

Die Lage am Morgen Angela Merkels Gespür für Kritik

Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,
heute beschäftigen wir uns mit dem einsamen Abschied eines Rüpels, der Kritikfähigkeit von Angela Merkel – und mit einem tragischen Helden aus Island.
Die Rückkehr der Würde
Gestern wurde Joe Biden endlich ins Amt des US-Präsidenten eingeführt. Seine Rede hielt er auf den Stufen des Kapitols. Erst zwei Wochen zuvor hatte sein Vorgänger seine höchstpersönlich aufgepeitschten Anhänger dieselben Stufen hochgescheucht, darunter der »Büffelmann mit seinen Hörnern« (O-Ton Armin Laschet). Was folgte, ist bereits Geschichte: der gewaltsame Sturm des Parlamentsgebäudes, ein Angriff auf die Demokratie des Landes.
Biden wird vieles von dem rückgängig machen, was Trump politisch angerichtet hat.
Als eine der ersten Amtshandlungen leitete er die Rückkehr der USA ins Pariser Klimaschutzabkommen ein. Er wird das Verhältnis zu alten Partnern wie Deutschland wieder normalisieren. Und auch die gefledderte Krankenversicherung namens Obamacare wird nun repariert.
Die wichtigsten Veränderungen aber, die mit Bidens Amtsübernahme einhergehen, sind weniger politischer als charakterlicher Natur. Er wird dem Land ein wenig Ruhe, ein Mindestmaß an Rationalität und eine Menge Würde zurückgeben. Das ist nach Jahren des Flegeltums an der Spitze die wohl wichtigste Veränderung des gestrigen Tages.
Trumps letzte Reise
Trump, der natürlich nicht an Bidens Amtseinführung teilnahm, verließ das Weiße Haus immerhin rechtzeitig. Für seinen vom Steuerzahler finanzierten Zapfenstreich wählte er – wie 2005 Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder – Frank Sinatras »My Way« als Abschiedssong.
Der CNN-Reporter Jim Acosta hat Trump auf dieser letzten Reise als Präsident begleitet. Vom ersten Tag an hat Acosta, ein ebenso charmanter wie aufrichtiger Reporter, diese Präsidentschaft aus nächster Nähe beobachtet. Oft wurde er selbst zum Ziel von Trumps Ausrastern und Hasstiraden gegen Journalisten, die er konsequent als »Feinde des Volkes« bezeichnete.
»Trump schlich über die Bühne wie ein geschlagener Preisboxer, der den Hallenausgang sucht«, schrieb Acosta über Trumps letzte Stunden im Amt. »Er wirkte so klein und allein wie nie zuvor.« Seit dem Rücktritt von Richard Nixon habe kein Präsident das Amt unter ähnlich unwürdigen Umständen verlassen. Aber das Urteil der Historiker, glaubt Acosta, könnte noch verheerender ausfallen: Er könne als schlechtester US-Präsident aller Zeiten in die Geschichtsbücher eingehen.
Auf Trumps letztem Flug in der »Air Force One« Richtung Florida wollte Trump keinen der mitreisenden Journalisten im hinteren Teil der Maschine mehr sehen. Eine seiner Sprecherinnen erklärte Acosta und Kollegen, dass Trump keine konkreten Pläne für die kommenden Tage habe. Er werde vor allem Golf spielen. »Still rumsitzen ist nicht seine Stärke.« Genau das könnte weiter das Problem sein. Auch politisch.
Angela Merkels Gespür für Kritik
Um elf Uhr findet in Berlin eine Veranstaltung mit Seltenheitswert statt. Die Bundeskanzlerin tritt persönlich vor die deutsche Öffentlichkeit und stellt sich (womöglich) kritischen Fragen. Dafür, dass wir uns gerade in der Hochphase einer Pandemie befinden und die politische Kommunikation einen entscheidenden Anteil daran hat, ob die Bürger bei den jeweils geltenden Maßnahmen mitmachen, geschieht dies tatsächlich viel zu selten. Das letzte längere Interview gab Angela Merkel »DB Mobil«, dem Kundenmagazin der Deutschen Bahn. Dort wurde sie knallhart rangenommen, zum Beispiel mit folgenden Fragen:
»Was könnte die Bahn aus Ihrer Sicht noch besser machen.«
»Was ist Ihnen von Ihren bisherigen Zugreisen besonders in Erinnerung geblieben?«
»Brauchen Sie als Bundeskanzlerin bei Reisen in ferne Länder eigentlich einen Reisepass?«
Zumindest die letzte Frage beantwortete die Kanzlerin eindeutig: »Natürlich.«
Auf der heutigen Pressekonferenz könnte sie unter anderem erläutern, warum ihr Amt jene Experten, die die Ministerpräsidenten vor wichtigen Corona-Entscheidungen briefen sollen, so einseitig castet. Von den acht Wissenschaftlern, die am vorigen Montag zu Wort kamen, befürwortet eine große Mehrheit Merkels Forderung nach einer Verschärfung der Maßnahmen. Mit einer umfassenden Pandemieberatung, die auch soziale und psychische Folgen der Pandemie im Blick hat, haben diese Veranstaltungen jedenfalls wenig zu tun. Der ausgeprägte Wunsch, vor allem darin bestärkt zu werden, was man ohnehin für richtig hält, wirkt nicht allzu souverän. Die meisten Ministerpräsidenten ließen sich dennoch nicht beeindrucken. Eine scharfe Verschärfung wird es vorerst jedenfalls nicht geben.
Verlierer des Tages…
…ist (leider) Alfreð Finnbogason. Der isländische Stürmer des FC Augsburg hat für meinen Geschmack den lässigsten Namen im deutschen Profifußball. Gestern Abend hatte Finnbogason die Chance, zum Helden des Spieltags zu werden. In der Partie seines kleinen bayerischen Vereins gegen den übermächtigen bayerischen Verein hätte er kurz vor Schluss per Elfmeter ausgleichen können. Aber Finnbogasonn knallte den Ball an den linken Pfosten. So bewahrte er den FC Bayern, nach der Pokalpleite gegen Kiel, vor einer weiteren Schmach in den zuletzt eher bescheidenen Wochen.
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Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihr Markus Feldenkirchen