
Die Lage am Abend Putin gibt den Gernegroß

Guten Abend, die drei Fragezeichen heute:
Putins Rede zur Lage der Nation – was gab er von sich?
Faeser und Baerbock in der Türkei – welche Hilfe stellten sie in Aussicht?
Studie zu Digitalisierungsberufen – wie viele Menschen fehlen?
1. Väterchen Frust
Ob Wladimir Putin bei der Auswahl des Bühnenbildes die Proportionen bewusst gewesen sind? Drei Tage vor dem ersten Jahrestag des Kriegsbeginns gegen die Ukraine hielt der russische Machthaber vor dem Parlament und dem Föderationsrat seine 18. Rede zur Lage der Nation. Eine pompöse Säule mit russischem Wappen hinter ihm, überdimensionale russische Flaggen neben ihm, die Bühne so groß wie ein halbes Fußballfeld. Offenbar wollte Putin mit der Gestaltung des Konferenzzentrums Gostiny Dwor in Moskau vorwegnehmen, was er mit seinem Land anstrebt: Größe demonstrieren, Territorium einnehmen. Vor dem Kongressgebäude jubelten Putin-Anhänger mit Plakaten mit der Aufschrift »Russlands Grenzen enden nirgendwo«. Das Problem dabei ist, dass Putin vor dieser Kulisse aussah wie ein Zwerg, wie die kleinste aller Matrjoschka-Puppen.
Winzig war auch der Erkenntnisgewinn seiner Rede. Er servierte die übliche Propagandasuppe: Der Westen habe den Krieg losgetreten, der Westen sei ein Paradebeispiel für Lügen, der Westen wolle »das Volk zum Leiden bringen, um so unsere Gesellschaft zu destabilisieren«, der Westen wolle Russland »ein für alle Mal erledigen«, der Westen unterstütze in der Ukraine neo-nazistische Kräfte, um dort einen antirussischen Staat zu etablieren. Es war die gleiche Erzählung wie seit Monaten, kein neues Kapitel, keine überraschende Wendung, ein Märchen, bei dem Kinder in der Regel einschlafen, weil sie es schon auswendig können.
Immerhin drohte der russische Präsident nicht erneut direkt mit dem Einsatz von Atomwaffen. Allerdings verkündete er, die russische Beteiligung am letzten verbliebenen Atomwaffen-Kontrollvertrag »New Start« mit den USA auszusetzen. Die russischen Behörden rief er auf, sich für »Atomwaffentests bereit« zu halten, falls Washington solche Tests zuerst ausführen sollte.
Von Verhandlungen, wie sie beispielsweise Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht mit ihrer Initiative fordern, war bei Putin keine Rede. Der deutsche Militärexperte Carlo Masala hält sie aber für unausweichlich. Der Krieg werde letztlich am Verhandlungstisch beendet. »Auf dem Schlachtfeld werden die Voraussetzungen für Verhandlungen geschaffen«, sagte der Wissenschaftler von der Universität der Bundeswehr in München in einem Interview mit der dpa.
»Militärisch lässt sich der Konflikt nicht in dem Sinne lösen, dass die ukrainische Armee den letzten russischen Soldaten von ukrainischem Territorium vertreibt«, sagte Masala. »Das wird nicht funktionieren.« Bis die russische Führung ohne Vorbedingungen zu Verhandlungen bereit ist, müsse daher weiter militärische Hilfe durch den Westen gewährleistet sein. Die Ukraine müsse versuchen, die südliche von der östlichen Front zu trennen, also einen Keil reinzutreiben. Sollte damit auch die Krim fallen, »könnte das die russische Kosten-Nutzen-Kalkulation völlig verändern. Das könnte Putin sogar den Kopf kosten«, so Masala.
Lesen Sie hier mehr: »New Start«-Abkommen – Putin setzt Russlands Teilnahme am nuklearen Abrüstungsvertrag mit den USA aus
Sehen Sie hier Teile von Putins Rede im Video: Putins Rede zur Lage der Nation – Rechtfertigen, beschuldigen, verschweigen
Und hier weitere Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine:
Warum die Lieferung von Kampfpanzern nur schleppend vorangeht: Deutschland hat Schwierigkeiten, sein Panzerbataillon für die Ukraine zusammenzukriegen – was peinlich aussieht nach dem langen Zögern Berlins. Doch das Problem liegt dieses Mal nicht bei den Deutschen .
Wieso fliegen Russlands Flugzeuge immer noch, Herr Aboulafia? Russische Fluglinien wollen ihre Maschinen seltener warten – weil es weniger Ersatzteile gibt. Trotzdem halten Aeroflot und Co. erstaunlich lange durch. US-Experte Richard Aboulafia hat einen Verdacht, woran das liegt .
So blicken SPIEGEL-Journalisten auf das traurige Jubiläum: Christina Hebel und Christian Esch berichten für den SPIEGEL aus Russland und der Ukraine. Gemeinsam mit Martin Knobbe, Leiter des SPIEGEL-Hauptstadtbüros, beantworten sie heute Ihre Fragen.
Hier finden Sie alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine: Das News-Update
2. Warme Worte statt warme Stuben
Die Reise hatte Symbolcharakter. Gleich zwei deutsche Ministerinnen haben sich heute aufgemacht, um den Opfern des schweren Erdbebens in der Türkei ihr Mitgefühl auszusprechen. Innenministerin Nancy Faeser und Außenministerin Annalena Baerbock reisten gemeinsam in das Katastrophengebiet. »Es zerreißt uns allen das Herz, zu sehen, welch unfassbare Verwüstung und welch unendliches Leid dieses Erdbeben in der Türkei und in Syrien verursacht hat«, sagte Faeser.
Beide haben den Betroffenen des verheerenden Erdbebens im türkisch-syrischen Grenzgebiet bestmögliche akute Hilfe und anhaltende Unterstützung beim Wiederaufbau zugesagt. »Unser Mitgefühl erschöpft sich nicht in Worten und es wird auch nicht nachlassen, wenn die Katastrophe und ihre Folgen in den Nachrichten von anderen Schlagzeilen verdrängt werden«, versprach Außenministerin Annalena Baerbock.
Nachdem die Bundeswehr mit mehr als 20 Flügen über 340 Tonnen Hilfsmaterial in die Türkei gebracht hatte, transportierte die Luftwaffe erneut 13 Tonnen Hilfsgüter in die Türkei. Darunter seien 100 Zelte, 400 Feldbetten und mehr als 1000 Schlafsäcke, sagte Faeser. Die Hilfsgüter des Technischen Hilfswerks (THW) werden an den türkischen Katastrophenschutz übergeben. Vom Flughafen Gaziantep aus werden Hilfslieferungen sowohl für die Türkei als auch für den Nordwesten Syriens abgewickelt.
So wichtig diese Hilfsgüter sind, so sehr versagen die Ministerinnen an anderer Stelle. Vor zehn Tagen kündigte Faeser an, vielen den Weg nach Deutschland öffnen und Visaverfahren erleichtern zu wollen. Zumindest für ein paar Monate. Passiert ist aber bislang so gut wie nichts. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes hat Deutschland gut eine Woche nach Einführung des vereinfachten Visaverfahrens einer »zweistelligen Zahl« von Menschen aus der Türkei Einreiseerlaubnisse erteilt. Zweistellig! Betroffen sind 24,4 Millionen Menschen von den Folgen des Erdbebens an der türkisch-syrischen Grenze!
Migrantenverbände und Flüchtlingshilfsorganisationen beklagen, die Visaverfahren seien nach wie vor kompliziert. Für die Genehmigung müssten zehn Dokumente vorgelegt werden. Wie soll man die beschaffen, wenn sie alle unter einem Berg voller Schutt liegen? Wer kommen will, benötigt einen gültigen Reisepass und den Nachweis des bisherigen Wohnsitzes. Außerdem müssen Betroffene nachweisen, dass sie wirklich Opfer der Naturkatastrophe sind. Verwandte in Deutschland müssten zudem eine Verpflichtungserklärung abgeben, dass sie während des maximal dreimonatigen Aufenthalts für alle Kosten aufkommen.
Wenn Faeser und Baerbock tatsächlich ein Signal hätten senden wollen, wären sie in die 2,2-Millionen-Einwohnerstadt Gaziantep gefahren und hätten verkündet, dass eine befristete Einreise nach Deutschland auch mit einem Personalausweis möglich sei. Das taten sie nicht – hier erschöpft sich das Mitgefühl offenbar doch nur in warmen Worten.
Lesen Sie hier mehr: »Es zerreißt uns allen das Herz« – Baerbock und Faeser besuchen Erdbebengebiet in der Türkei
3. Schlägt Biologie die Technologie?
Erst kürzlich sorgte die aus künstlicher Intelligenz gespeiste Textsoftware ChatGPT für Aufsehen, es brachen wieder die üblichen Diskussionen auf, wann die Digitalisierung die Arbeit von Menschen wohl überflüssig macht. Wenn man den Text meines Kollegen Florian Diekmann gelesen hat, nicht allzu bald. Florian wertete eine Untersuchung des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) aus, wonach zumindest Deutschland gar nicht die Leute hat, die Digitalisierung entsprechend voranzutreiben.
Bis zum Jahr 2026 wird die Lücke bei Fachkräften in Digitalisierungsberufen auf einen Rekordstand wachsen. In den kommenden drei Jahren würden bereits knapp 106.000 Arbeitskräfte fehlen, die in jenen Berufen qualifiziert sind, die benötigt werden, um digitale Schlüsseltechnologien zu entwickeln, herzustellen oder zu verbreiten. Das wären mehr als im bisherigen Rekordjahr 2018, als die Fachkräftelücke knapp 100.000 Personen groß war.
Zwar steigt die Zahl der im Digitalisierungssektor beschäftigten Menschen bis zum Jahr 2026 auf 2,93 Millionen an, doch wird das den noch schneller wachsenden Bedarf der Wirtschaft voraussichtlich nicht decken können, bilanzieren die Forscher des IW.
Im Osten Deutschlands wird der Mangel an qualifiziertem Personal in Digitalisierungsberufen im Jahr 2026 noch deutlich stärker spürbar sein als im Westen – in der Vergangenheit war es umgekehrt. Dass die Situation im Osten ab dem Jahr 2026 noch angespannter sein dürfte als im Westen, führen die Forscher auf den demografischen Wandel zurück. Nicht nur in den technischen Ausbildungsberufen, sondern auch in den akademischen IT-Berufen gehen zunehmend mehr Beschäftigte in Rente – und es kommen nicht genügend ausgebildete Nachwuchskräfte neu auf den Arbeitsmarkt.
Wenn es wirklich so kommt, wie es die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des IW prognostizieren, wäre das eine paradoxe Entwicklung: Biologie schlägt Technologie.
Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Studie zu Berufen im Digitalbereich – Diese Fachkräfte fehlen der deutschen Wirtschaft
Was heute sonst noch wichtig ist
Baerbock kündigt »deutliche Reaktion« auf Todesurteil gegen Sharmahd an: Das Mullah-Regime hat den Deutsch-Iraner Jamshid Sharmahd zum Tode verurteilt. Außenministerin Baerbock nennt das »absolut inakzeptabel« – und kündigt Konsequenzen an.
Käßmann will nicht mehr bei Wagenknechts »Friedenskundgebung« mitmachen: Die Sorge vor einem gemeinsamen Aufmarsch mit Rechtsextremen lässt auch Unterstützer von Sahra Wagenknechts »Friedenskundgebung« zweifeln. Nun hat Theologin Margot Käßmann ihre Teilnahme abgesagt.
Razzia bei Berliner Polizei wegen Verdachts auf Bestechungsskandal: Berliner Polizisten sollen Geschäftsleute vor anstehenden Kontrollen gewarnt haben. 350 Beamte sind nun an Dutzenden Orten dem Verdacht gegen ihre Kollegen nachgegangen. Auch das Konto eines Polizeiobermeisters ist im Visier.
Zalando streicht Hunderte Stellen: Inflation und Kaufzurückhaltung setzen dem Modehändler Zalando zu. Nun verkünden die Gründer: Zahlreiche der 17.000 Stellen sollen wegfallen.
Meine Lieblingsgeschichte heute:
Von der »Miss Austria« zu einer der erotischsten Frauen des europäischen Kinos: Schauspielerin Nadja Tiller wurde zum Kinostar der Fünfziger- und Sechzigerjahre – und gemeinsam mit Ehemann Walter Giller zum Traumpaar. Im Alter von 93 Jahren starb sie nun in Hamburg. Mein Kollege Lars-Olav Beier hat ihr einen schönen Nachruf gewidmet. In ihrem berühmtesten Film »Das Mädchen Rosemarie« von 1958 sei eine Mischung aus Selbstbewusstsein, Charme, Intelligenz und Erotik zu spüren gewesen, wie man sie auf der Leinwand selten findet, schreibt Lars-Olav. »Leider hatte das damalige Kino der Schauspielerin zu wenige Rollen zu bieten, in denen sie ihr Potenzial ganz ausschöpfen konnte.«
Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Zum Tod von Nadja Tiller – Femme fatale der Herzen
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
Der Traum von der Viertagewoche – und warum er wahr werden könnte: In Großbritannien haben rund 2900 Beschäftigte ein halbes Jahr lang einen Tag pro Woche weniger gearbeitet – bei vollen Bezügen. Forscher legten jetzt Ergebnisse ihrer Studie vor, die viele Unternehmen ins Grübeln bringen dürften .
Wie drei Deutsche den Wasserstoffboom in Oman befeuern: Der Golfstaat Oman könnte zum grünen Energielieferanten werden. Die deutsche Industrie würde profitieren – auch dank eines Münchner Start-ups .
Wenn Iran die Bombe hat: Im Schatten des Ukrainekriegs braut sich ein weiterer Konflikt zusammen: Das Atomwaffenprogramm der Mullahs steht kurz vor dem Durchbruch. Die deutsche Außenpolitik muss reagieren .
So schädlich sind Softdrinks für Kinder und Erwachsene: Bis 2025 sollen Hersteller den Zuckeranteil ihrer Getränke senken. Eine Studie zeigt: Viel getan hat sich noch nicht. Hier beschreibt Oliver Huizinga von der Deutschen Adipositas-Gesellschaft die Folgen .
Jung, divers und viel zu trocken hinter den Ohren: Poseidon grämt sich: Das ZDF hat das Jahrzehntprojekt »Der Schwarm« nach Frank Schätzing fertiggestellt. Es ist die bisher teuerste deutsche Serie – aber hätte mehr Wasser und mehr Wut gebraucht .
Was heute weniger wichtig ist
Schertz des Tages: Seine Anmoderation ginge wahrscheinlich so: Er war mal das Gesicht des Boulevards, seine Herkunft im Schülerheim vom Kloster Neustift in der Provinz Bozen hat ihn immer geerdet, deshalb überwand er auch Niederlagen wie das versemmelte »Wetten, dass..?«, er fing sich, übernahm anschließend eine Talkshow in ZDF, die inzwischen zu den renommiertesten des Landes zählt, er ist Dokumentarfilmer, er fotografiert, er spielt Keyboard – kurz: Er ist eine Lichtgestalt des deutschen Fernsehens. Begrüßen Sie mit mir den großartigen Markus Lanz, der heute NICHT über das Scheitern seiner Ehe sprechen wird. Sein Anwalt Christian Schertz bat darum – auch im Interesse der gemeinsamen Kinder, die Privatsphäre, Sie wissen schon...
Mini-Hohlspiegel

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Hier finden Sie den ganzen Hohlspiegel.
Cartoon des Tages

Entdecken Sie hier noch mehr Cartoons.
Illustration: Thomas Plaßmann
Und heute Abend?
Die herausragende Sängerin Nina Simone würde heute ihren 90. Geburtstag feiern. Die meisten werden sie wohl mit ihrem eingängigen Hit »My Baby Just Cares for Me« in Verbindung bringen, der in unzähligen Reklamen zernudelt wurde. Doch Simone war eine Künstlerin voller Widersprüche, eine jähzornige und widerspenstige Kreative einerseits, eine einfühlsame und verletzliche Frau andererseits. Sie engagierte sich in der amerikanischen Civil-Rights-Bewegung, war mit Malcolm X und Martin Luther King befreundet, verzweifelte an der Bösartigkeit der Welt, bekämpfte eigene Dämonen. »Ich werde euch sagen, was Freiheit für mich ist – keine Angst zu haben. Ich meine wirklich, keine Angst zu haben.«

Nina Simone (1964): Mal sanft, mal wütend
Foto: Getty ImagesIch kann mich noch gut an einen Auftritt von ihr beim Jazz-Gipfel in Stuttgart 1989 erinnern, sie gab am Ende des Konzerts als Zugabe das unvermeidliche »My Baby Just Cares for Me«, danach ging ein Mann mit einem riesigen Blumenstrauß vor dem Gesicht auf sie zu. Erst direkt vor ihr gab er sich zu erkennen – es war der legendäre Jazztrompeter Dizzy Gillespie. Gerührt fasste sie seine Hand und verließ mit ihm Händchen haltend die Bühne. Es war eine ergreifende Szene.
Sie könnten sich heute Abend entweder ihre Filmbiografie »What happend, Miss Simone« auf Netflix anschauen oder einen ihrer besten Auftritte, den sie meiner Meinung nach je hatte. 1976 gastierte sie nach acht Jahren Abstinenz beim Jazzfestival Montreux. Dort erzählte sie, dass sie eigentlich beschlossen hatte, nie wieder auf einem Jazzfestival aufzutreten, das ganze Business schien ihr zuwider, sie glaubte, in anderen Sphären angekommen zu sein. Und genauso bemerkenswert war das Konzert dann auch; kein normaler Gig, wie man ihn abreißt, wenn man von Ort zu Ort zieht. Es waren intensive 90 Minuten, sie begleitete sich selbst am Klavier, langsam und bedächtig, sang mal sanft, mal wütend, erzählte aus ihrem Leben und musizierte, als wäre es ihr letztes Konzert.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend. Herzlich
Ihr Janko Tietz, Ressortleiter Deutschland/Panorama