
Die Lage am Morgen Wer noch zu Putin hält

Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,
heute geht es um Wladimir Putins verbliebene Freunde in der Welt (es sind gar nicht so wenige). Wir blicken auf das große Coronaexperiment, das an diesem Wochenende in Deutschland beginnt, und auf die Fußball-WM in Katar. Und: Mein Kollege Christoph Schult erinnert sich in einer bewegenden Geschichte an seinen einstigen israelischen Gastbruder Rotem, der 2004 von Terroristen ermordet wurde.
Putins Freunde
Von Entspannung keine Spur: Russland hat zwar wie angekündigt Truppen aus der Region der ukrainischen Hauptstadt Kiew und auch aus dem nördlich gelegenen Tschernihiw abgezogen. Als Signal für verbesserte Aussichten auf Frieden aber wollen dies weder die Ukrainer noch der Westen deuten.
Die russischen Einheiten zögen sich nicht zurück, sagt Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, »sondern positionieren sich neu«. Derweil gehen die Angriffe vor allem auf die eingeschlossene Hafenstadt Mariupol am Asowschen Meer weiter. Auch im Westen der Ukraine schlagen weiter Raketen ein. Ein schnelles Ende des Blutvergießens ist nicht in Sicht.
Zerschlagen haben sich auch die leisen Hoffnungen der Europäer, China könnte Einfluss auf Wladimir Putin nehmen. Beim EU-China-Gipfel am Freitag versprach die Führung aus Peking zwar, an einer friedlichen Lösung mitzuwirken, vermied es aber weiterhin, Putins Überfall zu verurteilen.
China steht mit seiner Moskautreue nicht allein. Zwar haben sich bei zwei Uno-Vollversammlungen nur vier Staaten offen an die Seite Russlands gestellt – Belarus, Eritrea, Nordkorea und Syrien. Zusätzlich enthielten sich aber jeweils weit über 30 Länder bei den Abstimmungen über eine Verurteilung des Angriffskriegs. Darunter waren neben China andere Autokratien wie Iran und Nicaragua, aber auch Demokratien wie Südafrika und Indien. Insgesamt repräsentieren die Enthaltungen rund vier Milliarden Menschen.
Den Kreml freut es. Außenminister Sergej Lawrow etwa war gestern zu Gast in Neu-Delhi, lobte Indien als Freund, der keine »einseitige Sichtweise« auf den Krieg habe und die Lage in der Ukraine »gänzlich auf Fakten beruhend« beurteile. Was steckt dahinter? Warum stellen sich Staaten wie Indien, Sri Lanka, Südafrika, Namibia oder der Sudan nicht gegen die Gewalt, gegen diesen so offensichtlichen, eklatanten Bruch des Völkerrechts?
Meine Kolleginnen Susanne Koelbl, Monika Bolliger und Katharina Peters sowie mein Kollege Bernhard Zand erklären die Hintergründe:
Warum so viele Länder Putin unterstützen: Was der Westen nicht versteht
Deutschland macht den Coronatest
Es fühlt sich merkwürdig an: Ganz Deutschland ist – trotz leicht fallender Infektionszahlen – noch immer ein Coronahotspot, die Pandemie lange nicht vorbei. Und doch laufen an diesem Wochenende in fast allen Bundesländern (außer Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern) die meisten Auflagen aus: ohne Maske zum Einkaufen, ohne Impfnachweis in die Kneipe, volle Stadien. Demnächst sollen auch noch die Quarantäneregeln zusammengeschrumpft werden.
Das alles passiert unter der Ägide von Karl Lauterbach. Der Bundesgesundheitsminister und Virologe war stets als Coronamahner unterwegs, warnte vor zu weitgehenden Lockerungen zum falschen Zeitpunkt. Jetzt entlässt ausgerechnet Lauterbach das Land in ein ungewisses Experiment – ein Coronatest für die ganze Republik.
Er tut das nicht ganz aus freien Stücken, er wird getrieben vom Koalitionspartner FDP, von dessen Justizminister Marco Buschmann. Wirklich lautstarke Gegenwehr ist jedoch auch nicht zu vernehmen. Stattdessen Appelle an die Eigenverantwortung oder der Verweis, dass jeder Ladenbesitzer ja von seinem Hausrecht Gebrauch machen und eine Maskenpflicht verhängen könne.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin immer für Freiwilligkeit und Eigenverantwortung. Ich habe auch Verständnis für die Erschöpfung nach mehr als zwei Jahren Pandemierestriktionen – auch ich frage mich jedes Mal, wenn ich die Maske herauskrame: Wann hört das endlich auf?
Ich befürchte nur, dass wir zu früh dran sind, dass Freiwilligkeit mit Fahrlässigkeit verwechselt wird. Omikron mag vergleichsweise milde sein, für die meisten. Aber wenn sehr viele sich anstecken, dann trifft es eben viele noch hart genug. Mehr als 200.000 Neuinfektionen am Tag, über 200 Tote – das ist nicht nichts. Dabei sieht das RKI den Höhepunkt der aktuellen Welle womöglich überschritten. Hätten wir vielleicht einfach noch einen Monat warten sollen? Es hätte sich wahrscheinlich weniger merkwürdig angefühlt.
Hoffen wir, dass Deutschlands Coronatest in diesem Fall positiv verläuft. Geht das Experiment schief, wird der Gesundheitsminister nicht die FDP verantwortlich machen können. Dann war er zu schwach, auf strengeren Regeln zu beharren.
Hoffen wir, dass Lauterbach nächste Woche im Bundestag nicht auch mit der Impfpflicht voll und ganz scheitert. Die Impfpflicht ab 18 hat wohl keine Chancen mehr, aber auch eine Impfpflicht nur für ältere Menschen könnte schon helfen, dass wir gut durch den nächsten Herbst und Winter kommen. Warum das so ist, erklärt meine Kollegin Veronika Hackenbroch im SPIEGEL-Leitartikel:
Raus aus der Pandemie: Warum an der Impfpflicht kein Weg vorbeiführt
Erinnerungen an Rotem
Der Terror ist zurück in Israel. Drei Anschläge binnen weniger Tage, elf Menschen wurden getötet, es ist die blutigste Woche seit 16 Jahren – und die Sorge ist groß, dass die Gewaltwelle weitergehen wird.
Am Wochenende beginnt der Fastenmonat Ramadan, der in diesem Jahr mit dem jüdischen Pessachfest und Ostern zusammenfällt. »Die politische Atmosphäre wird immer nervöser und angespannter«, schreibt mein Kollege Richard C. Schneider aus Tel Aviv, »religiöser Extremismus liebt solche Zeiten.«
Ich möchte Ihnen heute eine ganz persönliche, bewegende Geschichte ans Herz legen. Mein Kollege Christoph Schult war von 2005 bis 2010 für den SPIEGEL Korrespondent in Jerusalem. Persönliche Bande nach Israel knüpfte er schon in seiner Jugend in den Achtzigerjahren: Mit 16 lebte Christoph ein Jahr bei der israelischen Familie Moria in Tel Aviv, teilte sich ein Zimmer mit seinem damals zwölfjährigen Gastbruder Rotem.
Die beiden blieben befreundet, im Sommer 2004 kam Rotem zu Christophs Hochzeitsfeier in der Nähe von Berlin. Es war ihre letzte Begegnung, keine zwei Monate später wurde Rotem bei einem Terroranschlag im ägyptischen Taba ermordet.
Seither treffen sich Freunde und Familie jedes Jahr, um Rotem zu gedenken, unter anderem mit einem Erinnerungslauf. Christoph ist nun zum ersten Mal mitgelaufen, von Eilat bis zur ägyptischen Grenze, wo Rotems Vater nach langem Ringen bald einen Gedenkstein aufstellen will.
Hier beschreibt Christoph, wie er das Wiedersehen mit seiner Gastfamilie und die Erinnerungen an Rotem erlebt hat – in einer Zeit, in der der Terror zurück ist in Israel:
Gedenklauf für meinen israelischen Gastbruder: »Sie haben mir eine verkohlte Leiche gezeigt und gesagt, das sei Rotem«
Gewinner des Tages…
…ist Deutschland, genauer: die deutsche Fußball-Nationalmannschaft. Es hätte jedenfalls viel schlimmer kommen können: Spanien, Japan und der Gewinner des Duells Costa Rica gegen Neuseeland – so heißen die Gegner des deutschen Teams in der Vorrunde der Weltmeisterschaft in Katar im November und Dezember dieses Jahres.
Sicher, statt Spanien hätte es auch Katar sein können – aber auch Brasilien, Argentinien, Frankreich, Belgien, England oder Portugal. Und in den anderen Töpfen lauerten sicher schwierigere Herausforderungen als die nun zugelosten. Das sollte doch zu machen sein für die Mannschaft von Hansi Flick nach dem Vorrundendebakel bei der WM 2018. Oder? Damals hießen die Gegner Schweden, Südkorea und Mexiko.
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Ich wünsche Ihnen ein wunderbares Wochenende.
Herzlich
Ihr Philipp Wittrock