
Die Lage am Montag Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,
Kanada wählt heute ein neues Parlament, und niemand sagt mehr, dass es hier um einen Gegenspieler von Donald Trump geht. Als solcher galt der kanadische Premierminister Justin Trudeau nach seiner ersten Wahl in dieses Amt. Für kurze Zeit hoffte der liberale Teil des Westens, eine Lichtgestalt gefunden zu haben, so strahlend, so liberal. Aber dann war Trudeau nur ein Politiker, der manches gut machte, anderes nicht, er wurde von Skandalen heimgesucht, und nun muss er um seine Mehrheit bangen.
Wenn man es positiv wenden will: Demokratien können kaum Lichtgestalten hervorbringen, weil die Öffentlichkeit so wachsam ist und die meisten Verfehlungen ans Licht kommen. Zudem lässt der parlamentarische Prozess mit seinen Streits und Kompromissen kein dauerhaftes Leuchten zu.
- Justin Trudeau vor Wahlen in Kanada: Der entzauberte Prinz
Lichtgestalt II
Aber es gibt doch Willy Brandt? Heute vor 50 Jahren hat ihn der Bundestag zum ersten Mal zum Bundeskanzler gewählt.
Er machte manches gut, anderes nicht, wurde von Skandalen heimgesucht und trat nach nur fünf Jahren zurück. Aber für viele ist er bis heute eine Lichtgestalt. Was könnte Trudeau von ihm lernen?
- Man braucht einen großen Satz: "Wir müssen mehr Demokratie wagen."
- Man braucht ein großes Projekt, das man eisern durchficht: die Ostpolitik.
- Man muss aus einer Zeit kommen, die viele als dunkel wahrnahmen: die Adenauer-Jahre.
- Man braucht einen grimmigen Feind in den eigenen Reihen: Herbert Wehner.
- Man braucht ein bewegtes Privatleben, das viele Menschen in irgendeiner Weise berührt: Frauen, Kinder, Alkohol.
- Man muss ins Visier einer dunklen Macht geraten: der DDR-Spion Günter Guillaume in Brandts Umfeld.
- Man muss früh abtreten, weil der politische Betrieb auf Dauer jeden entzaubert.
Das sind die Hauptkomponenten der Lichtgestalt Willy Brandt. Einer wie er fehlt.
- Video: 50 Jahre Kanzlerwahl Willy Brandt: Der letzte Superstar der Sozialdemokratie
Farnvordringlichkeit
Bis zum Bosnien-Krieg habe ich so ziemlich jedes Buch von Peter Handke gelesen. Doch seine Parteinahme für die Serben, seine Angriffe gegen Journalisten haben bei mir einen inneren Aufruf zum Boykott ausgelöst. Ich las dann trotzdem 1996 "Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise", weil ich wissen wollte, was er zum Massaker von Srebrenica schreibt. Dort war er unter anderem hingereist.
In dem Buch las ich Schmähungen gegen Journalisten, ich las ein Vorbeischreiben am Massaker. Ich las das Wort Farnvordringlichkeit. Ich sagte meinen Boykott ab, bis heute denke ich bei Spaziergängen an dieses Wort, das so schön ausdrückt, wie der Farn vorwitzig in die Waldwege greift.
Peter Handke lese ich mit dem Gemüt, lasse mich von seiner Poesie überwältigen. In den politischen Fragen lehnt sich mein Verstand nach wie vor gegen seine Ansichten auf. Diese Ambivalenz kann ich aushalten und den Nobelpreis für Literatur als Preis für Poesie verstehen, der nicht immer dem Verstand gerecht werden muss.
- Sasa Stanisic gegen Peter Handke: Ein Roman, der live entsteht
Verlierer des Tages
Der Preis für Menschenwürde wird heute nicht vergeben. Die Roland Berger Stiftung hat den Termin auf unbestimmte Zeit verschoben. Grund sind Recherchen vom "Handelsblatt" über den Vater des Unternehmensberaters. Er war womöglich doch kein Opfer der Nazis, wie vom Sohn nahegelegt, sondern ein Profiteur. Berger will das nun von renommierten Historikern aufklären lassen.
Mit den Preisen ist es so eine Sache: Mal ist der Gekürte zwielichtig, mal der Stifter oder die Jury (wie vormals beim Nobelpreis für Literatur). Wahrscheinlich, denke ich mit einem gewissen Schmerz, ist dieser ganze Versuch, einen Besten zu bestimmen, ein Irrweg, weil er Klarheit suggeriert: Es gibt Beste, und die Juroren oder Preisstifter besitzen die moralische Autorität und das höhere Wissen, um diese Besten zu bestimmen. Diese Anmaßungen brechen regelmäßig in sich zusammen (auch bei Journalistenpreisen). Roland Berger ist mein Verlierer des Tages. Denn wer Menschenwürde auszeichnen will, muss sich seiner moralischen Autorität sehr sicher sein.
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Ich wünsche Ihnen einen guten Start in die Woche.
Ihr Dirk Kurbjuweit