

Die Lage am Morgen Das Menetekel von Magdeburg

Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,
heute geht es um den dramatischen CDU-Machtkampf und die zugespitzte Koalitionskrise in Sachsen-Anhalt, die ganz normale Zusammenarbeit mit der AfD auf lokaler Ebene und die Frage: Wie geht es eigentlich der SPD, ein Jahr nachdem Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans die Parteispitze übernommen haben?
Chaostage bei der CDU
Was für ein Schauspiel, dargeboten in Magdeburg auf offener Bühne – als wolle man die Menschen für die geschlossenen Theater entschädigen: Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff schmeißt seinen eigenen Parteivorsitzenden Holger Stahlknecht, bis dahin Innenminister, nach einem Interview, das man getrost als Putschversuch werten kann, aus dem Kabinett. Wenig später kündigt der Landeschef seinen Rücktritt an.
Machtkampf entschieden? Nun ja, der zwischen Haseloff und Stahlknecht fürs Erste vielleicht. Aber die Partei ist gespalten, und ob es Haseloff, der ja noch mal Regierungschef werden will, nicht noch mitreißt, ist ungewiss. Er wird der CDU-Landtagsfraktion die Vertrauensfrage stellen müssen – Ausgang offen. Und die Keniakoalition mit SPD und Grünen wackelt im Streit über die geplante Erhöhung der Rundfunkgebühren ohnehin gefährlich. Zerbricht das Bündnis, müsste Haseloff als Spitzenkandidat wohl doch noch weichen.
Aber es geht ja längst um mehr, nicht um Haseloff gegen Stahlknecht, nicht um 86 Cent Aufschlag für die Öffentlich-Rechtlichen. Die Gretchenfrage lautet, nicht nur für Sachsen-Anhalt: Wie hält es die CDU mit der AfD?
Stahlknecht hatte in der »Magdeburger Volksstimme« die Tür nach rechts aufgestoßen, auch wenn er davon natürlich nichts wissen will: Die CDU bleibe beim Nein zur Beitragserhöhung, wenn SPD und Grüne da nicht mitgehen wollten, dann regiere man bis zur Wahl im Juni 2021 eben allein weiter. Dass die AfD dann womöglich für nötige Mehrheiten im Parlament sorgen würde, sagte er nicht, aber man konnte, man musste es sich dazudenken.
Haseloff zog die Notbremse, doch die Debatte kann er damit nicht ersticken. Der politische Gegner befeuert sie kurz vor dem Superwahljahr mit Genuss, nutzt das Machtvakuum in der Bundes-CDU, ihre Führungslosigkeit gnadenlos aus. Magdeburg ist nur ein Menetekel für das, was die Union im nächsten Jahr erwartet.
Armin Laschet, der die in der Krise kaum wahrnehmbare Annegret Kramp-Karrenbauer beerben will, hat die Sprengkraft des Problems erkannt: Nachdem sein Konkurrent Friedrich Merz jüngst Verständnis für seine Fans in Magdeburg äußerte, solidarisiert sich der NRW-Ministerpräsident mit seinem Amtskollegen Haseloff: »Mit einer radikalen Rechtspartei darf es keinerlei Zusammenarbeit geben. Die AfD kann niemals politischer Partner sein. Es gibt Momente, in denen eine klare Haltung gefragt ist.«
Hinter Laschets Worten mag Kalkül stecken, das Kalkül eines Bewerbers, der zuletzt arg ins Hintertreffen geraten war und der nun die Chance wittert, mit einer klaren Positionierung in einer heiklen Frage zu punkten. Doch wenn die amtierende Parteispitze keine Orientierung bietet, ist es nur gut zu wissen, woran die CDU mit einer möglichen neuen wäre.

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Mit der AfD? Warum denn nicht?
In Sachsen-Anhalt schaut die Republik gerade genau hin. Doch der Tabubruch, vor dem die Konkurrenz die CDU dort warnt, ist in Deutschland längst vollzogen, dutzendfach, meist weitgehend unbemerkt von einer größeren Öffentlichkeit. Denn auf kommunaler Ebene betrachten die anderen Parteien die AfD nicht selten wie selbstverständlich als politischen Partner.
In mindestens 40 Fällen, so hat es ein Team von SPIEGEL-Kolleginnen und -Kollegen zusammengetragen, haben in den vergangenen Jahren nicht nur die CDU, sondern auch FDP, Freie Wähler, SPD, Grüne und Linke mit den Rechtspopulisten gemeinsame Sache gemacht. In Ost und West.
»Es passte einfach inhaltlich«, heißt es da schon mal zur Rechtfertigung. Oder: »Kommunalpolitik ist Sachpolitik.« Das könne man nicht mit Landespolitik vergleichen. Mit anderen Worten: Wenn über Kindergärten oder Ortsumgehungsstraßen entschieden werden muss, spielt Ideologie keine Rolle.
Bei allem Verständnis für die Nöte von Lokalpolitikern – das ist ein Irrglaube. Nicht nur, weil es auch in den Gemeinden um politisch aufgeladene Fragen geht, um die Unterbringung von Flüchtlingen etwa.
Wenn andere mit der AfD im Kleinen zusammenarbeiten, als sei sie eine normale Partei, dann hilft es den Rechten, sich als genau diese normale Partei auch im Großen zu inszenieren. Die glaubwürdige Abgrenzung fällt dann auf Landes- oder Bundesebene immer schwerer. Die Frage, ob die AfD irgendwann einmal mitregiert, wird daher auch in den Kommunalparlamenten der Republik beantwortet.
Ein Jahr Doppelspitze – wo steht die SPD?
Am Nikolaustag vor einem Jahr übernahmen Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans die Führung der SPD. In einem Mitgliederentscheid hatten sie das Parteiestablishment ausgestochen und große Hoffnungen geweckt: auf einen Aufbruch, auf mehr sozialdemokratisches Selbstbewusstsein, womöglich sogar den Bruch der Großen Koalition.
Und heute? Unter den Ober-GroKo-Kritikern von damals regieren die Genossen geräuschloser denn je mit der Union. Die Coronakrise lässt kaum noch Raum für Streit mit CDU und CSU. Den geschlagenen Konkurrenten Olaf Scholz haben Esken und Walter-Borjans zwischenzeitlich zum Kanzlerkandidaten ausgerufen, der nach derzeitigem Stand aber keine Machtperspektive hat. In den Umfragen dümpelt man bei 15 bis 17 Prozent noch hinter den Grünen. Angetreten war das Duo mit dem Ziel, Ende 2020 wieder an die 30 Prozent heranzukommen.
Auch wenn es nach den Machtkämpfen der vergangenen Jahre in der SPD deutlich ruhiger geworden ist – die Doppelspitze wirkt wie ein großes Missverständnis. Im neuen SPIEGEL ziehen Esken und Walter-Borjans eine Bilanz ihres ersten Jahres. Euphorisch klingen sie nicht, bisweilen sogar ein wenig resigniert.
»Es hat sich etwas getan«, betont Walter-Borjans. Man habe deutlich gemacht, »was wir unter einer konsequenten sozialdemokratischen Politik verstehen.« Dennoch, ergänzt Esken, »fragen auch wir uns natürlich, warum sich die Veränderungen, die wir erreichen konnten, noch nicht in Zustimmungswerten niederschlagen – ebenso wenig wie die sehr guten Leistungen der SPD in der Regierung«. Die Partei brauche »einen längeren Atem«, um Glaubwürdigkeit und Zutrauen zurückzugewinnen.
Durchhalteparolen. In weniger als zehn Monaten sind Bundestagswahlen.
Verlierer des Tages...
… ist – sorry, aber es kann nur einen geben – Holger Stahlknecht. Der frühere Staatsanwalt wollte Reiner Haseloff in Sachsen-Anhalt als Ministerpräsidenten beerben, alles lief prima, er wurde CDU-Landeschef, musste nur auf seine Chance warten. Dann verließ ihn das politische Gespür, er machte Fehler. Haseloff griff selbst noch einmal nach der Spitzenkandidatur, Stahlknecht steckte zurück. Sein Interviewaffront gegen den eigenen Ministerpräsidenten wirkte wie der Versuch, die Koalitionskrise zu seinen Gunsten zu nutzen und Haseloff zu stürzen. Nun ist Stahlknecht Ministeramt und Landesvorsitz los.
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Ihr Philipp Wittrock