

Die Lage am Abend Das Horrormärchen von Katar

Guten Abend, die drei Fragezeichen heute:
Streit um Impfstoffe – darf die EU auf größere Lieferungen hoffen?
Fußball-Weltmeisterschaft in Katar – ist ein Boykott des Sport-Großereignisses sinnvoll?
Sexuelle Gewalt – können Onlinekurse Männer von Übergriffen abhalten?
1. Streit um Impfstoffe – darf die EU auf größere Lieferungen hoffen?
Ein bisschen höhnisch klingt es schon, dass der britische Gesundheitsminister Matt Hancock sagt, die EU habe einen Vertrag mit dem Impfstoffhersteller AstraZeneca, der lediglich »beste Bemühungen« zusichert. Die Regierung in London habe sich hingegen Exklusivität ausbedungen. »Ich glaube, dass freie Handelsnationen dem Vertragsrecht folgen«, so Hancock. »Unser Vertrag übertrumpft deren.« Nachdem in Italien 29 Millionen offenbar gehortete AstraZeneca-Impfdosen aufgespürt worden sind, spricht der Minister nun sichtlich stolz über die Vorzugsbehandlung seines Landes durch das britisch-schwedische Pharmaunternehmen.

Bessere Zeiten: Boris Johnson und Ursula von der Leyen im Januar 2020 in London
Foto:Stefan Rousseau/ dpa
Meine Kollegen Markus Becker und Ralf Neukirch schreiben über den »hässlichen Rosenkrieg«, der in diesen Tagen zwischen der EU und Großbritannien ausgefochten wird. »London wähnt sich obenauf – und könnte am Ende den Schaden haben«, lautet ihre Einschätzung.
Die Staats- und Regierungschefs der EU wollen bei ihrem für heute und morgen angesetzten Gipfel über die Impfstoffknappheit beraten. AstraZeneca hatte seine Lieferzusage mehrmals drastisch gekürzt und auf Schwierigkeiten bei der Produktion hingewiesen. Großbritannien ist davon aber kaum betroffen. Ob die neuen, sicher allerbesten »Bemühungen« der EU nun doch für mehr Impfstoffnachschub sorgen? »Wer immer strebend sich bemüht«, heißt es in Goethes »Faust«, »den können wir erlösen.«
Meine Kollegen Hubert Gude und Philipp Kollenbroich gehen der Frage nach, ob in Deutschland wirklich große Mengen Impfstoff ungenutzt herumliegen. Das hatten in den vergangenen Tagen manche Fachleute und Politiker behauptet, es erweist sich aber durch die Recherchen der Kollegen allenfalls in wenigen Einzelfällen als richtig. Im Fall des Impfstoffs von Biontech/Pfizer »verimpfen die Bundesländer mittlerweile zügig alle vorhandenen Impfdosen«, so berichten die beiden. Beim Impfstoff von Moderna gebe es in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen größere Mengen noch lagernder Dosen, »insgesamt mehrere Zehntausend«. Im Fall des am meisten umstrittenen Impfstoffs von AstraZeneca fänden sich etwa in Sachsen größere nicht verimpfte Lagerbestände. Der zusammenfassende Befund von Gude und Kollenbroich aber gibt Entwarnung: In den USA waren diese Woche nach offiziellen Angaben rund 78 Prozent der ausgelieferten Impfdosen verimpft, in Deutschland etwa 73 Prozent. »Die USA haben allerdings von den Herstellern deutlich mehr Impfdosen erhalten«, so die Kollegen. Ebendies sei das Grundproblem der deutschen Impfkampagne: Es gibt im Augenblick schlicht zu wenig Impfstoff.
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2. Fußball-Weltmeisterschaft in Katar – ist ein Boykott des Sport-Großereignisses sinnvoll?
Heute Abend tritt die deutsche Fußballnationalmannschaft unter Noch-Bundestrainer Joachim Löw zu einem Spiel gegen Island an, das der Qualifikation für die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar dienen soll. Noch sind es fast 20 Monate bis zum Start der Winter-WM. Eine Umfrage unter Deutschen ab 18 Jahren, die der SPIEGEL anlässlich des Starts der WM-Qualifikation in Auftrag gegeben hat, ergibt: Eine Mehrheit hält die Austragung des Fußballturniers in Katar für falsch, mehr als zwei Drittel der Befragten befürworten zudem einen Boykott der WM vonseiten des DFB.
Einen »Sündenfall des Weltfußballs« nennt mein Kollege Peter Ahrens in seinem Kommentar die Vergabe des Turniers an das für Menschenrechtsverletzungen bekannte Land. »Katar hätte das Turnier nie bekommen dürfen.« Es sei gut, dass dieser Makel, wie die Umfrage zeigt, in der Bevölkerung auch deutlich wahrgenommen werde. »Katar ist ein Land, dessen Führung vormacht, was im Weltsport mit Geld möglich ist: alles. Es ist ein Spiegel für all die Missstände, in die die Verbände den Sport geführt haben. Die Korrumpierbarkeit der Funktionäre, die Heuchelei, mit der die hehren Sportwerte verkündet und gleichzeitig verschachert werden.«
Die Haltung der deutschen Sportverantwortlichen findet Peter »wachsweich«. Niemand denke derzeit ernsthaft daran, Katar die WM, die ein Fußball-Horrormächen zu werden verspricht, doch noch wegzunehmen. In einigen anderen Ländern wie Norwegen gebe es derzeit eine breite Boykottstimmung – allerdings könne man auch auf die nicht wirklich vertrauen. Wenn sich das eigene Nationalteam tatsächlich qualifiziere, »kann man wohl darauf wetten, dass es dann auch teilnimmt«. Ob sich die Stimmung der Deutschen da ähnlich wandeln wird?
Lesen Sie hier die ganze Geschichte: Große Mehrheit für einen Boykott der Fußball-WM in Katar
Kommentar: Der Sündenfall des Weltfußballs
3. Sexuelle Gewalt – können Onlinekurse Männer von Übergriffen abhalten?
Der Fall der Ermordung einer 33-jährigen Frau durch einen Polizisten hat in London gerade erst wieder eine Debatte darüber ausgelöst, wie der öffentliche Raum für Frauen in Großstädten sicherer gemacht werden kann; zum Beispiel durch eine bessere Beleuchtung der Straßen. Meine Kolleginnen Sonja Peteranderl und Maria Stöhr berichten über Initiativen in verschiedenen Ländern der Welt, die grundsätzlicher vorgehen – und verhindern wollen, dass Jungen und Männer überhaupt erst zu (meist sexuell motivierten) Tätern werden. »Damit sich wirklich etwas verändert, sollten nicht Frauen Umwege nehmen müssen, sondern vielmehr Männer ihr Verhalten reflektieren«, schreiben die beiden.
Ihre Geschichte schildert Workshops für Studenten in Indien, in denen junge Männer zum Beispiel zu Rollenspielen animiert wurden. »Viele Männer waren sehr überrascht, dass anzügliche Witze oder eine Frau immer wieder nach einem Date zu fragen, obwohl sie ablehnt, als sexuelle Belästigung gelten«, sagt eine der Workshop-Organisatorinnen. Weltweit leiden Frauen unter Übergriffen wie Catcalling, Stalking oder unerwünschten Berührungen. Auch das Projekt zweier Universitäten in Hanoi will in Onlinekursen jungen Männern vor Augen halten, wo Belästigung anfängt. Und genauso wichtig: wie sie ihr Verhalten ändern können. Wie sie einschreiten können, wenn sie im Hörsaal, in der Kantine, im Alltag sexuelle Übergriffe auf Frauen beobachten.
Meine Kolleginnen zitieren eine Soziologin, die das Programm in Hanoi begleitete, mit den Worten: »Die Wirkung der Onlinekurse ist überwältigend.« Die meisten der männlichen Studenten hätten die Art und Weise geändert, wie sie Frauen ansprechen – in Chats und im realen Kontakt. Die Fälle sexualisierter Gewalt seien an beiden Unis zurückgegangen.
»Auch hierzulande haben Frauen im Jahr 2021 Angst allein im Dunkeln. Sehr viele von ihnen haben eine Form sexueller Belästigung erlebt«, sagt meine Kollegin Maria. »Männern das klarzumachen, dafür können Onlinekurse auch an deutschen Hochschulen sinnvoll sein. Es geht nicht darum, alle Männer unter Verdacht zu stellen. Es geht darum, ihnen von einer Realität zu berichten, von der sie nichts wissen, weil sie nicht betroffen sind.« Das könne dazu beitragen, »dass Männer eingreifen, wenn sie Zeugen von Übergriffen werden. Und natürlich kann es auch dazu beitragen, dass Männer nicht zu Tätern werden.«
Lesen Sie hier die ganze Geschichte: »Wir müssen bei den Männern ansetzen, weil die Mehrheit der Täter Männer sind«
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Verstummter Twitterstar: Chrissy Teigen, 35, US-amerikanisches Model, mag offenbar nicht mehr per Twitter kommunizieren. »Seit mehr als 10 Jahren seid ihr meine Welt«, beschied die Ehefrau des Musikers John Legend und Mutter zweier Kinder ihre Fans. »Aber es ist Zeit für mich, mich zu verabschieden.« Grund für ihren Ausstieg sind offenbar die Hasstiraden mancher Mediennutzer. Sie sei sensibel, verkündete Teigen, und »zutiefst verletzt« worden. Sie forderte die Twitter-Gemeinde auf, »nie zu vergessen, dass eure Worte zählen«.
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »Merkels Macht zerbröselt schon länger, und beim Versuch, sich ein letztes Mal gegen widerspenstige Landemütter und -väter aufzubäumen, ist sie krachend gescheitert.«
Cartoon des Tages: Wenn schon... ...denn schon!

Klaus Stuttmann
Und heute Abend?
Mir fällt es schwer, den Überblick zu behalten im riesigen Angebot an deutschen Fernsehkrimis. Zum Glück aber wacht mein Kollege Christian Buß souverän über den ja beim Publikum äußerst populären Ermittlungsbetrieb. Nicht mal bei der tausendsten Darbietung der Standardfrage »Wo waren Sie gestern zwischen Abendessen und Mitternacht?« bekommt er Ohrensausen.

Szene aus »Nachtschicht« mit Armin Rohde: Hygienisch einwandfreie Ermittlungen
Foto: Marion von der Mehden / ZDFHeute Abend könnten Sie sich in der ZDF-Mediathek den von Christian hochgelobten Krimi »Nachtschicht: Blut und Eisen« des Regisseurs Lars Becker ansehen. Der Film sei eine schwarze Komödie mit »abstrusen Allianzen und absurden Verkettungen von Zufällen«, schreibt der Kollege. Im Dienst der Aufklärung arbeiten neben dem Kommissardarsteller Armin Rohde als dessen Kolleginnen die afrodeutsche Schauspielerin Sabrina Ceesay und Idil Üner. Üner, so weiß Christian, hatte ihren ersten großen Auftritt 1998 in Fatih Akins Film »Kurz und schmerzlos« und müsste eigentlich »inzwischen längst der erste deutschtürkische Superstar sein«. (Hier die ganze Serienkritik)
Einen schönen Abend. Herzlich
Ihr Wolfgang Höbel
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