
Die Lage am Morgen Was auf Deutschlands Autobahnen kompensiert wird

Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,
heute geht es um die Gefahr eines neuen, schweren Konflikts auf dem Balkan – und das Versagen der EU. Außerdem befassen wir uns mit Matteo Salvini, der vor Gericht muss, sowie mit den Deutschen und ihrem irrationalen Verhältnis zum Tempolimit.
Achtung, es droht ein neuer Balkankonflikt!
Das Thema Balkan ist kein Quotenbringer, dennoch fange ich damit an, denn es ist wichtig: Auch wenn der Krieg vor 30 Jahren lange her zu sein scheint und die Region von außen immer etwas instabil wirkte – was dort gerade geschieht, kann für Europa dramatische Folgen haben. Noch steht kein neuer Krieg vor der Tür, aber die Geschehnisse sind bedrohlich: In Bosnien-Herzegowina will Serbenführer Milorad Dodik die seit drei Jahrzehnten herrschende Dayton-Nachkriegsordnung aufkündigen und den serbischen Landesteil faktisch abspalten; auch zwischen Serbien und Kosovo gibt es erhebliche Spannungen.

Eine Erinnerung an damals: Zwei Hochhäuser in Sarajevo brennen nach schwerem Beschuss
Foto: GEORGES GOBET / AFPDas Drama: Die EU ist in der Region faktisch abwesend, sie tut nichts, sie hat keinen Plan, keine Politik. Das wird sich rächen. Denn erstens ist die EU-Außenpolitik für alle Zeiten komplett unglaubwürdig, wenn sie nicht einmal auf dem Balkan etwas ausrichten kann – und stattdessen Russland oder China dort agieren lässt. Die Tatsache, dass die EU diesen Ländern keinerlei Perspektive bietet, trägt zum Zündeln dieser Tage bei. Und zweitens sind die Folgen für den Rest Europas nicht auszudenken, wenn es dort tatsächlich jemals wieder zu bewaffneten Auseinandersetzungen käme. Ausgeschlossen ist das keineswegs.

SPIEGEL-Korrespondent Mayr im Gespräch mit Serbenführer Dodik in Banja Luka
Foto: Vladimir Zivojinovic / DER SPIEGELIch empfehle Ihnen unseren Report dazu, für den Wien-Korrespondent Walter Mayr in Banja Luka den Serbenführer Milorad Dodik getroffen hat – den Mann, der kräftig zündelt (damit aber nicht der einzige ist). Unsere Reporterin Lina Verschwele war in Sarajevo unterwegs und mein Kollege Alexander Sarovic hat von Berlin aus mitgearbeitet. Als sie den neuen Hohen Repräsentanten der internationalen Gemeinschaft in Sarajevo besuchen wollten, den Deutschen Christian Schmidt, mussten sie feststellen, dass er derzeit nicht einmal im Land ist – was die Abwesenheit europäischer Außenpolitik in der Region nur noch unterstreicht.
Muss Matteo Salvini in Haft?
Lega-Chef Matteo Salvini muss heute in Palermo vor Gericht erscheinen, ihm drohen bis zu 15 Jahre Haft. Der Vorwurf gegen den früheren Innenminister von der rechtspopulistischen Lega: Freiheitsberaubung in 147 Fällen – es geht um Salvinis Anlegeverbot für Seenotretter im Jahr 2019 und um gerettete Migranten, die damals nicht an Land durften.

Salvini
Foto: CLAUDIO PERI / EPADas Verfahren ist – so schreibt es Italien-Korrespondent Frank Hornig – aus drei Gründen interessant: Erstens geht es um die juristische Aufarbeitung eines Konflikts, der 2019 international Schlagzeilen machte: Nichtregierungsorganisationen retteten Schutzsuchende im Mittelmeer vor Libyen. Die EU schaute weitgehend tatenlos zu. Und Matteo Salvini verbot den NGOs, in Italien anzulegen. Durfte er so entscheiden, um die Interessen seines Staates zu verteidigen und illegale Einwanderung zu verhindern, wie er argumentiert?
In Palermo geht es, zweitens, auch um internationale Politik. Denn die humanitäre Krise im Mittelmeer ist bis heute nicht gelöst . Rettungsschiffe können in der Regel zwar leichter italienische Häfen ansteuern. Aber die europaweite Verteilung der Geflüchteten bleibt ungeklärt. Und eine humane Antwort auf die gefährliche Seeroute und die Zustände in libyschen Lagern gibt es immer noch nicht.
Und drittens steht Salvinis Zukunft auf dem Spiel. Würde er verurteilt, wäre seine politische Karriere vorerst beendet. Ein Freispruch gäbe ihm wiederum neue Gelegenheit, sich noch einmal als vermeintlicher Retter seines Vaterlandes zu inszenieren. Lesen Sie die ganze Geschichte hier:
Was auf Deutschlands Autobahnen kompensiert wird
Ich möchte Ihnen heute außerdem einen Text meines Kollegen Ullrich Fichtner aus dem neuen SPIEGEL ans Herz legen, der sich mit der Frage beschäftigt hat, warum Deutschland als einziges reiches Land der Welt kein Tempolimit hat – obwohl klar ist, dass alle rationalen Argumente für eine Begrenzung sprechen. Und ja, es ist wirklich nicht zu verstehen – als Schweizer, der mit Unterbrechungen seit 2004 in Deutschland lebt, kann ich das aggressive Rasen auf deutschen Autobahnen bis heute nicht verstehen. Es ist eigentlich klar, dass dieses Land auf seinen Autobahnen etwas kompensiert, die Frage ist nur, was genau.
Fichtner hat für seinen Text Befürworter dieser deutschen Eigenart getroffen – darunter auch solche, die darin irgendetwas mit Freiheit zu sehen glauben. Dazu fällt mir nur ein, dass in meiner Heimat Schweiz die allererste rechtspopulistische Partei »Auto-Partei« hieß, gegen Ausländer war, freie Fahrt für freie Bürger forderte, und sich dann später in »Freiheits-Partei« umbenannte.

Schild auf der A61
Foto: Thomas Frey / dpaDie ungeheure Beschränktheit, ja, Lächerlichkeit eines Freiheitsbegriffs, der nur den eigenen Egoismus am Gaspedal verschleiert, sollte doch eigentlich offensichtlich sein. Ist sie aber nicht, denn die FDP hat diesen symbolischen Sieg in den Sondierungsgesprächen bereits errungen. Warum aber eigentlich?
Ein Jungliberaler twitterte neulich ernsthaft: »Tempolimit oder Freiheit«. In Deutschland wurde die liberale Revolution 1848 bekanntlich niedergeschlagen, seither hat es der Liberalismus schwer – dass er sich in Deutschland nun fürs irre Rasen einsetzt, muss irgendeine Verirrung der Geschichte sein. Die deutsche Abneigung gegen das Tempolimit ist nichts anderes als die hiesige Entsprechung zur Waffensucht der Amerikaner. Umso mehr empfehle ich Ihnen, den Text von Ullrich Fichtner zu lesen, der sich mit der Tempolimit-Frage in aller Tiefe beschäftigt hat.
Unser Titel: Die Springer-Affäre
Die Geschehnisse beim großen deutschen Medienkonzern Springer haben sogar die »New York Times« beschäftigt . Die Enthüllungen des Ippen-Investigativteams, deren Publikation von Verleger Dirk Ippen verboten wurden, aber zu Beginn dieser Woche im SPIEGEL erschienen, haben »Bild«-Chefredakteur Julian Reichelt seinen Job gekostet: Das Panorama aus Machtmissbrauch gegenüber jungen Frauen, gefälschten Scheidungspapieren und zudringlichen Textnachrichten war überwältigend.

»Bild«-Ausfall
»Bild« sieht sich gern als Deutschlands Leitmedium. Nun wurde Chefredakteur Julian Reichelt wegen sexueller Beziehungen mit Mitarbeiterinnen geschasst. Die Affäre wirft ein Licht auf die rückständige Unternehmenskultur und bringt Springer-Chef Mathias Döpfner in Not.
Lesen Sie unsere Titelgeschichte, weitere Hintergründe und Analysen im digitalen SPIEGEL.
Doch die Affäre Reichelt war am Ende der Woche auch zu einer Affäre Springer geworden – nicht nur wegen der Textnachrichten von Verleger Mathias Döpfner, in denen dieser Deutschland als »neuen DDR-Obrigkeitsstaat« bezeichnete, sondern auch, weil er sich zunächst nicht bei den betroffenen Mitarbeiterinnen entschuldigte, sondern dunkle Verschwörungen insinuierte. Erst Ende der Woche holte er das nach. Was das für den Konzern bedeutet, der gerade in die USA expandiert, beschreiben meine Kolleginnen und Kollegen im neuen Heft.
Verlierer des Tages…
…ist Polens Premier Mateusz Morawiecki, der beim EU-Gipfel in Brüssel mit der Botschaft auftrat, man habe eben in Warschau nur ein etwas anderes Verständnis von Europa. Das ist ohnehin schon sehr fragwürdig, denn die Abschaffung des Rechtsstaats – die seine PiS-Partei betrieben hat und betreibt – darf niemals normalisiert werden in Europa. Doch nun zeigte Morawiecki deutlich, wie man seine Worte zu verstehen hat: Er traf sich am Freitag mit der französischen Rechtspopulistin Marine Le Pen, dabei entstanden Bilder mit Händeschütteln und zufriedenem Lächeln.

Morawiecki, Le Pen in Brüssel
Foto: Alain ROBERT/SIPA / action pressEigentlich ist Le Pen keine natürliche Verbündete Morawieckis, auch wenn beide Nationalisten sind: Le Pen steht einer Partei vor, die gern Wladimir Putin lobt und die Annexion der Krim gutheißt, sich sogar von Russland finanzieren lässt. Die nationalkatholische PiS ist dagegen russlandkritisch. Das Bild der beiden Nationalisten spricht hingegen eine deutliche Sprache: Wenn das die Verbündeten sind, die Morawiecki in Europa sucht, dann zeigt er damit, auf welchen Abwegen er sich mit Polen gerade befindet.
Lesen Sie dazu auch die Analyse meines Kollegen Jan Puhl: 90 Prozent der Polen sind für die Europäische Union, ernst zu nehmende Austrittsbefürworter gibt es nicht. Aber trotzdem könnte die nationalkonservative Regierung einen schleichenden Abgang einfädeln.
Die jüngsten Meldungen aus der Nacht
Österreichische Regierung droht Ungeimpften mit Lockdown: Die Coronazahlen in Österreich steigen, die Inzidenz liegt bei knapp 230. Nach einer Krisensitzung kündigte Bundeskanzler Schallenberg an, dass auf Ungeimpfte möglicherweise massive Beschränkungen zukommen
Giuliani-Vertrauter wegen illegaler Wahlkampfspenden verurteilt: Der Ex-Geschäftspartner von Rudy Giuliani, Lev Parnas, ist wegen des Verstoßes gegen das Wahlkampffinanzierungsgesetz schuldig gesprochen worden. In der Ukraineaffäre hatte er Trump belastet
Offenbar weitere Mordanklage gegen US-Millionär Robert Durst: Ihm wurde bereits ein Mord nachgewiesen – an einer Freundin. Jetzt soll Medienberichten zufolge erneut eine Mordanklage gegen Durst eingereicht worden sein. Der Vorwurf: Er habe auch seine Ehefrau getötet
Die SPIEGEL+-Empfehlungen für heute
Klimaforscher Edenhofer: »Die Emissionen müssen runter, und zwar schnell«
Nach dem Reichelt-Skandal: Wie die »Bild«-Affäre Springers USA-Pläne gefährdet
Afghanistan vor dem Wirtschafts-Kollaps: Die Taliban können noch nicht mal ihre Stromrechnung zahlen
»Ich fahre, also bin ich«: Die irrationale Abneigung der Deutschen gegen ein Tempolimit
Kunstfälscher-Gattin Helene Beltracchi: Die Erotik der Täuschung
Ich wünsche Ihnen einen guten Start ins Wochenende.
Ihr Mathieu von Rohr
Anmerkung: In einer früheren Version des Artikels war der Name des Hohen Repräsentanten der internationalen Gemeinschaft in Sarajevo falsch angegeben. Wir haben die Passage korrigiert.