Anna Clauß

Die Lage am Abend Feminismus und Fantasie

Guten Abend, die drei Fragezeichen heute:

  1. Weltfrauentag – wann können wir ihn abschaffen?

  2. Sabotage – was wissen wir über die Pipeline-Sprengung in der Ostsee?

  3. Evangelische Kirche – wie erklärt sich die Austrittswelle der Mitglieder?

1. Die Weltmänner-Konferenz muss warten

Sind wir in Deutschland nicht längst gleichberechtigt? »Wir sind weit davon entfernt«, findet SPIEGEL-Redakteurin Hanna Zobel in ihrem Kommentar zum heutigen Weltfrauentag. Auf der Faktenseite zeugten davon »endlose Statistiken und auf der persönlichen Ebene tägliche Erfahrungsberichte von Frauen«. Die Probleme reichten von einer ungleichen Verteilung der Arbeitslast im Privaten bis zu struktureller Ungleichheit in Unternehmen, der Politik, bei der körperlichen und finanziellen Sicherheit. »All dies aufzuzählen, widerstrebt mir regelrecht«, schreibt Hanna, »denn es wurde schon viel zu oft getan«.

Ja, der Weltfrauentag ist auch dieses Jahr wieder Weltforderungstag:

  • Die SPD fordert lebenslange Haft für Femizide, die nicht mehr länger als »Beziehungsdrama« oder »Familientragödie« verharmlost werden dürfen.

  • Ökonomen fordern eine Reform des Ehegattensplittings und des Elterngeldes, weil Studien zeigten, »dass in Deutschland das Einkommen von Müttern zehn Jahre nach Geburt des ersten Kindes noch 60 Prozent unter dem Einkommen im Jahr vor der Geburt lag«, so die Makroökonomin Nicola Fuchs-Schündeln von der Goethe-Universität Frankfurt.

  • Das Kinderhilfswerk Unicef fordert mehr Aufmerksamkeit für die mehr als eine Milliarde Mädchen und Frauen, die weltweit an Unterernährung leiden.

  • Die Antidiskriminierungsbeauftragte der Bundesregierung, Ferda Ataman, fordert eine Verschärfung des Gesetzes gegen ungleiche Bezahlung, weil es noch »zu viele Schlupflöcher« gebe.

  • Das Autorenduo Vincent-Immanuel Herr und Martin Speer fordert in einem Gastbeitrag, dass Männer zum Weltfrauentag weder Blumen noch Pralinen schenken, sondern unter anderem mehr zuhören sollten.

Aber was folgt nun aus all diesen Forderungen, die doch vermutlich jeder bei klarem Verstand nur unterschreiben kann? Leider nicht viel. »Neuerdings sind alle für die Frauen. Der Feminismus scheint in Deutschland eine Blütezeit zu erleben«, schreibt SPIEGEL-Chefredakteurin Melanie Amann im aktuellen Leitartikel . Die Frauenbewegung zerfranse allerdings »zwischen verkopften Projekten wie der feministischen Außenpolitik, dem verbissenen Klein-Klein wie der Gendersprache und irgendwelchen Schönwetter-Galas«, findet Melanie. »Wir erleben ein Zeitalter zwischen Champagner-Feminismus und Radikal-Feminismus, und kein Lager überzeugt oder inspiriert.«

Ich habe neulich ein Buch der CDU-Politikerin Renate Hellwig gelesen, eine der Protagonistinnen der wunderbaren Dokumentation »Die Unbeugsamen« über Frauen in der Bonner Republik. Wer ihre »gesellschaftspolitische Streitschrift« aus dem Jahr 1975 mit dem Titel »Frauen verändern die Politik« liest, merkt, dass sich viel getan hat über die letzten Jahre und dass Frauen meiner Generation heute ganz andere Chancen und Möglichkeiten haben als die der Generation von Renate Hellwig. Gleich zu Beginn heißt es allerdings: »Solange nicht auch die Delegierten der UNO davon überzeugt sind, dass endlich auch ein Jahr des Mannes zu den unentbehrlichen Einrichtungen der menschlichen Gesellschaft gehört, und solange niemand die Idee verficht, es sei nichts nötiger, als die Einberufung einer Weltmänner-Konferenz, zumindest so lange bleibt die Gleichberechtigung von Mann und Frau ein kontroverses und fantasieanregendes Thema auf der internationalen Diskussionsbühne.«

Die Forderung nach einem Weltmännertag habe ich heute jedenfalls noch nicht gelesen. Es bleibt also auch knapp 50 Jahre nach Hellwigs Worten genug für Frauen und Männer in Politik und Gesellschaft zu verändern.

2. Eine Art Kompliment

Heute Morgen wachte eine Freundin von mir, die auf einer Halbinsel an der südlichen Ostseeküste wohnt, auf und »rieb sich verwundert die Augen«, wie sie mir per Textnachricht schrieb. »Die Attentäter der Nord-Stream-Pipeline sollen mit ihrer Jacht von Rostock über Wieck nach Bornholm geschippert sein? Echt jetzt?«

Ja, Medien hatten am Dienstagabend unter Berufung auf Ermittler berichtet, dass die Attacke auf die Pipelines von einem sechsköpfigen Team durchgeführt worden sein soll. In dem Bericht von ARD, SWR und »Zeit«  war von einer Jacht die Rede, die mutmaßlich für die Geheimoperation verwendet wurde. Sie soll von einer Firma mit Sitz in Polen angemietet worden sein, die offenbar zwei Ukrainern gehört, und von Rostock aus in See gestochen sein.

Der ukrainische Verteidigungsminister Olexij Resnikow hat eine Beteiligung seines Ministeriums an der Sabotage der Gaspipelines Nord Stream 1 und 2 heute allerdings verneint. Dass ukrainischen Spezialkräften so ein Einsatz zugetraut wird, sei »eine Art Kompliment«, sagte Resnikow am Rande eines informellen Treffens mit den Verteidigungsministern der EU-Staaten in Schweden. »Aber das ist nicht unser Tätigkeitsfeld.« Die Story sei schräg, weil sie nichts »mit uns« zu tun habe.

Auch Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) warnte im Deutschlandfunk am Morgen vor voreiligen Schlüssen. Hinter den Explosionen könnte auch eine False-Flag-Operation stecken, um die Ukraine zu diskreditieren, sagte der Minister.

Meine Freundin bleibt skeptisch: »Die schippern mit nicht wenig TNT an Bord durch unsere flachen Boddengewässer, immer mit der Gefahr aufzusetzen und von Behörden frei gezogen werden zu müssen? Die machen halt an dem Minihafen Wieck, wo sie unter Augen der Webcam brav ihre Hafengebühr und die Kurtaxe zahlen? Dann schippern sie aus dem Bodden raus und müssen die Brückenöffnungszeiten bei Zingst beachten und fahren kompliziert an den Gewässern des Nationalparks an Hiddensee vorbei?«

Seit heute Morgen ist ein Team verschiedener SPIEGEL-Redakteure in der Region vor Ort, um Fragen wie diese Frage zu klären.

3. Den Glauben verloren

Die evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hat mit anhaltendem Mitgliederschwund zu kämpfen. Im vergangenen Jahr kehrten rund 380.000 Mitglieder der Kirche den Rücken, wie die EKD am Dienstag in Hannover mitteilte.

Es ist schon seltsam: Eigentlich müsste es doch in unsicheren und krisenhaften Zeiten wie diesen ein Bedürfnis nach Hoffnung, Glaube und Spiritualität geben. Andererseits spart man durch einen Kirchenaustritt natürlich auch Geld, das man in Zeiten hoher Inflationsraten gut für den nächsten Supermarkteinkauf verwenden kann. Natürlich haben auch die vielen Missbrauchsfälle im kirchlichen Kontext das Heil bringende Image der Kirchen nachhaltig zerstört.

Gegen die steigenden Austrittszahlen soll nun unter anderem ein verstärktes Taufengagement beitragen. Die EKD kündigte an, in diesem Jahr am 24. Juni erstmals einen bundesweiten Tauftag zu feiern. Dabei sollen zahlreiche Tauffeste und Taufgottesdienste veranstaltet werden.

Podcast Cover

Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:

  • Schweiz reagiert zurückhaltend auf deutsche Pläne zu Panzerrückkauf: Deutschland schickt Leopard-2-Kampfpanzer in die Ukraine – die Lücken bei der Bundeswehr könnten Geräte aus der Schweiz füllen. Doch Bundespräsident Berset bremst: Sein Land wolle »moderat bleiben«.

  • EU-Sanktionen gegen Mutter von Wagner-Chef nicht rechtens: Kurz vor Kriegsbeginn erließ die EU Sanktionen gegen hochrangige Russen – darunter auch die Mutter von Wagner-Chef Prigoschin. Einem Gericht reicht das Verwandtschaftsverhältnis jedoch nicht. Nun muss die EU nachbessern.

  • Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update

Was heute sonst noch wichtig ist

  • China »sehr besorgt« über möglichen USA-Besuch von Taiwans Präsidentin: Taiwans Präsidentin Tsai Ing-wen könnte bald erneut in die USA reisen. Peking warnt bereits vor dem möglichen Besuch. Die Regierung in Taipeh beschwichtigt.

  • Tod eines 15-Jährigen bringt Polens Regierungspartei in Bedrängnis: Der Sohn einer oppositionellen polnischen Abgeordneten nahm sich offenbar das Leben, nachdem er durch einen sensiblen Radiobericht identifiziert werden konnte. Der Vorfall beschäftigt nun auch das Parlament.

  • Elon Musk entschuldigt sich bei entlassenem Mitarbeiter: Bin ich nun gefeuert oder nicht? Elon Musk reagierte aggressiv bis herablassend, als ihn ein Angestellter öffentlich um eine Antwort bat. Nun aber hat der Twitter-Chef eine Kehrtwende hingelegt.

  • Floridas Gouverneur verlangt Sondergenehmigung für Djokovićs Einreise: Novak Djokovićs Impfstatus wird in den USA zum Politikum. Floridas republikanischer Gouverneur DeSantis erwartet von US-Präsident Biden eine Ausnahme für die Einreise des Serben – und bereitet schon einen Plan B vor.

Meine Lieblingsgeschichte heute: Von Harry Potter zu Hitler

Noch läuft mein achtjähriger Sohn in Dachau Schlittschuh, ohne das ehemalige Konzentrationslager ganz in der Nähe zu kennen. Wann sind Kinder alt genug, um vom Holocaust zu erfahren? Über diese Frage habe ich eine Elternkolumne geschrieben . Dank der Hilfe zahlreicher Lage-Leser und -Leserinnen, bei denen ich mich an dieser Stelle ganz herzlich bedanken möchte.

Besucher im Konzentrationslager Dachau

Besucher im Konzentrationslager Dachau

Foto: UIG / IMAGO

Am Holocaustgedenktag Ende Januar bat ich in der »Lage am Abend« um kindgerechte Buchtipps zum Thema Holocaust. Das Feedback war überwältigend, häufig sehr persönlich und immer spannend. Auf Analogien zwischen dem Dritten Reich und der Harry Potter Saga wies mich zum Beispiel SPIEGEL-Leserin Ines Prodöhl hin, die an der Universität Bergen in Norwegen Geschichte lehrt. Sie erkennt in der Potter-Saga als Grundmotiv »eine Form der Rassenideologie«, die vom Haus Slytherin, zu der auch Voldemort als das personifizierte Böse gehörte, ausgeht. Als Ausgangspunkt für Gespräche mit den eigenen Kindern darüber, dass es so etwas wie die Slytherins und Lord Voldemort auch in der Realität gab, eignen sich die Potter-Bücher gut.

Empfohlen wurde mir unter anderem auch das Bilderbuch über Anne Frank  aus dem Insel Verlag. Es liegt seit Tagen auf unserem Wohnzimmertisch, weil ich es unserem Jungen vorlesen will. Der Weltfrauentag biete sich besonders dazu an.

Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen

  • Die Frauen hinter Putin: Krieg gilt gemeinhin als Männersache. Doch in Russland treten auch Frauen als tragende Säulen des Putin-Regimes auf. Was das mit Stalin zu tun hat. Und warum selbst Soldatenmütter den Krieg unterstützen .

  • Darum geht es beim Massenprotest in Georgien: Tausende wehren sich in Tiflis gegen ein geplantes Gesetz: Nach russischem Vorbild soll es Regierungskritiker als »ausländische Agenten« kriminalisieren. Wird Georgien zu einem Nebenschauplatz des Ukrainekriegs? 

  • Warum die Hohenzollern klein beigeben: Die Hohenzollern ringen seit Jahren mit der öffentlichen Hand um Millionenwerte. Nun kündigt Prinz von Preußen teilweisen Verzicht an – Kulturstaatsministerin Roth spricht von einem »wichtigen Schritt« .

  • »So einen Rückschritt habe ich nicht für möglich gehalten«: Der »Gay Travel Index« gibt queeren Menschen Hinweise, an welche Orte sie sicher reisen können. Christian Knuth gestaltet ihn seit fünf Jahren mit – zwei Länder haben ihn diesmal besonders überrascht .

Was heute weniger wichtig ist

Ungewöhnliches Geständnis von Michelle Obama: Am Tag der Amtseinführung von Donald Trump habe sie »30 Minuten lang geweint«. Acht Jahre lang lebte Amerikas First Lady mit ihrer Familie im Weißen Haus. Im Januar 2017 dann zogen die Trumps ein. In ihrem neuen Podcast »The Light Podcast«  sprach Obama nun über die Tiefpunkte an diesem Tag. Nach der Amtseinführung von Trump, bei der auf der Bühne das Gegenteil von dem zu sehen gewesen sei, was die Obamas jahrelang repräsentiert hätten, seien sie und ihre Familie in die Regierungsmaschine gestiegen, erzählte die 59-Jährige. »Und als sich die Türen schlossen, habe ich 30 Minuten lang geweint, unkontrolliert geschluchzt, denn so sehr haben wir uns acht Jahre lang zusammengerissen.«

Als sie über das US-Kapitol in Washington geflogen seien, hätten dort nicht viele Leute gestanden, sagte die 59-Jährige. »Wir haben es gesehen.« Am Tag nach der Amtseinführung Trumps hatte sein damaliger Pressesprecher Sean Spicer bei seiner ersten Pressekonferenz sehr selbstbewusst behauptet: »Dies war das größte Publikum, das jemals einer Amtseinführung beiwohnte. Punkt!«

Mini-Hohlspiegel

Verstoß auf einem Strafzettel in Weingarten (Bad.-Württ.)

Verstoß auf einem Strafzettel in Weingarten (Bad.-Württ.)

Entdecken Sie hier noch mehr Cartoons.

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Illustration: Thomas Plaßmann

Und heute Abend?

Wie wäre es am Feiertag mit einem Feierabendbier? Seit heute ist »Muschicraft« auf dem Markt – jedenfalls in Berlin. Ein Bier »für Durstige mit feministischer Haltung«. Dass Bier als Männergetränk vermarktet werde, hat die Wiener Unternehmerin und Sozialarbeiterin Sophie Tschannett schon immer gestört.

»Die Brauer – alle männlich. Vorstand – männlich. Die Werbung – vollkommen männlich. Immer, wenn ich mit meinem Freund unterwegs war, habe ich sein Campari Soda bekommen und er mein Bier. Ich habe mich gefragt: Was steckt dahinter? Warum haben die Menschen abgespeichert, dass eine Frau kein Bier trinkt?«

Tschannett trifft im Interview mit meiner SPIEGEL-Kollegin Verena Mayer viele Aussagen, die in Nachrichtenmagazinen für gewöhnlich Seltenheitswert haben: »Ich möchte mit dem Bier zum Diskurs anregen« oder »Ich finde, Muschi ist ein schönes Wort«  Gemeinsam mit einer Kollegin hat Tschannett außerdem eine Petition gestartet, die den 8. März nach Berliner Vorbild auch in Österreich zum Feiertag werden lassen soll. Seit dem 2. Januar bis heute haben die beiden jeden Tag Gründe gesammelt, warum es den Weltfrauenfeiertag braucht. »Es war echt erschreckend, wie leicht das ging.«

Einen schönen Abend wünscht

Ihre Anna Clauß, Leiterin Meinung und Debatte

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