Die Lage am Samstag Liebe Leserin, lieber Leser,

die Ohnmacht scheint ein Zustand zu sein, der nicht mehr ins heutige Leben passt. Man denkt an enge Korsetts und an das Riechsalz, das herbeigerufen wurde, wenn eine der fragilen Frauen des vorletzten Jahrhunderts in die Arme ihres Kavaliers sank.

Oder ist die Ohnmacht vielleicht doch das wesentliche Gefühl der heutigen Zeit? Vielleicht wird sie nur nicht erkannt unter all der Betriebsamkeit?

Wenn Sie, liebe Leserin, lieber Leser, unser neues Heft bekommen, wird Ihnen die Ohnmacht immer wieder begegnen: In unserem Titelkomplex über die Fahrverbote zum Beispiel. Da beschreiben wir die berechtigte und in diesen Tagen wild ansteigende Wut der Autofahrer, deren Dieselfahrzeuge nichts mehr wert sind. Die Politik lässt sie im Stich, die Industrie lässt sie im Stich, und nicht nur das: Industrie und Politik kungeln, um bloß nicht belangt zu werden. Und die Gesundheit der Leute scheint der Politik auch egal zu sein. Es ist eine ohnmächtige Wut, die wir da beschreiben. Wir stellen zwar auch die Modelle für die Stadt der Zukunft vor, die Fortschritte in der Verkehrsplanung - dem einzelnen Autobesitzer und den Bewohnern der Innenstädte nützt das jetzt aber wenig. Und für einen massenweisen Umstieg in den öffentlichen Nahverkehr sind unsere Städte noch nicht gerüstet - mit Betonung auf "unsere". Im Ausland finden sich durchaus positive Beispiele für geglückte Verkehrspolitik. Wie sich aber Wut in einer Demokratie auswirkt, haben Politiker bei der letzten Wahl sehen können. Klug ist es nicht, Bürger in Alltagsfragen im Stich zu lassen. Alltagsfragen stellen sich, wie das Wort sagt, jeden Tag. Deswegen sind sie groß und wirksam.

Im Video: Totenglocke für Diesel - SPIEGEL-Redakteur Gerald Traufetter über die Bedeutung des Urteils zum Diesel-Fahrverbot und die anstehenden Veränderungen in den Innenstädten

DER SPIEGEL

Ohne Macht

Ex-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück von der SPD hat sich die Wut auf die eigene Partei in einem Buch über das "Elend der Sozialdemokratie" von der Seele geschrieben. Auch bei ihm ist es eine ohnmächtige Wut, er hat in der Partei so sehr viel nicht mehr zu sagen. Meine Berliner Kollegen haben Steinbrück zum SPIEGEL-Gespräch einvernommen. Sagen wir mal so: Der Mann spricht sich aus. "Die SPD ist nicht auf der Höhe der Zeit", dem zurückliegenden Wahlkampf habe "das Zukunftsgen" gefehlt, "die SPD braucht weniger Stallgeruch und mehr Zugluft". Mit dem Mitliedervotum, dessen Ergebnis morgen verkündet wird, hat die SPD die Fenster geöffnet. Aus Zugluft kann Sturm werden.

Peer Steinbrück

Peer Steinbrück

Foto: HC Plambeck/ DER SPIEGEL

Noch mehr Ohnmacht in noch mehr Stücken:

Hinrichtung

Aus unserem neuen Heft möchte ich Ihnen einen Text besonders ans Herz legen und Ihnen erzählen, wie er auf mich wirkte: Ich saß an meinem Schreibtisch in der Redaktion, wie immer war um mich herum viel los, das Telefon, die Besuche der Kollegen. Ich mag das gern, SPIEGEL-Journalismus ist Teamarbeit, es muss lebhaft zugehen. Immer wieder aber gibt es diese Momente, an denen alles um mich herum verschwindet, weil mich eine Geschichte so sehr in den Bann zieht, dass ich gar nicht mehr an meinem Schreibtisch sitze, obwohl ich da durchaus noch sitze. Ich befinde mich dann plötzlich in einem Bus irgendwo in den USA auf dem Weg zu einer Hinrichtung.

Relotius in Huntsville, Texas

Relotius in Huntsville, Texas

Foto: Claas Relotius / DER SPIEGEL
Hinweis

An dieser Stelle stand ursprünglich ein Text des früheren SPIEGEL-Redakteurs Claas Relotius bzw. ein Text, an dem er beteiligt war. Die Berichterstattung von Relotius hat sich in weiten Teilen als gefälscht herausgestellt. Der SPIEGEL stand bei der umfassenden Aufarbeitung des Falls vor der Frage: Wie gehen wir mit den betroffenen Texten um? Einerseits verfolgen Redaktion und Verlag den Anspruch maximaler Transparenz, andererseits fühlen sich zahlreiche Protagonisten in den Relotius-Texten falsch dargestellt und zitiert; vieles ist frei erfunden. Der SPIEGEL hat sich daher entschlossen, die Texte künftig nur noch kommentiert und gesammelt in einer umfassenden Dokumentation zugänglich zu machen - Sie finden das PDF hier (Größe: ca. 16 MB).

Mein Kollege Claas Relotius hat das nämlich getan und für das neue Heft beschrieben, sich im Bus auf den Weg gemacht, gemeinsam mit Gayle Gladdis. Sie ist eine einfache Bürgerin, sie reist durch die USA, um dabei zuzusehen, wie Menschen durch Giftspritzen getötet werden. Das Gesetz verlangt die Anwesenheit solcher Bürger und Gladdis erfüllt das Gesetz. Freiwillig sieht sie, was fast niemand außer ihr mehr sehen will. Sie hat vor Jahren ihren Sohn und ihren Enkel durch Mord verloren, die Mörder sind nicht hingerichtet worden, weil sich Zuschauer wie Gladdis damals nicht gefunden haben. In ihrer ohnmächtigen Wut stellt sie sich nun selber als Zeugin zur Verfügung. Das ist ihre Weise, Rache zu nehmen, das Erlebte zu verarbeiten. Dass dadurch die Verarbeitung des Schrecklichen eben nicht möglich ist, dass Gladdis immer wieder an denselben Schmerz rührt und ihn wachhält, sich also selber nur schadet, das ist eine der besonders traurigen Erkenntnisse über die Ohnmacht.

Gewinner des Tages...

...müssen deswegen diejenigen Protagonisten aus unserem neuen Heft sein, die Wege aus der Ohnmacht finden. Und das sind junge Leute, Schüler der Marjory Stoneman Douglas High School in Parkland, Florida. Am 14. Februar wurden dort 3 Erwachsene und 14 Teenager bei einem Amoklauf erschossen, in den beiden Wochen danach sind die Schüler zu Ikonen der Antiwaffenbewegung geworden. Eben weil sie sich nicht einer Ohnmacht ausliefern wollten, eben weil sie nicht nur Opfer sein wollen, protestieren die Schüler gegen die amerikanische Waffenlobby auf Twitter und überall. Unser Washington-Korrespondent Christoph Scheuermann hat sie dort aufgespürt, wo sie sich auch vor dem Amoklauf schon immer getroffen haben: bei einer Eisdiele nicht weit von der Schule, zwischen einem Nagelstudio und einer Orthopädiepraxis. Er kam mit ihnen ins Gespräch.

Schüler der Douglas High School in Parkland

Schüler der Douglas High School in Parkland

Foto: Angel Valentin / DER SPIEGEL

Vor dem Wochenende wollte ich Ihnen noch etwas erzählen: Wenn das neue Heft abgeschlossen ist, in der Nacht von Donnerstag auf Freitag, werden aus den Kaffeeküchen, die sich auf jedem der Stockwerke im SPIEGEL-Hochhaus befinden, die vielen, vielen Tassen und Gläser, die sich im Laufe des Tages aufgetürmt haben, auf großen Wagen in den Fahrstuhl geschoben. Für mich sind diese Tassentürme immer Sinnbild unserer Leidenschaft, die in jedes neue Heft geht: Alle Abteilungen des Hauses spielen ineinander. Dass sich trotz unseres Einsatzes eine Entfremdung zwischen Lesern und der Presse insgesamt eingestellt hat, nehmen wir aber wahr. Das ist nicht schön, aber es hilft ja nichts, wir müssen uns damit befassen, genauso wie mit anderen Themen auch. Im Heft der vergangenen Woche (Nr.9) hat meine Kollegin Isabell Hülsen einen Text über diese Entfremdung geschrieben, wir bekamen daraufhin weit über 2000 Leserbriefe. Wir sind dabei, sie zu sichten, werden eine Auswahl in einer der nächsten Ausgaben präsentieren, werden zu einer Veranstaltung in die Hamburger Zentrale einladen und weitere Berichte folgen lassen.

Wir sind Ihnen dankbar für Ihre kritische Begleitung.

Mögen Sie Freude am neuen Heft haben, uns jedenfalls hat es Spaß gemacht, es für Sie fertigzustellen.

Die jüngsten Meldungen aus der Nacht

Ein schönes Wochenende wünscht Ihnen

Ihre Susanne Beyer

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren