
Die Lage am Morgen Widerliche Selbstjustiz
Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,
heute geht es um den historisch größten Warnstreik in Deutschland. Um den zunehmenden Hang zur Selbstjustiz. Und um die wahren Probleme des FC Bayern.
Alles ruht
Kurz hatte ich darüber nachgedacht, heute ebenfalls zu streiken. Warum bitte soll ich diese Zeilen schrubben, wo doch gefühlt alle anderen heute die Arbeit niederlegen. Die Inflation betrifft mich schließlich ebenfalls. Aber dann dachte ich mir, dass es ja auch blöd ist, wenn alle heute zu Hause sitzen und nichts zu lesen haben.
Nun denn:

Straßenbahnen in Hannover
Foto: Moritz Frankenberg / dpaDeutschland wird heute einen Warnstreik gigantischen Ausmaßes erleben. Der Ausstand von Ver.di und der Bahngewerkschaft EVG betrifft den Fern- und Regionalverkehr der Bahn genauso wie Autobahnen, Wasserstraßen, den Nahverkehr in vielen Bundesländern und Kommunen sowie fast alle deutschen Flughäfen. 230.000 Mitarbeitende aller Eisenbahn- und Verkehrsunternehmen sind zum Streik aufgerufen.
Mit den Aktionen erhöht Ver.di den Druck für die heute beginnende dritte Verhandlungsrunde mit Bund und Kommunen. Gemeinsam mit dem Beamtenbund dbb fordert die Gewerkschaft für den öffentlichen Dienst 10,5 Prozent und mindestens 500 Euro mehr Lohn. Die Arbeitgeber hatten bislang fünf Prozent mehr Lohn in zwei Schritten und Einmalzahlungen in Höhe von insgesamt 2500 Euro geboten. Die Verhandlungen der EVG mit der Bahn und zahlreichen weiteren Bahnunternehmen verlaufen ebenfalls schleppend.
Wenn Sie sich heute über ausgefallene Züge oder gestrichene Flüge ärgern, schimpfen Sie bitte nicht nur über jene, die heute streiken. Man könnte sich ja rein theoretisch auch über diejenigen ärgern, die trotz einer immensen Inflation und Lohnzurückhaltung in den vergangenen Jahren eine angemessene Entlohnung verweigern.
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Widerliche Selbstjustiz
Bereits am Samstag wurde in Hamburg gestreikt. Aktivistinnen und Aktivisten der »Letzten Generation« blockierten stundenlang die Elbbrücken. Weil zugleich der Elbtunnel wegen Bauarbeiten gesperrt und eine Ausweichstrecke überlastet war, stand der Verkehr in Richtung Norden vorübergehend komplett still.
Hätte ich dort im Stau gestanden, hätte ich mich vermutlich auch geärgert, wie immer, wenn ich im Stau stehen muss, egal weshalb. Und natürlich ist festzuhalten, dass die meisten Aktionen der »Letzten Generation« illegal und Strafen daher gerechtfertigt sind – ganz egal wie hehr die Ziele sind, für die sie demonstrieren.

Wild gewordener Lkw-Fahrer in Hamburg
Foto: Jonas Walzberg / dpaWenn ich jedoch sehe, was einige Mitbürgerinnen und Mitbürger im Angesicht der Aktivisten abziehen, bekommen ich das kalte Grausen. In Hamburg zerrte ein Lkw-Fahrer am Samstag einen der Festgeklebten rüde von der Fahrbahn und trat dem am Boden Liegenden anschließend fest in den Bauch. Wenn ein Fotograf nicht gerade noch hätte flüchten können, wäre es ihm vermutlich ähnlich gegangen. Andere geiferten nur verbal. Eine hässliche Fratze trat da zum Vorschein, eine primitive Lust auf Selbstjustiz. Man mag sich gar nicht ausdenken, was geschieht, wenn solche Leute und ihre vielen geistigen Brüder und Schwestern einmal unbeobachtet gegen all jene losziehen, die sie stören.
Ich hoffe, dass solche Fälle von Selbstjustiz konsequent geahndet werden. Von jenen, die für Ahndungen zuständig sind.
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Münchner Märchenstunde
Streiken werden die Profis des FC Bayern München gewiss nicht, wenn ihr neuer Trainer Thomas Tuchel in dieser Woche seinen Dienst antritt. Immerhin aber verweigern einige Profis die Begründung der Klub-Bosse, warum Tuchels Vorgänger Julian Nagelsmann vorigen Freitag freigestellt wurde: dass es zwischen Trainer und Mannschaft einfach nicht mehr gepasst hätte. Davon könne keine Rede sein, erklärten zum Beispiel die nicht ganz irrelevanten Bayern-Profis Joshua Kimmich und Leon Goretzka am Wochenende und bekundeten ihre äußerst hohe Wertschätzung für den gefeuerten Nagelsmann.

Ex-Bayern-Trainer Nagelsmann bei seinem Amtsantritt im Juli 2021
Foto: Eibner-Pressefoto / IMAGO/FC Bayern MünchenAuf der Pressekonferenz am Freitag sagte Bayerns Sportdirektor Hasan Salihamidžić gefühlt 19-mal den folgenden Satz. »Die Konstellation zwischen Mannschaft und Trainer hat nicht mehr gepasst.« Jedes Mal klang es, als habe ihm jemand diese Formulierung aufgeschrieben und er sie einfach auswendig gelernt. Hätte man ihn mal gefragt, was diese Floskel denn konkret bedeute, hätte er sie vermutlich einfach zum 20. Mal wiederholt. Wenn der FC Bayern tatsächlich so ambitioniert ist, dass ein Trainer wie Nagelsmann weichen muss, weil er den Ansprüchen nicht genügt, dann frage ich mich schon, wie man sich auf der Management-Ebene mit einer solch bescheidenen Performance zufriedengeben kann.
Ich glaube übrigens auch nicht, dass es einen Bruch zwischen Nagelsmann und der ganzen Mannschaft gegeben hat. Höchstens ein gespanntes Verhältnis zu den älteren Platzhirschen Manuel Neuer und insbesondere Thomas Müller. Was Nagelsmann jedenfalls nicht verstanden hat: dass man sich als Bayern-Trainer im Grunde gleich selbst feuern kann, wenn man es wagt, Thomas Müller nicht die von ihm erwünschte Spielzeit zu geben. An dieser Majestätsbeleidigung, die zuverlässig für schlechte Stimmung sorgt, ist schon Niko Kovač in München gescheitert. Das Erfolgsgeheimnis von Hansi Flick bei Bayern war es hingegen, dass er Müller beinahe jeden Wunsch erfüllte.
Als Nagelsmann Müller beim Spiel in Leverkusen schon zur Halbzeit auswechselte, dachte ich mir gleich: Das wird sich rächen. Es sollte sein letztes Spiel sein.
Tuchel-Verpflichtung beim FC Bayern: »Was willst du?« – »Wenn du keinen Bock hast, dann leg wieder auf«
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Gewinner des Tages...
…gibt’s heute nicht. Fällt dem Streik zum Opfer. Wobei, mit etwas Glück können Sie sich selbst einen kleinen Gewinn sichern: die Teilnahme an einer exklusiven SPIEGEL-Veranstaltung. Meine Kollegin Eva-Maria Schnurr spricht mit der Journalistin und Autorin Sabine Bode über das Thema: »Spuren der Nazizeit: Wie Kriegstraumata bis heute weiterwirken«. Bode war eine der Ersten, die die Schicksale der »vergessenen Generation« sichtbar gemacht hat: jener Menschen also, die den Zweiten Weltkrieg als Kinder erlebten, deren Leiden aber kaum Raum fand in den darauffolgenden Jahrzehnten. In der heutigen Veranstaltung wird es darum gehen, wie diese Kriegstraumata über Generationen weitergegeben werden und Familien bis heute prägen, wie Kinder und Enkel damit umgehen können, und wie die Balance gelingt, das Leiden der Deutschen anzuerkennen, ohne die deutsche Schuld abzuwehren.
Die Diskussion im Livestream ist exklusiv für Abonnentinnen und Abonnenten, aber wir verlosen zehn freie Zugänge. Interessenten schreiben an: info@events.spiegel.de, Betreff: Verlosung SPIEGEL Deep Dive. Einsendeschluss: Montag, 27. März, um 12 Uhr. Wer bereits Abonnentin oder Abonnent ist, kann sich hier anmelden.
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Ihr Markus Feldenkirchen, Autor im SPIEGEL-Hauptstadtbüro