
Die Lage am Morgen Der neue Traumjob: einfacher Abgeordneter

Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,
heute geht es um die Impfpflicht, um einen Folterprozess in Koblenz, um einen feigen Kapitän, um Wimmelbilder und um Boris Johnson.
Banger Bundeskanzler
Bundeskanzler Olaf Scholz ist für die Impfpflicht, will das aber nicht als Bundeskanzler betreiben. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach ist für die Impfpflicht, will aber nicht als Bundesgesundheitsminister einen Gesetzentwurf vorlegen, wie er dem Nachrichtenportal »The Pioneer« sagte. Da müsse er neutral bleiben, ergänzte er herzig.

Olaf Scholz und Karl Lauterbach
Foto:FABRIZIO BENSCH / REUTERS
Die Männer, die unbedingt ganz nach oben wollten in der Exekutive, sind jetzt vor allem Abgeordnete, einfache Abgeordnete, wie es so schön heißt. Die Stunde der Exekutive ist abgelaufen, es lebe das Parlament, das Herz der Demokratie, das zuletzt ein bisschen lahm schlug. Der Bundeskanzler ist nur noch einer von vielen (sehr vielen sogar: 736 Sitze umfasst der neue Bundestag), der Bundesgesundheitsminister auch. Égalité à la Deutschland.
Können wir das Ende der Demokratiekrise (siehe weiter unten) ausrufen? Ich fürchte nein. Scholz und Lauterbach machen das meiner Ansicht nach aus Bangigkeit. Sie wollen sich nicht allzu sehr mit der umstrittenen Impfpflicht verbinden, die in der Ampelkoalition keine Mehrheit hat. Leadership – ein Wort, das Scholz gern benutzt, gestern auch im Bundestag – ist das nicht.
Zweischneidig
In Koblenz wird heute voraussichtlich das Urteil über Anwar Raslan gesprochen. Er war bis 2012 Oberst eines syrischen Geheimdiensts und mutmaßlich verantwortlich für unzählige Folterungen. Im Zuge der Arabellion löste er sich vom Regime, desertierte und floh. In Deutschland lebte er unbehelligt über Jahre, bis er nach dem Weltrechtsprinzip wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt wurde.

Anwar Raslan im April 2020 vor Gericht in Koblenz
Foto: THOMAS LOHNES/ AFPSeit April 2020 steht Raslan in Koblenz vor Gericht. Zeugen berichteten über die unerträglichen Zustände in syrischer Haft. Meine Kollegen Hannah El-Hitami und Christoph Reuter haben in einer differenzierten Geschichte im SPIEGEL über Raslan und seinen Prozess berichtet. Ihr Fazit hat mich nachdenklich gemacht: »Es ist zweischneidig, für die Untaten einer Diktatur ausgerechnet deren Deserteure zur Rechenschaft zu ziehen.« Diese Geschichte ist meine Lektüre-Empfehlung für diesen Tag:
Der verkörperte Albtraum
Heute vor zehn Jahren glitt das Kreuzfahrtschiff »Costa Concordia« durch die raue See vor der italienischen Insel Giglio, zu schnell, zu dicht am Ufer entlang. Ein Felsen ritzte die linke Flanke auf, das Schiff kippte zur Seite und sank, 32 Menschen starben. Wer ging nicht als Letzter von Bord: der Kapitän, Francesco Schettino.

Mitglieder der italienischen Marine verlassen in Schlauchbooten die gekenterte »Costa Concordia«
Foto: Massimo Percossi / dpaDas machte ihn weltberühmt und trug ihm den Spitznamen »Kapitän Feigheit« ein. Derzeit sitzt Schettino eine 16-jährige Freiheitsstrafe ab, weil er sich rund um die Havarie verantwortungslos verhalten hat. Für mich ist er mehr als ein Häftling, nämlich die Verkörperung des Albtraums, an der Stelle zu versagen, an der man auf keinen Fall versagen darf. Ein Kapitän geht als Letzter von Bord, basta. Ein Journalist ist der Wahrheit verpflichtet, auch basta.
Welt ohne Worte
Gestern war ich im »The New Institute« in Hamburg, einem relativ neuen Thinktank, um mit dem Politologen Philipp Manow über die Krise der Demokratie zu reden. Manow saß vor einer Bücherwand, umringt von Werken von Habermas, Streeck und anderen politischen Denkern.
Wir sprachen gerade über Francis Fukuyama, als mir eine Bücherkiste auf dem Boden auffiel. Deutlich sichtbar war ein Wimmelbilderbuch von Ali Mitgutsch, und sofort war ich so heiter wie traurig. Mitgutsch ist am Montag im Alter von 86 Jahren gestorben. Seine Bücher habe ich mit drei Kindern vielfach durchgesehen, und für mich war das mindestens so ein Spaß wie für sie.

Ali Mitgutsch (Archivbild)
Foto: Hanna Spengler / epdMitgutsch malte kleine Idyllen, in denen es von Menschen mit roten Wangen wimmelte, Menschen, denen nichts Schlimmes widerfuhr, höchstens dass mal eine Katze einen frisch gefangenen Fisch klaute oder ein kleiner Junge einen Schabernack trieb. Menschen, die auf angenehme Weise müßig oder geschäftig waren, und sie lebten in einer Welt ohne Demokratiekrise, in einer Welt fast ohne Worte. Ich fand viel Freude und Erholung in diesen Büchern.
Eins habe ich noch, »Komm mit ans Wasser«, zufällig das gleiche, das im New Institute Werken von Habermas Gesellschaft leistet. Ich werde es für immer behalten, ein Wimmelbilderbuch von Mitgutsch kann man auch als Erwachsener gut gebrauchen, wenn einem die eine oder andere Krise auf die Seele drückt.
Verlierer des Tages...

Boris Johnson
Foto: ANDY RAIN / EPA...ist Boris Johnson. Ist es nicht erbärmlich, wie sich prominente, machtvolle Leute herauswinden wollen, wie sie Fehler verschleiern oder krude rechtfertigen? Vom Tennisspieler Novak Djoković wollen wir erst gar nicht reden, sondern nur vom britischen Premierminister Boris Johnson, der unerlaubt eine Gartenparty besuchte , als sein Land im Lockdown versunken war. Nun hat er behauptet, gedacht zu haben, es sei ein Arbeitsessen gewesen. Puh.
Johnson muss damit rechnen, dass er den Rückhalt seiner Partei und damit sein Amt verliert. Mein Verlierer des Tages ist er schon jetzt, weil er sich mit einer so erbärmlichen Ausflucht dagegen wehrt.
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Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihr Dirk Kurbjuweit