
Die Lage am Morgen Anstrengend, aber nötig – der Dialog mit den Impfgegnern

Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,
heute geht es um die Frage, warum harte Maßnahmen gegen Impfgegner nicht ausreichen. Warum höhere Lebensmittelpreise sozial abgefangen werden müssen. Und um die Bedeutung von Baerbocks plissiertem Kleid und Habecks Krawatte.
Umgang der Politik mit Impfgegnern: Es braucht mehr als harte Maßnahmen
Die Münchner Polizei bereitet sich heute auf eine mögliche Versammlung von Gegnern der Coronamaßnahmen vor. Die letzte, unangemeldete Versammlung vor einer Woche war eskaliert.
Wie mit den Gegnern der Coronaregeln umzugehen sei, das ist auch jenseits von Demos und Polizei in diesen Tagen die beherrschende Frage. Der Bundestag soll sich schon Anfang 2022 mit der Einführung einer allgemeinen Impfpflicht gegen das Virus befassen. Sollte sie kommen, gibt es bereits Vorschläge, wie Verstöße dagegen geahndet werden könnten: Bayerns CSU-Gesundheitsminister Klaus Holetschek erwägt neben Bußgeldern auch finanzielle Nachteile bei der Krankenversicherung. Zudem wird über ein zentrales Impfregister debattiert.

Coronaproteste in Rostock
Foto: Bernd Wüstneck / dpaIn den Zeitungen und Magazinen bekommen Impfbefürworter währenddessen Ratschläge von Fachkräften der Psychologie und Psychiatrie, wie sie mit Impfgegnern in ihrer Familie und im Freundeskreis umgehen können. Meine Kollegin Katja Thimm hat den Psychiater Klaus Lieb interviewt. Er rät dringend dazu, die Ängste der Protestierenden »ernst zu nehmen«: »Ohne eine Ferndiagnose stellen zu wollen, beobachte ich bei vielen dieser Demonstranten sehr viel Kränkung. Sie scheinen sich nicht richtig zugehörig zu fühlen und vom Staat und von der Gesellschaft enttäuscht zu sein. Die Proteste sind auch der Versuch, sich dieser als ungerecht empfundenen Welt entgegenzustellen. Wenn Kränkungen tief sitzen, helfen selten Argumente.«
Ähnlich äußern sich auch andere Experten. Der Leiter einer Beratungsstelle sagt in der »Süddeutschen Zeitung«, man müsse in der Kommunikation »unbedingt vermeiden, die Menschen abzuwerten«, oft liege ein »geringer Selbstwert« vor.
Wenn das aber stimmt, läuft in der Politik in diesen Tagen etwas schief. Wie kann es sein, dass sich normale Bürgerinnen und Bürger über dem Weihnachtsbraten oder während des gemeinschaftlichen Schwenkens der Wunderkerzen an Silvester im Anhören und Verstehen anderslautender Meinungen üben sollen, in der Politik aber vor allem über Pflichten, Register, Strafen und Bußgelder debattiert wird?
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Es ist tatsächlich zum Verzweifeln – so viele gute Argumente für die Impfung sind in der Welt. Sie beruhen auf einer exzellenten Datenbasis, und trotzdem sind immer noch so viele Menschen hierzulande dagegen. Und ja: Da die Lage nun mal so ist, müssen auch harte Maßnahmen debattiert werden, keine Frage. Aber wenn die eigentlichen Ursachen für die Proteste womöglich ganz woanders liegen, wie Fachleute vermuten, müssen Politiker und Politikerinnen sich doch gleichzeitig immer noch darum bemühen zu verstehen, was da los ist. Und sich den Kopf darüber zerbrechen, was es neben all den harten Entscheidungen für Möglichkeiten gibt, mit den Gegnern im Gespräch zu bleiben.
Das eine zu tun, dabei aber das andere nicht zu lassen, darum geht es.
Umgang mit Geschichte in Russland: Ab jetzt entscheidet Putin
Es kam nicht überraschend, bedrückend ist es trotzdem: Gestern entschied das Oberste Gericht Russlands, die Menschenrechtsorganisation Memorial aufzulösen. Memorial hatte vor mehr als drei Jahrzehnten begonnen, die sowjetische Vergangenheit und die Verbrechen der Stalinzeit aufzuarbeiten. Es ging darum, im Bewusstsein früherer Vergehen ein neues Russland aufzubauen.

Polizisten in Moskau tragen einen Demonstranten fort. Er hatte gestern gegen die Entscheidung des Obersten Gerichts für die Auflösung von Memorial protestiert.
Foto: Uncredited / dpaVon einem neuen Russland ist lange schon nicht mehr die Rede, beziehungsweise schon – aber in einem völlig anderen Sinne, als die Leute von Memorial es sich wünschten. Russland wird immer autoritärer. Unser Korrespondent Christian Esch schreibt in einem Kommentar: »Faktisch wird mit dem Urteil gezeigt, wie über Geschichte geredet werden darf und wie nicht. Die Grenzen des Gedenkens werden dort gezogen, wo der russische Staat als solcher Schaden nehmen könnte – und darüber befinden Wladimir Putins Beamte, nicht die Gesellschaft.«
Debatte um Lebensmittelpreise: Özdemir liegt zum falschen Zeitpunkt richtig
In der »Bild am Sonntag« stellte der grüne Landwirtschaftsminister Cem Özdemir höhere Preise für zu billige Lebensmittel in Aussicht. Die »Bild« verkündete daraufhin den »Aufstand gegen Özdemirs Fleisch-Plan«. Mit diesen Reflexen hat Özdemir rechnen müssen. Da er in der Sache recht hat, werden sie ihn vielleicht nicht einmal stören.

Fleischpreise beim Discounter Aldi
Foto: Sven Simon / imago imagesDoch meine Kollegen im Hauptstadtbüro sehen kommunikative Mängel bei Özdemirs Vorstoß und schreiben: »Zum falschen Zeitpunkt das Richtige auf eine unverblümte Weise zu sagen, ist eine komplexe Art des politischen Fauxpas.« Auch weisen sie auf den Protest von Sozialverbänden hin. Aus diesen Kreisen heißt es, die nötige ökologische Wende könne nur gelingen, wenn man allen Menschen soziale Sicherheit gebe. Und: Schon jetzt litten viele Menschen unter steigenden Preisen. Meine Kollegen schreiben: »Hier lauern Gefahren für den inneren Frieden, die größer sein könnten, als es bislang die Coronaproteste sind.«
Gewinner des Tages…

Grünenpolitikerin Baerbock bei Amtseinführung
Foto: HANNIBAL HANSCHKE / REUTERS...ist die Mode von Politikerinnen und Politikern. Ständig ist in diesen Tagen davon die Rede. Und das hat leider nichts mit dem Mangel an echten News zu tun. Von denen gibt es genug, vor allem der betrüblichen Sorte. Vorsichtshalber möchte ich hier trotzdem einen Satz zitieren, den die »Süddeutsche Zeitung« ihrerseits vorsichtshalber einer Rezension über die Kleiderauswahl bei der Vereidigung der Ministerinnen und Minister voranstellte: »Deutschland, bitte keine Leserbriefe schreiben, Mode ist unwichtig, es geht natürlich nur um Inhalte! Aber: Die Verpackung sagt trotzdem mehr als Worte.«
Annalena Baerbock in »Granny Smith Grün« (»Bild«)! Oder: »zur Vereidigung im plissierten Kleid« (»FAZ«). Und die »alte, braune Ledertasche« von Robert Habeck (»Zeit«)! Seine Anzüge! Seine jäh zum Vorschein gekommene Krawatte!

Grünenpolitiker Habeck bei Amtseinführung
Foto: Frank Ossenbrink / imago images/Frank OssenbrinkDa geht es nicht nur um Äußerlichkeiten, da werden Rollenbilder neu verhandelt. Für welches Rollenbild das häufig rezensierte Äußere des Grünenpolitikers Habeck herhalten muss, scheint noch nicht ganz abgemacht zu sein. Bei seiner Parteifreundin Baerbock ist man da weiter: Dass sie kürzlich in Brüssel keinen (!) Blazer trug, EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen aber schon, deutete die »FAZ« als Zeichen einer Zeitenwende, in der sich langsam ein »Post-Merkel«-Look durchsetze. Es hieß: »Frauen sind sich ihrer Weiblichkeit bewusst und haben zugleich Machtansprüche.«
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Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihre Susanne Beyer