
Die Lage am Morgen Der Präsident im geistigen Lockdown

Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,
heute beschäftigen wir uns mit dem TV-Fernduell zwischen Donald Trump und Joe Biden in den USA, mit dem Poker zwischen Brüssel und London um den Brexit - und mit den steigenden Zahlen in der Coronakrise.
Jeder kämpft für sich allein
In der Endphase dieses US-Wahlkampfs geht es drunter und drüber. Das Wahlvolk erlebte in der Nacht die bizarre Situation, dass sich zwei Präsidentschaftskandidaten duellierten, dabei aber nicht auf derselben Bühne standen. Sie traten nicht einmal beim gleichen Sender auf. Sie kämpften quasi in zwei Parallel-Universen. Jeder für sich.
Nach der Absage des zweiten TV-Duells stellte sich Donald Trump bei NBC den Fragen von Zuschauern in Florida, während Joe Biden fast zeitgleich bei ABC mit Bürgern in Pennsylvania diskutierte. Die meisten Blicke richteten sich naturgemäß auf den Präsidenten. Erstens, weil er der Präsident ist. Zweitens, weil er gern verrückte Sachen sagt - und drittens, weil er in den Umfragen zurückliegt und sich etwas einfallen lassen muss, um aufzuholen.
Trump mühte sich sichtlich, einigermaßen nett zu wirken, und ließ die Fragesteller aus dem Publikum sogar meist geduldig ausreden. Am Ende wiederholte er dann aber doch nur seine bekannten Werbeslogans. Er prahlte mit der guten US-Konjunktur (bis zur Coronakrise), er versprach, dass in den USA bald alles noch besser laufen werde als je zuvor - und gab sich selbst Topnoten für seine Präsidentschaft.
Es war eine recht magere, einfallslose Vorstellung des Amtsinhabers, die wenig am Stand des Rennens ändern dürfte. Es wirkte, als sei Trump geistig in den Lockdown gegangen. Bei Biden war auf dem anderen Kanal kaum mehr los, aber er muss ja auch keine Aufholjagd starten, sondern braucht nur gelassen seinen Vorsprung zu verteidigen.
In Erinnerung bleiben wird so von diesem Abend wahrscheinlich nur der gute Auftritt von Moderatorin Savannah Guthrie, die die Trump-Sendung moderierte. Sie sprach mit Trump unter anderem über seine zahlreichen Tweets und Retweets, in denen er Lügen und Verschwörungsmythen verbreitet.
Ihr treffender Kommentar in Richtung Trump: "Ich verstehe das nicht", sagte sie. "Sie sind der Präsident. Sie sind doch nicht irgendein verrückter Onkel, der Quatsch retweeten kann."
US-Präsidentschaftswahl: Die Wall Street verliert die Angst vor Biden
Coronakrise: Es wird immer schlimmer
Die Kanzlerin warnt von "Unheil", Experten fürchten einen "Kontrollverlust", die Wirtschaft sieht "Risiken" für die Konjunktur. Die Coronakrise in weiten Teilen Europas und in Deutschland spitzt sich immer weiter zu.
Das Auswärtige Amt weist in etlichen Staaten weitere Risikogebiete aus und rät wegen hoher Infektionszahlen von nicht notwendigen touristischen Reisen dorthin ab. Dies gilt ab 17. Oktober zum Beispiel für ganz Frankreich, die gesamten Niederlande, Malta und die Slowakei. In Italien wird von Reisen nach Kampanien und Ligurien abgeraten. In der Schweiz kommen zu den Kantonen Genf und Waadt nun auch Fribourg, Jura, Neuchâtel, Nidwalden, Schwyz, Uri, Zürich und Zug hinzu. Betroffen sind unter anderem auch Regionen in Polen, Slowenien, Ungarn, Großbritannien, Irland und Portugal.
In Frankreich haben die Gesundheitsbehörden 30.621 Neuinfektionen binnen 24 Stunden registriert. In Großbritannien waren es 18.980 neue Infektionsfälle. 138 weitere Menschen, die zuvor positiv auf das Coronavirus getestet worden waren, starben. In Italien sind binnen 24 Stunden 8804 Neuinfektionen gemeldet worden. Das sei die höchste Zahl, die bislang verzeichnet wurde, teilt das Gesundheitsministerium mit.
In Deutschland hält derweil der Präsident des Robert Koch-Instituts, Lothar Wieler, sogar eine Abriegelung von Risikogebieten für möglich. "Vor neun Monaten habe ich in einem ähnlichen Interview gesagt, dass ich mir das nicht vorstellen kann. Inzwischen kann ich mir vorstellen, dass solche Maßnahmen durchgeführt würden", sagte Wieler dem Fernsehsender Phoenix.
Wer bislang dachte, dass das Jahr 2020 nicht noch schlimmer werden könnte, wird gerade eines Besseren belehrt.
Neue Corona-Maßnahmen: Letzte Chance vor dem Lockdown
Brexit-Poker geht in die letzte Runde
Im Ringen zwischen der Europäischen Union und Großbritannien über ein Abkommen über die weiteren Beziehungen nach dem Brexit wird es heute erneut spannend. Der britische Premierminister Boris Johnson will entscheiden, ob weitere Verhandlungen mit der EU Sinn ergeben oder ob sich seine Regierung nur noch auf ein Szenario vorbereitet, in dem das Land die EU zum 1. Januar für immer ohne Abkommen verlässt.
Bei ihrem Gipfeltreffen verabredeten die EU-Staats- und Regierungschefs in Brüssel, dass es nun am Vereinigten Königreich liege, die notwendigen Schritte zu unternehmen, um ein Abkommen möglich zu machen. Mit anderen Worten: Johnson solle sich bei Streitfragen wie zum Beispiel den Fischereirechten endlich einigungswillig zeigen.
Vor allem Frankreichs Präsident Emmanuel Macron gibt den harten Verhandler, der den Briten am liebsten keinen Deut entgegenkommen würde. Ob Johnson sich unter diesen Voraussetzungen auf weitere Gespräche einlässt, ist offen. Sein enger Vertrauter und Chef-Unterhändler David Frost reagierte in einem ersten Kommentar verschnupft auf die Verlautbarungen aus Brüssel. Es sei doch recht ungewöhnlich, dass in einer Verhandlung erwartet werde, dass jede Kompromissbereitschaft allein von der britischen Seite kommen solle, meinte er.
Wie so oft in diesem Streit muss nun wohl Kanzlerin Angela Merkel die Vermittlerin geben. Sie schlug nach dem Gipfel versöhnlichere Töne an, die man auch auf der Insel sehr wohl hören wird. "Jeder hat seine roten Linien", sagte Merkel in Brüssel. "Wir haben Großbritannien gebeten, im Sinne eines Abkommens weiter kompromissbereit zu sein. Das schließt ein, dass auch wir Kompromisse machen müssen." Im Klartext: Die Kanzlerin ruft den Briten zu: "Da geht noch was."
EU-Gipfel in Brüssel: Merkel sieht Fortschritte bei Brexit-Gesprächen - und verlangt Kompromisse
Verlierer des Tages…
…ist der frühere Bürgermeister von New York, Rudy Giuliani. Während er derzeit alles tut, um die Präsidentschaft seines Freundes Donald Trump zu retten, rudert seine Tochter Caroline Rose Giuliani in die andere Richtung. In einem Beitrag in der Zeitschrift "Vanity Fair" sprach sich die Tochter für die Wahl von Joe Biden aus. "Niemand kann es sich leisten, in diesen Zeiten still zu bleiben", schreibt die Schauspielerin und Autorin aus Los Angeles. "Ich werde wohl niemals die Sicht meines Vaters verändern. Aber gemeinsam können wir diese vergiftete Regierung abwählen."
Die jüngsten Meldungen aus der Nacht
YouTube löscht Zehntausende QAnon-Videos: Facebook und Instagram hatten vorgelegt, nun geht auch YouTube gegen die QAnon-Theoretiker vor. Heikle Inhalte sollen in Zukunft auf der Videoplattform verboten werden
Japan will radioaktiv verseuchtes Wasser ins Meer leiten: Die Reaktor-Katastrophe von Fukushima hat Millionen Tonnen kontaminiertes Wasser verursacht. Nun werden die Lagerkapazitäten knapp. Laut japanischen Medien gerät das Abwasser deshalb bald in die Umwelt
Robert Koch-Institut meldet 7334 neue Corona-Fälle: In Deutschland ist die Schwelle von 7000 Corona-Neuinfektionen pro Tag überschritten worden. Die Zahl der neuen Covid-Todesfälle fällt im Vergleich zum Vortag jedoch geringer aus
Die SPIEGEL+-Empfehlungen für heute
Der Fall Dieter Haase: Der DDR-Topspion, der Sex im Knast beantragte
Samer Tannous: Kommt ein Syrer nach Rotenburg (Wümme): Gute Zeiten hinter schwarzen Wolken
Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag,
Ihr Roland Nelles