußerungen und Verschwörungserzählungen. Jetzt verabschiedet sich der Sender von seinen Plänen.

  • Russische Öleinnahmen sinken um 42 Prozent: Wirkt der Ölpreisdeckel der G7? Nach den Daten der IAE verdient Russland inzwischen deutlich weniger mit dem Verkauf von Erdöl. Und die Probleme könnten noch größer werden.

Meine Lieblingsgeschichte heute: Gehirnjogging beim Einkaufen

Geburtstage und Telefonnummern konnte ich mir immer schon schlecht merken; in jüngerer Zeit kommen auch Gedächtnislücken beim Einkaufen hinzu. Was ich nicht in meine Handy-App schreibe, wird vergessen. Eine Alterserscheinung? Bin ich auf dem Weg in die Verblödung?

Die Frankfurterin Susanne Hippauf glaubt , dass es eher mit einem Mangel an Training zu tun haben könnte. Sie selbst hat bei einem Gedächtniswettbewerb gerade einen neuen Rekord aufgestellt. Sie konnte 15.637 Nachkommastellen der Zahl Pi fehlerfrei aufsagen. 15.637!

Meiner Kollegin Franziska Schindler hat sie verraten , wie das geht: »Ich wandele die Zahlen von 00 bis 99 in Bilder und Personen um. Die 08 steht zum Beispiel für eine Babygiraffe, die 28 für meine Mutter, weil sie am 28. Juli Geburtstag hat. Die Bilder lege ich auf einer Route ab, die ich vor dem inneren Auge immer wieder abgehe. Für Pi habe ich einen Weg, der in Deutschland startet und mich um die ganze Welt führt.«

Hippauf sagt, sie arbeite viel mit Emotionen. Wenn sie später noch ein Brot holen müsse, stelle sie sich den ersten Biss vor, wie gut es duftet. Sie rät dazu, sich nicht alles aufzuschreiben oder ins Handy einzutippen. Außerdem sei Bewegung ihr wichtig. Und wenn sie Zahlen aufsage, dann am liebsten im Stehen mit geschlossenen Augen. So könne sie Erinnerungen besser abrufen.

Ich werde den Trick demnächst auszuprobieren. Sollten Sie einen Mann sehen, der an der Wursttheke mit geschlossenen Augen »Babygiraffe« vor sich hinmurmelt, seien Sie bitte nachsichtig mit mir.

Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen

  • Kollision mit dem Sensenmann: Russische Kampfjets sollen über dem Schwarzen Meer eine US-Drohne zum Absturz gebracht haben. Washington zeigt sich empört. Steckt dahinter ein Moskauer Plan – oder nur Dummheit der Piloten ?

  • Operation Thronfolge: Winfried Kretschmann hat noch drei Jahre als Landeschef vor sich. Und doch wird intensiv über seine Nachfolge spekuliert. Ein Name, der immer wieder fällt: Cem Özdemir. Will er auch? 

  • Warum Matthias Domaschk in Stasi-Haft starb: In Jena stieg ein junger Mann 1981 in einen Schnellzug nach Berlin, kam aber nie an. Nun haben MfS-Offiziere ihr Schweigen über den Tod von Matthias Domaschk gebrochen – und sein letzter Vernehmer hat eine Botschaft an die Familie .

Was heute weniger wichtig ist

Nachwuchs: Lindsay Lohan, 36, erwartet ein Kind. Die US-Schauspielerin verkündete ihre Schwangerschaft auf Instagram, wo sie das Bild eines Babystramplers mit der Aufschrift »Coming soon...« veröffentlichte. In den vergangenen Jahren hatte der frühere Disney-Kinderstar eher mit Alkohol- und Drogeneskapaden für Schlagzeilen gesorgt. Zwischenzeitlich saß Lohan sogar im Gefängnis. Zu den ersten Gratulantinnen auf Instagram gehörten Paris Hilton (»Willkommen im Mama-Klub«) und Donatella Versace.

Mini-Hohlspiegel

Veranstaltungshinweis im Gemeindebrief der Kirchengemeinde Büdelsdorf und Rickert

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Entdecken Sie hier noch mehr Cartoons.

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Illustration: Klaus Stuttmann

Und heute Abend?

Viele Menschen in Deutschland haben »Im Westen nichts Neues« in der Schule gelesen. Womöglich fürs Abitur. Was dem Erfolg des Buchs einerseits genutzt und andererseits geschadet hat. Der Fluch der Pflichtlektüre: Wer erinnert sich schon gern an etwas, das mit Prüfung, Benotung, Arbeit verbunden war?

Mein Kollege Felix Bohr  hat den Oscar-Erfolg der Neuverfilmung zum Anlass genommen, sich Erich Maria Remarques Buch noch einmal vorzunehmen. »Wir waren 18 Jahre und begannen die Welt und das Dasein zu lieben.« So steht es da und lässt einem einen Schauer über den Rücken laufen. »Die erste Granate, die einschlug, traf in unser Herz.«

Remarque, geboren 1898 in Osnabrück, hatte den Horror des Ersten Weltkriegs als junger Soldat selbst nur knapp überlebt. Seine traumatischen Erlebnisse tippte er in vier Wochen herunter. Auf die Frage, ob er ein pazifistischer Schriftsteller sei, sagte er später: »Ich dachte immer, jeder Mensch sei gegen den Krieg, bis ich herausfand, dass es welche gibt, die dafür sind, besonders die, die nicht hineingehen müssen.«

Sollten Sie Ihre Schulausgabe von »Im Westen nichts Neues« noch im Regal finden: Schauen Sie doch noch einmal hinein. 

Ich wünsche Ihnen einen guten Abend.

Ihr Alexander Neubacher, Leiter Meinung und Debatte

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.

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