Die Lage am Freitag Liebe Leserin, lieber Leser,

wie weit lässt sich das Nervenkostüm eines Unionspolitikers spannen, ehe es reißt? Kaum haben CDU und CSU ihre Panikattacken über das drohende Ende der Koalition ohne Andrea Nahles verdaut, da knallt der neueste ARD-Deutschlandtrend ins Haus, der die Grünen vor der Union sieht. CDU/CSU - nur noch Platz 2!?! Die Schlüssel zum Kanzleramt - demnächst nachlässig in die speckige Lederjacke von Robert Habeck gestopft?!?
Man kann nicht genug Interpunktionszeichen tippen, um die Fassungslosigkeit der Union auszudrücken: Wo kämen wir da hin, wenn eines Tages eine andere Partei Wahlen gewönne?
Im grünen Höhenflug fällt es schwer, sich zum Beispiel die Partei von 2013 in Erinnerung zu rufen, die mit Themen wie dem Veggie-Day und kühnertianischen Umverteilungsplänen bei der Bundestagswahl so richtig baden ging. Keine sechs Jahre später sind die Grünen nicht nur im Bund die Kings, sondern auch Königsmacher im Stadtstaat Bremen.
Dort hat ihr Landesparteitag gestern Abend für Koalitionsverhandlungen mit SPD und Linkspartei gestimmt, und damit der SPD womöglich noch einmal die Regierungsmacht gerettet - etwas fragwürdig angesichts des Wahlsieges der CDU. Wollten die Bremerinnen und Bremer nicht vielleicht eine neue Regierung? Andererseits ist dieses Bündnis vielleicht auch ein zwingender Schritt angesichts des Klimawandels, an dessen Ende Bremen sonst unter dem steigenden Meeresspiegel verschwinden könnte.
Je geräuschloser die GroKo, desto lauter die Opposition

Nachdem sich gestern die Ministerpräsidenten und die Bundeskanzlerin auf die Verteilung der Flüchtlingskosten geeinigt haben, steht heute im Bundestag ein weiteres Asylthema auf dem Programm. Die Koalitionsfraktionen wollen das Gesetzespaket von Innenminister Horst Seehofer und Arbeitsminister Hubertus Heil verabschieden, das eine Mischung aus härteren Abschiebungsregeln und softeren Einwanderungs- und Arbeitsmöglichkeiten für Migranten vorsieht.
Trotz der SPD-Krise konnte sich die Koalition auffällig schnell und geräuschlos auf das Mammutprojekt einigen. Die Geschwindigkeit hat ihren Preis: Die Oppositionsredner dürften heute im Plenum ihrem Ärger Luft machen, überrumpelt worden zu sein. Denn die Koalition hatte ihr Paket am Montag schon fix und fertig geschnürt, als die Kollegen der anderen Fraktionen noch den stundenlangen Sachverständigenanhörungen lauschten und sich aufmerksam Notizen machten. Aber wie sagte Horst Seehofer gerade erst freimütig in der ARD: "Ich hab' die Erfahrung gemacht in den letzten 15 Monaten: Man muss Gesetze kompliziert machen. Dann fällt es nicht so auf."
Vor einem Jahr war ein Migrationspaket wie das von Seehofer kaum vorstellbar. Erinnert sich noch jemand an den Masterplan? Zurückweisungen an der Grenze? Die 63 Punkte zur Flüchtlingspolitik, die niemand kannte, aber über die CDU und CSU so erbittert stritten, als gäbe es gar keinen Klimawandel?
Es war auch die jetzt so angeschlagene CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer, damals Generalsekretärin, die hinter den Kulissen Pendeldiplomatie betrieb und die Gesprächskanäle zur CSU offen hielt. "AKK" dürfte einiges dazu beigetragen haben, dass die Union heute noch in einem gemeinsamen Fraktionssaal tagt. Vielleicht hört man deshalb jetzt kein böses Wort aus der bayerischen Schwesterpartei über die strauchelnde CDU-Chefin, und umgekehrt auch nicht. In dem hitzigen Sommer 2018 konnte Kramp-Karrenbauer aus ihrem Büro im Konrad-Adenauer-Haus oft zwei Krähen beobachten, die vor ihrem Fenster Rabatz machten. Sie hätte die Vögel "Horst" und "Markus" getauft, erzählen Eingeweihte. Was wohl aus ihnen geworden ist? Interessant auch, dass keiner der Vögel "Alexander" hieß. Mit den Namenspatronen der Tiere scheint sich die CDU-Chefin heute jedenfalls gut zu verstehen.
Drei Minister, drei Missionen

Apropos Vögel: Gleich zwei Bundesminister sind derzeit unterwegs zum Treffen mit ihren G20-Kollegen in Japan, und prompt musste die für Wirtschaftsminister Peter Altmaier vorgesehene Maschine wegen eines "Vogelschlags" am Triebwerk ausgetauscht werden. Das berichtet mein Kollege Gerald Traufetter, der Altmaier zum Internationalen Wirtschaftsdialog in Sankt Petersburg begleiten darf, und von dort weiter nach Japan zum Treffen der G20-Digital- und -Handelsminister. Unterwegs werden Traufetter und Altmaier in Sibirien Station machen müssen, da ihr Flugzeug es nicht ohne eine frische Tankfüllung bis nach Japan schafft.
Bundesfinanzminister Olaf Scholz und mein Kollege Michael Sauga dürfen dagegen mit dem größeren Airbus A340 der Flugbereitschaft reisen, der es ohne Zwischenstopp von Berlin bis nach Fukuoka zum G20-Finanzministertreffen schafft. Scholz hat eben als Vizekanzler nicht nur einen höheren Rang als Altmaier, darf also das größere Flugzeug für sich reklamieren; Scholz ist, das wissen wir seit dieser Woche, eben auch der einzige Minister mit einem echten Fulltime-Job, der keinen Raum etwa für den SPD-Parteivorsitz ließe.
Als wäre es in der SPIEGEL-Redaktion über Pfingsten noch nicht leer genug, wird mein Kollege Matthias Gebauer ab heute auch noch den von Flugzeugpannen besonders gebeutelten Außenminister Heiko Maas nach Jordanien, in die Vereinigten Arabischen Emirate und nach Iran begleiten. Maas will in Teheran einen letzten Versuch unternehmen, das Atomabkommen mit Iran zu retten. Aber seine Sprecherin dämpft schon einmal die Erwartungen: "Es wird eine Reise in die Krise." Gebauers Vorbericht über Maas' schwierige Mission lesen Sie hier.
Spahn interessiert sich doch noch für die Leitkultur

Der Chronistenpflicht halber muss hier noch erwähnt werden, dass Jens Spahn mein Ansehen als Politik-Erklärerin arg beschädigt hat: Nachdem die "Lage"-Leserschaft gestern informiert wurde, dass der Gesundheitsminister sich nur noch für Gesundheit interessiere, zettelt Spahn ausgerechnet heute im "Handelsblatt" eine Debatte zur kulturellen Identität an! Die Deutschen hätten ein "wachsendes Bedürfnis nach Sicherheit", diagnostiziert der Gesundheitsminister. Der Klimawandel schüre ihre Sorge um "den Erhalt der Schöpfung", die Migration ihre Angst um den "Erhalt der Kultur". Immerhin kommt das Wort "Islam" noch nicht wieder im Spahn'schen Wortschatz vor.
Morgen wird an dieser Stelle mein Kollege Mathieu von Rohr für Sie schreiben. Er vertritt mich dankenswerterweise für einen Tag, da ich auf Reisen bin. Ob Mathieu damit zum Gewinner oder Verlierer des Tages wird, wird die Nachrichtenlage noch zeigen.
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Ich wünsche Ihnen einen schönen Start in den Tag
Ihre Melanie Amann