

Die Lage am Morgen Kann Thüringen wehrhafte Demokratie?

Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen!
Heute beschäftigen wir uns mit der geplanten Ministerpräsidentenwahl in Thüringen, dem grundlegenden Gegensatz zwischen Unionsparteien und Grünen sowie einem wichtigen Wahltag in den USA.
Schwarz-Grün und die Flüchtlinge
Die Eskalation an der türkisch-griechischen Grenze macht klar, wo ein mögliches schwarz-grünes oder grün-schwarzes Bündnis nach der nächsten Bundestagswahl die größten Differenzen aushalten müsste: bei der Flüchtlingspolitik.
Während die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock fordert, 5000 besonders schutzbedürftige Menschen aus griechischen Flüchtlingslagern in Deutschland aufzunehmen und vornehmlich unter Grünen-Sympathisanten der Hashtag #WirHabenPlatz trendet, suchen die Unionsparteien das Weite. Entschiedene Abgrenzung von den Grünen ist für sie das Gebot der Stunde.
Zum Beispiel CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt. Der wirft Baerbock und der Grünen-Spitze "vollkommen unverantwortliches Handeln” vor. Es gehe jetzt darum, die "richtigen Signale” an die Flüchtlinge zu senden: "Es gibt keine Chance, nach Deutschland zu kommen.”
Und obwohl die Ausgangslage heute doch eine ganz andere ist - es gibt die Flüchtlingsroute über den Balkan so nicht mehr - ist es die Sorge vor einer Wiederholung der Flüchtlingskrise von 2015, die Unionspolitiker auf Distanz zum Partner in spe gehen lässt. Die Sorge, wie Dobrindt sagt, dass die "politische Mitte” weiter verlieren könnte. Er meint: an die AfD verlieren
Was die Lage so verworren und kompliziert macht: Letztlich liegen beide ein stückweit richtig, Grüne und Union. Denn, erstens: Ja, wir müssen den Flüchtlingen helfen, das Leid dieser Menschen ist unermesslich. Und, zweitens: Ja, ein politisches Konjunkturprogramm für Rechtsaußen wie nach 2015 darf es nicht noch einmal geben.
Was tun?
Ein erster Schritt: Den Flüchtlingsdeal mit der Türkei neu beleben und weitere Milliarden Euro nachlegen, um die Situation der fast vier Millionen Geflüchteten dort zu verbessern. So ist möglicherweise zu verhindern, dass der türkische Präsident Erdogan weitere Tausende zum politischen Spielball an der EU-Außengrenze macht. Und anschließend muss jenen, die Erdogan menschenverachtend in diese Grenzfalle gelockt hat, geholfen werden. Etwa durch eine Aufnahme und faire Verteilung innerhalb der EU.
Dann: Druck auf das Duo Assad-Putin, das Millionen Menschen in die Flucht gebombt hat und weiter bombt. Wie lange können wir diese Kriegsverbrechen noch mitansehen? Mein Kollege Max Popp kommentiert: "Was es braucht, sind individuelle Sanktionen gegen all jene, die auf russischer und syrischer Seite für den Terror gegen die Bevölkerung verantwortlich sind.” Und warum nicht die Idee von Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer einer internationalen Schutzzone im Norden Syriens aufgreifen? Zeit wär’s.
Joe Biden jubelt - Bernie Sanders aber auch
Der "Super Tuesday" ist der wichtigste Tag im Rennen um die Präsidentschaftskandidatur der US-Demokraten auf der Suche nach einem Herausforderer für Donald Trump. In 14 Bundesstaaten wurde am Dienstag gewählt. Und bisher sieht es so aus, als hätte Joe Biden in den meisten davon gesiegt. Laut Prognosen gewann der frühere US-Vizepräsident in mindestens acht Bundesstaaten.
Allerdings hat auch sein Konkurrent Bernie Sanders Grund zur Freude. Er liegt den Prognosen zufolge bislang in drei Bundesstaaten vorne. Und er könnte zudem im wichtigen Staat Kalifornien siegen - dort gibt es am meisten Delegiertenstimmen zu gewinnen. In Texas, ebenfalls einer der besonders wichtigen Staaten an diesem "Super Tuesday", liegt er Hochrechnungen zufolge mit Biden gleichauf.
Schlecht lief der Wahlabend hingegen für Elizabeth Warren, die Senatorin landete selbst in ihrem Heimatstaat Massachusetts nur auf Platz drei hinter Biden und Sanders. Noch sind nicht alle Ergebnisse veröffentlicht, aber wir halten Sie natürlich auf SPIEGEL.de über alle Entwicklungen auf dem Laufenden.
Ramelow gegen Höcke
Heute wollen sie es in Thüringen noch einmal versuchen. Nachdem CDU und Liberale gemeinsam mit Rechtspopulisten und Rechtsradikalen vor gut einem Monat einen FDP-Ministerpräsidenten ins Amt hievten, will es zumindest die CDU nun ein bisschen gutmachen und die (Wieder-)Wahl des Linken Bodo Ramelow zulassen.
Nach der Wahl soll mit Ramelows rot-rot-grüner Minderheitsregierung "projektbezogen” zusammengearbeitet werden. Die FDP derweil schlägt sich in die Büsche. Deren fünf Abgeordnete wollen an der Wahl nicht teilnehmen, draußen bleiben. 55.493 Thüringerinnen und Thüringer haben die FDP im letzten Oktober mit ihrer Zweitstimme äußerst knapp in den Landtag gewählt, aber nun will sie irgendwie gar nicht rein. Na dann, bon voyage.
Putzigerweise hat JU-Chef Tilman Kuban den CDU-Abgeordneten ebenfalls geraten, sich zu verdrücken. Wollen die aber nicht machen. Vielleicht haben sie im "10-Punkte-Plan zur politischen Bildung” der JU nachgeschlagen: "Unsere Parlamente sind die Herzkammern der Demokratie”, steht da unter Punkt 3. Kein Witz.
Aber es geht noch weiter. Denn Thüringen wäre ja nicht Thüringen, wenn es nicht auch dieses Mal ein paar Unwägbarkeiten gäbe.
So beharrte Ramelow bislang auf seiner Wahl gleich im ersten Wahlgang, dafür braucht es aber die absolute Mehrheit und mindestens vier Stimmen von der CDU - die FDP ist ja raus, von der AfD will er sich nicht wählen lassen. Werden also ein paar Christdemokraten in geheimer Wahl gegen die Ziemiak-Doktrin ("Union und Linkspartei sind wie Feuer und Wasser”) verstoßen?
Inzwischen hat Ramelow wiederum seine Wahl-Doktrin entschärft, fordert keine CDU-Stimmen mehr ein: "Heute ist nicht der Tag parteipolitischer Prinzipienreiterei, sondern der erste Tag, an dem wieder verlässlich regiert werden kann in Thüringen."
Für die AfD, die letztes Mal mit einem Tarnkandidaten angetreten war, um das parlamentarische System unter Gejohle verächtlich zu machen, soll dieses Mal Fraktionschef Björn Höcke der freiheitlichen Demokratie Paroli bieten.
Die Taktik des völkischen Nationalisten ist wohl diese: Wenn ihn alle seine Abgeordneten wählen, Ramelow aber trotzdem im ersten Wahlgang eine Mehrheit hat, dann müssen es die CDU-Leute gewesen sein. Verstoß gegen die Ziemiak-Doktrin belegt. Allerdings: geheime Wahl bleibt nunmal geheime Wahl.
Tatsächlich liegt in Höckes Kandidatur auch eine Chance für Ramelow: Er bekäme wohl keine AfD-Stimmen, bliebe politisch sauber. Im dritten Wahlgang dann gewinnt, wer die "meisten Stimmen” hat. Das sollte Ramelow schaffen.
Zumindest eine Gefahr ist bereits im Vorfeld gebannt: Der Corona-Verdacht bei einem CDU-Abgeordneten, der auch als Unterhändler mit Ramelow und Co. aktiv war, hat sich nicht bestätigt. Quarantäne abgewendet.
Das also bleibt Thüringen erspart.
Verlierer des Tages…
… ist Bernd Riexinger. Während Ramelow in Thüringen die Linkspartei zur staatstragenden Partei umgemodelt hat, fügt Linken-Chef Riexinger weitergehenden rot-rot-grünen Gedankenspielen Schaden zu.
Auf einer Strategiekonferenz seiner Partei in Kassel saß er am Wochenende auf der Bühne, als eine Teilnehmerin über die Zeit nach einer Revolution fabulierte, nachdem "das eine Prozent der Reichen erschossen” worden sei. Darauf Riexinger: "Wir erschießen sie nicht, wir setzen sie für nützliche Arbeit ein.” Hätte Erich Honecker bestimmt gefallen, der Witz.
Am Dienstag twitterte Riexinger: "Der Kommentar der Genossin war unakzeptabel, wenn auch erkennbar ironisch. Meine Reaktion darauf hätte sehr viel unmissverständlicher sein müssen.” Nebeneffekt: Dem Fortbestand der Ziemiak-Doktrin hat Riexinger einen großen Dienst erwiesen.
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Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihr Sebastian Fischer