
Die Lage am Morgen 1990 war der Fußball noch in Ordnung

Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,
heute geht es um die Frage, wie viel Jubel eine zünftige Fußball-EM braucht, wie viele Extremisten ein Land verträgt und wie viel Miete sich ein durchschnittlicher Großstadt-Haushalt noch leisten kann.
Wie voll das Stadion wird
Heute Abend um 21 Uhr muss die deutsche Fußballnationalmannschaft – das »national« habe ich extra für meine Stammleserin Beatrix von Storch hier eingebaut – ihr erstes EM-Vorrundenspiel gegen Frankreich bestehen. Aus sportlicher Sicht ist das leider auch schon alles, was ich zu dieser Begegnung schreiben kann, da meine Fußballbegeisterung ihren Höhepunkt mit der Weltmeisterschaft 1990 erlebte und unmittelbar danach für voraussichtlich alle Zeit erlahmte.
Damals, bei der Italia 1990, ahnte ich in meinem kindlichen Überschwang noch nichts von diesen Uefa- oder Fifa-Anzugträgern, die aus dem Fußball ein krankes Milliardenbusiness gemacht haben, bei dem alle paar Jahre unter dem Deckmantel eines fröhlichen Sportereignisses mal so richtig abkassiert wird. Dafür kannte ich damals alle Namen des deutschen Kaders auswendig. Und ich erinnere mich bis heute sogar noch, wie der Masseur der deutschen Mannschaft damals hieß. Na, wer von den Fußball-Cracks hier kennt den Namen noch?

Auflösung: Adolf Katzenmeier (hier im Jahr 2004)
Foto:Moritz Winde/ Bongarts/Getty Images
Keine Sorge: Meine kundigen Kollegen aus dem Sportressort werden heute Morgen einen Vorbericht zum Spiel veröffentlichen , der sich mit der Frage befasst, was das französische Team, unseren ersten Gegner, so stark macht.
Aus politischer Sicht ist vielleicht noch festzuhalten, dass das Spiel in München vor 14.000 Fans in der Allianz-Arena stattfinden wird, mit einem ausgeklügelten Test- und Schutzkonzept. Das verspricht jedenfalls Bayerns Ministerpräsident Markus Söder, und der spielt ja angeblich im »Team Vorsicht«.

In der Allianz-Arena wird es heute etwas voller als an diesem Bundesliga-Spieltag im Dezember 2020
Foto: Sven Hoppe / dpaDa stelle ich mir ein paar Fragen: Wie soll in einem Stadion mit einer Kapazität für 75.000 Menschen Stimmung aufkommen, wenn da nur 14.000 Leutchen sitzen? Wieso ist ein Fußballspiel vor 14.000 Leuten jetzt wieder möglich, aber keine Open-Air-Konzerte dieser Größe? Wieso wurde immer davor gewarnt, dass Fußballfans auf dem Weg ins Stadion die U-Bahn verstopfen könnten, aber jetzt scheint das irgendwie kein Problem mehr zu sein? Und wäre es international nicht vielleicht auch ein gutes Signal gewesen, wenn Söders Team Sicherheit mit gutem Beispiel vorangegangen wäre und Spiele mit leeren Rängen ausgerichtet hätte?
Man kann doch auch ohne Publikum Spaß haben beim Fußballschauen. Oder nicht? Gut, für echte Fans ist das vermutlich so eine Aussage, wie wenn unsere Eltern früher behaupteten: »Man kann auch ohne Alkohol Spaß haben.«
Deutschlands Auftaktgegner bei der EM: Was macht diese Franzosen so stark?
Wie extrem das Land ist
Wenn Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) und Behördenchef Thomas Haldenwang heute den Verfassungsschutzbericht für 2020 vorstellen, dürften sie zwei Trends feststellen: Die Zahl der Rechtsextremistinnen und Rechtsextremisten ist weiter gestiegen, auf 33.000 Köpfe schätzt die Behörde die Szene, und 13.300 von ihnen gelten als gewaltbereit. Und auch die linksextreme Szene ist gewachsen, auf 34.300 Personen, von ihnen gelten inzwischen 9600 als gewaltbereit. Deutschlands Ränder, so lautet die Botschaft, wachsen weiter. Nein, ein angenehmer Termin ist diese jährliche Pressekonferenz wirklich nicht.

Teilnehmer einer Demonstration der rechtsextremen Gruppe Pro Chemnitz im April 2020
Foto: Jan Woitas / picture alliance / dpaSeit 20 Jahren wurden nicht mehr so viele antisemitische Straftaten gezählt wie heute, weshalb der baden-württembergische Innenminister Thomas Strobl im SPIEGEL gerade eine bessere Erfassung dieser Delikte und ihrer Täterinnen und Täter (ja, auch bei hässlichen Themen sollten die Frauen nicht verschwiegen werden) forderte.
Über eine Frage aber werden Seehofer und Haldenwang schweigen müssen: die mögliche Überwachung der gesamten AfD als Verdachtsfall. Das Amt hatte die Partei im März intern zum Beobachtungsobjekt erklärt. Die Sache wurde schnell öffentlich, was dem Verwaltungsgericht Köln, wo eine Klage der AfD gegen den Schritt liegt, überhaupt nicht passte. Es entschied: Bis auf Weiteres darf der Inlandsgeheimdienst die Partei nicht beobachten. Ob das Gericht das Verfahren noch vor der Bundestagswahl abschließt, ist offen.
Sollte der Verfassungsschutz nicht nur wie bisher den völkischen »Flügel« und den Jugendverband JA zum Beobachtungsobjekt erklären dürfen, sondern die ganze AfD, würde die Zahl der Rechtsextremisten im nächsten Jahresbericht auf einen Schlag in die Höhe schnellen: auf weit über 50.000.

Der Thüringer AfD-Landeschef Björn Höcke, ebenfalls auf einer Demo in Chemnitz (2018)
Foto: Paul Sander / imago/Paul SanderNoch bis 2018 stellte übrigens ein Mann den Verfassungsschutzbericht vor, der in jüngster Zeit gern selbst Ausflüge in die neurechte Gedankenwelt unternimmt: Hans-Georg Maaßen, Ex-Verfassungsschutzpräsident und nun CDU-Bundestagskandidat.
Umstrittener CDU-Kandidat: Die verräterischen Kommentare des Hans-Georg Maaßen
Wie teuer Wohnungen sind
Höchstens ein Drittel des Einkommens sollte man für die Miete ausgeben, heißt eine Faustregel, sonst bleibt zu wenig übrig für die restlichen Ausgaben, die ein Leben so mit sich bringt. Doch immer weniger Menschen, vor allem in Großstädten, können die Regel einhalten, hat ein Team der Berliner Humboldt-Universität herausgefunden. Über die Ergebnisse berichtet heute mein Kollege Jens Radü.

Demonstrantin auf einer Demo gegen die Wohnsituation in Potsdam im März 2021
Foto: Martin Müller / imago images/Martin MüllerDie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, gefördert von der gewerkschaftseigenen Hans-Böckler-Stiftung, haben 77 Großstädte mit mehr als 100.000 Einwohnern untersucht und kamen zu dem Schluss, dass in fast jedem zweiten Haushalt gravierend mehr als 30 Prozent des Einkommens in die Miete fließt.
Zwar ist die Lage in den beliebten Millionenstädten wie Berlin, Hamburg, München und Köln besonders dramatisch. Aber bezahlbarer Wohnraum fehlt auch schon in mittelgroßen Städten wie Moers, Ulm oder Fürth. Die meisten Parteien dürften zur Bundestagswahl auch das Thema Wohnen in ihre Programme schreiben. Für den Kanzlerkandidaten der Union, Armin Laschet, der noch kein Programm vorgelegt hat, lohnt sich vielleicht ein Blick auf den Bericht meines Kollegen. Dort stehen auch ein paar Lösungsvorschläge.
Neue Immobilienstudie: Wo die Mieten noch bezahlbar sind – und wo nicht mehr
Verlierer des Tages...

Demonstrantin für LGBT-Rechte vor dem ungarischen Parlament im Oktober 2020
Foto: Bela Szandelszky / dpa...sind die sexuellen Minderheiten in Ungarn. Das Parlament in Budapest wird morgen mit großer Wahrscheinlichkeit ein Gesetz verabschieden, das die Rechte schwuler, lesbischer und transsexueller Menschen erheblich einschränkt und für eine homophobe Grundstimmung in Ungarn sorgen dürfte. Künftig wäre nach diesem Gesetz verboten, Homosexualität oder Transsexualität in Büchern oder Medien als normal oder positiv darzustellen, wenn die Inhalte Menschen unter 18 erreichen könnten. Auch Werbung, in der solche Menschen positiv oder normal gezeigt werden, wäre verboten. Programme an Schulen, die Kinder über sexuelle Minderheiten und zu einem respektvollen Umgang miteinander aufklären, sollen ebenfalls abgeschafft werden.
Schon 2020 hat Ungarn das Adoptionsrecht von Homosexuellen abgeschafft und die Eintragung von Geschlechtsänderungen unterbunden. Verlierer solcher autokratischen »Reformen« ist auch die Mehrheitsgesellschaft, die von Präsident Viktor Orbán in eine Abwehrhaltung gegen Minderheiten getrieben wird. Von den Werten der Europäischen Grundrechtecharta, die damit verletzt werden, ganz zu schweigen. Gestern demonstrierten Tausende Menschen gegen das Gesetz, für das Orbáns Fidesz-Partei aber über die nötige Mehrheit verfügt.
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Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihre Melanie Amann