Özlem Topçu

Die Lage am Morgen Wie fühlt sich denn ein Katarer, ein Homosexueller oder ein Gastarbeiter, Herr Infantino?

Özlem Topçu
Von Özlem Topçu, stellv. Leiterin des Auslandsressorts

Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,

heute geht es um die seltsamen Äußerungen des Fifa-Präsidenten vor WM-Start, um die Ergebnisse der Klimakonferenz in Scharm al-Scheich und um das bedrängte Moldau.

heute geht es um die seltsamen Äußerungen des Fifa-Präsidenten vor WM-Start, um die Ergebnisse der Klimakonferenz in Scharm al-Scheich und um das bedrängte Moldau.

Pathos macht es auch nicht besser

Jetzt hat sie tatsächlich begonnen, die Fußballweltmeisterschaft in Katar. Ich kann mich nicht so recht in Fußballfans hineinversetzen, weiß also nicht genau, wie schlimm der Schmerz darüber ist, dass besonders über dieser Weltmeisterschaft ein sehr großer Schatten liegt. Es gab ja so einige Debatten, notwendige (Menschenrechte im Allgemeinen, Rechte von Frauen und LGBT-Personen und Gastarbeiter im Besonderen) und weniger relevante (etwa die etwas weinerliche, weil selbstbezogene Frage, ob man die WM nun schauen kann oder nicht ).

La'eeb, das Maskottchen der Fußballweltmeisterschaft in Katar, schwebte über der Eröffnungszeremonie

La'eeb, das Maskottchen der Fußballweltmeisterschaft in Katar, schwebte über der Eröffnungszeremonie

Foto: Karim Jaafar / AFP

Ich habe den Eindruck, dieser Schatten ist noch größer als jener über den Olympischen Spielen in China. Oder über dem Austragungsort der vergangenen Fußballweltmeisterschaft 2018: Russland.

Langsam können wir also dazu übergehen zu fragen, was von dieser Fußballweltmeisterschaft bleiben wird. Offensichtlich nicht unbedingt der Zauber des Eröffnungsspiels. Aber vielleicht die Eröffnungsfeier der ersten Fußballweltmeisterschaft in der arabischen Welt? Mit dem etwas bizarren, aber gleichzeitig irgendwie berührenden Aufeinandertreffen von Hollywoodstar Morgan Freeman (ich habe genauso viele Fragen an dessen Auftritt wie Sie) und dem Paralympics-Sportler Ghanim Al-Muftah auf der Bühne?

Oder werden es die vielen sonderbaren Auftritte und Äußerungen von Fifa-Präsident Gianni Infantino sein, der tags zuvor auf einer Pressekonferenz tatsächlich noch Sätze wie diesen sagte: »Heute fühle ich mich katarisch, heute fühle ich mich arabisch, heute fühle ich mich afrikanisch, heute fühle ich mich homosexuell, heute fühle ich mich behindert, heute fühle ich mich als Gastarbeiter.« Schlimmer wurde das Ganze nur durch den besonders pathetischen Gesichtsausdruck und die Kunstpausen.

Fifa-Präsident Gianni Infantino neben dem katarischen Emir Tamim bin Hamad Al Thani beim Eröffnungsspiel der WM

Fifa-Präsident Gianni Infantino neben dem katarischen Emir Tamim bin Hamad Al Thani beim Eröffnungsspiel der WM

Foto: Karim Jaafar / AFP

Infantino warf der westlichen Welt Doppelmoral angesichts der Kritik an der Vergabe der Weltmeisterschaft an Katar vor. »Für das, was wir Europäer in den vergangenen 3000 Jahren getan haben, sollten wir uns für die nächsten 3000 Jahre entschuldigen, bevor wir anfangen, den Menschen moralische Lektionen zu erteilen.«

In der Tat ist es nicht frei von Widerspruch, einerseits in Autokratien um fossile Energien zu betteln und gleichzeitig die Menschenrechtslage vor Ort zu kritisieren. Man muss aber auch konstatieren, dass Katar eines der wenigen Länder in der Region ist, das sich nicht vollständig  taub und blind gegenüber Kritik zeigt. Und wenn man davon ausgeht, dass die Zeitrechnung mit der Geburt der Religionsstifter beginnt, dann hatte der Westen etwas länger Zeit für seine Entwicklung inklusive Aufklärung. Europa macht sicher nicht alles richtig. Aber diese Entschuldigungen, von denen der Fifa-Präsident spricht, die gibt es eben auch.

Vielleicht bleibt auch wenig von alldem, vielleicht fast nichts, je weiter die deutsche Nationalmannschaft im Turnier kommt.

Die Radikalinskis von Scharm al-Scheich

Während wir in Deutschland gerade sehr viel über junge (und auch ältere ) Menschen diskutieren, die Tomatensuppe oder Kartoffelbrei auf wertvolle Gemälde werfen und sich auf Straßen festkleben, gerät leicht in Vergessenheit, dass die Erderwärmung bald an einen Punkt gelangt, ab dem es kein Zurück mehr gibt.

Ging in die Verlängerung, ohne Durchbruch: Die Klimakonferenz COP27 in Scharm al-Scheich

Ging in die Verlängerung, ohne Durchbruch: Die Klimakonferenz COP27 in Scharm al-Scheich

Foto:

Mohamed Abd El Ghany / REUTERS

Dabei ist es eigentlich verrückt, weil sich gerade erst Tausende politische Entscheider, Verhandler, Experten und Aktivisten in Ägypten zum 27. (!) Klimagipfel getroffen haben, um genau darüber zu sprechen. Doch wie meine Kollegin Susanne Götze und mein Kollege Kurt Stukenberg analysieren, scheint der diesjährige Gipfel keinen wirklichen Fortschritt gebracht zu haben. Der »COP« droht, sich selbst ad absurdum zu führen:

»Es bleiben auch von dieser COP Worte wie die von Uno-Generalsekretär Guterres in Erinnerung, der warnte, die Welt befinde sich auf einem Pfad ›in die Klimahölle‹. Es ist dies eine fast schon maximal eskalierte Klimakonferenzsprache, die aber inzwischen auf minimale Resonanz in Form von Taten in der Realität trifft. Markige Worte der Staats- und Regierungschefs zu Beginn, emsiges Zusammentragen divergierender Positionen von knapp 200 Staaten durch die Delegierten, warnende Worte von Ministerinnen und Ministern zum Finale und dann ein weicher, nicht selten unwirksamer Kompromiss in der Abschlusserklärung: Je länger diese COP-Rituale fortgesetzt werden, desto wahrscheinlicher wird es, dass der so wichtige Paris-Prozess in der Öffentlichkeit an Glaubwürdigkeit einbüßt und dauerhaft Schaden nimmt.«

Gerade dieses Jahr hätte es Anlass genug gegeben, einen erfolgreichen Abschluss zu haben. Überflutungen in Pakistan und Südsudan, Dürren in Somalia, Kenia oder Äthiopien, der wärmste Sommer in Europa seit Beginn der Aufzeichnungen , mit ausgetrockneten Flussbetten in Italien oder Trinkwasserrationierungen in Frankreich.

Eigentlich wurde in den vorherigen Gipfeln bereits alles verhandelt, schreiben die Kollegen, es hätte nun um die Umsetzung der bisherigen Vereinbarungen gehen sollen. Doch stattdessen werde immer wieder das 1,5-Grad-Ziel infrage gestellt – ein Ziel, dessen Einhaltung nun auch eigentlich fast nicht mehr möglich ist.

In Scharm al-Scheich wurde auch keine Abkehr von Gas und Öl beschlossen. Immerhin ist es gelungen, sich auf die Einrichtung eines Klimafonds zu einigen, in das die reichen Länder als Hauptverursacher der Klimaerwärmung einzahlen und mit dem ärmere Länder bei Schäden durch Wetterextreme entschädigt werden .

Greenpeace-Vorstand Martin Kaiser bezeichnete das als »Pflaster auf eine klaffende Wunde«. Eine klaffende Wunde mit einem kleinen Pflaster zu verarzten, klingt nach sicherem Verbluten. Das ist radikal untätig im Angesicht der Lebensgefahr. Radikaler jedenfalls, als alte Meister hinter Schutzglas mit Tomatensuppe zu bewerfen.

Das nächste Land auf Putins Liste?

In Paris ist heute eine Hilfskonferenz angesetzt, auf der es um die Unterstützung eines kleinen europäischen Landes gehen soll: Moldau. Außenministerin Annalena Baerbock wird mit ihrer französischen Amtskollegin Catherine Colonna und ihren rumänischen und moldauischen Counterparts, Bogdan Aurescu und Nicu Popescu, zusammentreffen. Später wird der französische Präsident Emmanuel Macron mit der moldauischen Staatschefin Maia Sandu dazukommen. Denn Moldau sieht sich bedroht – von Moskau, das offensichtlich neben dem Angriffskrieg gegen die Ukraine noch genug Energie und Willen hat, ein weiteres Land in seiner Nachbarschaft, das sich Europa zuwendet, zu destabilisieren. Durch prorussische Politiker und – natürlich – durch den Entzug von Strom und Gas.

Sollen heute erneut aufeinandertreffen: Frankreichs Emmanuel Macron und Moldaus Maia Sandu bei einer Konferenz im tunesischen Djerba

Sollen heute erneut aufeinandertreffen: Frankreichs Emmanuel Macron und Moldaus Maia Sandu bei einer Konferenz im tunesischen Djerba

Foto: Ludovic Marin / AFP

Mein Kollege Maximilian Popp war gerade erst in Chişinău und hat auch die Präsidentin treffen können, die im Wintermantel vor ihm saß – die Heizung in ihrem Amtssitz hatte Sandu aus Spargründen abgedreht. Max schreibt: »Sandu versteht sich als Europäerin. In ihrem Amtszimmer hängt eine Europaflagge an der Wand. Ihre Regierung verkörpert all jene Werte, die die EU so gern für sich beansprucht: Sie ist demokratisch, offen, divers. In dieser existenziellen Krise aber wird sie von Brüssel weitgehend alleingelassen.«

Zu hoffen ist, dass diese heutige Konferenz ein Zeichen setzt, das bis nach Moskau reicht.

Mehr Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine finden Sie hier:

  • Das geschah in der Nacht: Teaser – am Ende verlinken.

  • »Ihr spielt mit dem Feuer!« Das von russischen Truppen besetzte Kernkraftwerk ist nach längerer Zeit wieder unter Beschuss geraten. Experten der Atomenergiebehörde sahen die Detonationen teils von ihrem Fenster aus – und geben vorsichtig Entwarnung.

  • »Putins Leute sind überall«: Der Rückzug aus Cherson ist eine schwere Niederlage für den russischen Präsidenten. Die Stimmung in der Bevölkerung ist gedrückt. Trotzdem halten viele seine Macht für stabil. Worauf stützt sich der Kremlherrscher? 

  • Don Quijote der Kampfpanzer: In Kiew stellt Anton Hofreiter sich als »lautester Rufer nach Waffen für die Ukraine« vor. Die Ukrainer sind etwas leiser geworden – obwohl sie dringend Panzer bräuchten. 

Hier geht's zum aktuellen Tagesquiz

Gewinner des Tages...

...ist der Münzfernsprecher, auch wenn heute sein letzter Tag ist. Als Lageschreiberin hat man natürlich jederzeit alle wichtigen Daten im Kopf. Nur dass heute der Münzeinwurf in den verbliebenen Fernsprechern der Deutschen Telekom deaktiviert wird, habe ich in einem ganz wunderbaren Artikel eines Kollegen in der heutigen »Süddeutschen«  gelesen.

Seine Zeit ist nun vorbei: Der Münzfernsprecher

Seine Zeit ist nun vorbei: Der Münzfernsprecher

Foto: Arno Burgi / dpa

Es hat mich an eine Episode in meiner Kindheit erinnert. In den frühen Achtzigerjahre hatte noch nicht jeder Haushalt ein eigenes Telefon, und so nahm mich meine Mutter jeden Sonntagabend mit zur Telefonzelle an der Ecke unserer Straße. Sonntag war der Tag, an dem in die alte Heimat telefoniert wurde, am Ende der Woche war genug Kleingeld zusammengesammelt. Erst waren es 10, später 20 Pfennig, die man als Basis einwerfen musste, zumindest meiner Erinnerung nach – und sobald am anderen Ende jemand dranging, wurde sofort eine oder gleich zwei Mark reingeworfen, damit die Verbindung stand. In dieser kleinen gelben Kabine erreichten uns die schönsten und die traurigsten Nachrichten, ohne, dass wir in glückliche oder traurige Gesichter blicken konnten. Gut, dass es jetzt WhatsApp gibt.

Die jüngsten Meldungen aus der Nacht

Die SPIEGEL+-Empfehlungen für heute

  • Traumjob Beamtin: Behäbig, bürokratisch, langweilig: Das Image des öffentlichen Dienstes war lange Zeit mies. Die Generation Z sieht das heute oft anders – was reizt junge Leute daran? 

  • »Die schlimmsten Überschwemmungen«: Viele Länder in West- und Zentralafrika werden zurzeit von verheerenden Überschwemmungen heimgesucht. Millionen von Menschen sind betroffen. Matthias Schmale, Uno-Koordinator für Nigeria, erklärt die Lage vor Ort. 

  • Die erfundene Verschwörung: Im November 1952 verurteilte ein tschechoslowakisches Gericht im »Slánský-Prozess« elf angebliche Staatsfeinde zum Tode. Es war eine Inszenierung, wie kürzlich aufgetauchte Filme belegen – und fast alle Opfer waren Juden. Was steckte dahinter? 

  • Was wir bereuen werden – und wie wir das ändern können: Job, Ehe, Kinder, Hauskauf: Viele Menschen bedauern bestimmte Lebensentscheidungen. Warum ist das so – und kann man aus Reue auch Kraft ziehen? 

Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.

Ihre Özlem Topçu

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