
Die Lage am Morgen Die Wellen des Wolodymyr Selenskyj

Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,
heute geht es um die Botschaften von Wolodymyr Selenskyj im SPIEGEL, den Aufbau der Infrastruktur in Deutschland und den verzweifelten Einsatz der Lebensretter in Syrien.
The Sound of Selenskyj
»Unser Verhältnis zu Deutschland verläuft sozusagen wellenförmig«, sagt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj im Gespräch mit meinen SPIEGEL-Kollegen . »Es ist ein Auf und Ab.« Es sei anfangs für ihn »sehr schwierig« gewesen, mit den Deutschen zurechtzukommen, sagt Selenskyj, denn: »Die Temperamente sind da recht unterschiedlich. Ich bin von Natur aus ein schneller Mensch. Andere sind langsamer, was auch an deren Bürokratie liegen mag.«
Diese Sätze zeigen eine große Stärke des Mannes, der vom Comedian zum Staatsmann und Anführer eines Landes im Kampf um seine Existenz wuchs: Er spricht Klartext, der aber nicht verletzt. Er ist unbequem, er fordert und drängt, aber ohne abzustoßen. Meine Kollegen Christian Esch, Steffen Klusmann und Thore Schröder erlebten Selenskyj in Kiew als »erschöpft, aber zugleich auch aufgedreht«.

Wolodymyr Selenskyj (Mitte) mit Charles Michel und Ursula von der Leyen in Brüssel
Foto: Ukrainian Presidential Press Office / AP / dpaDer Präsident zeigte sich dankbar für die Solidarität und Hilfe des Westens, aber machte auch keinen Hehl aus seiner Enttäuschung, wie spät die Hilfe ankam. »Was haben die mir vor dem Krieg gegeben?«, fragt er. »Wenn alle davon wussten, dass Putin in unser Land einmarschieren würde, warum haben sie dann keine Sanktionen verhängt?«
Den Selenskyj-Sound bekamen auch die Staats- und Regierungschefs der EU gestern von ihm zu hören, die heute weiter in Brüssel tagen. Selenskyj wünscht sich offizielle EU-Beitrittsverhandlungen noch in diesem Jahr, das sagte er auf der Brüsseler Bühne zu Ratspräsident Charles Michel: »Dieses Jahr, Charles. Wenn ich dieses Jahr sage, meine ich – dieses Jahr. Also Zwei-Null-Dreiundzwanzig.«
Michel antwortete ausweichend. »Wir werden unser Bestes tun.« Wie ehrlich waren also die Begeisterungsstürme für Selenskyj in Brüssel? Die Militärkapelle, die salutierenden Soldaten, die Riege der EU-Funktionäre, die für Fotos mit dem ukrainischen Helden posieren wollten? Baut sich hier gerade ein neuer Wellenberg auf, oder geht die Bewegung vielleicht doch eher zu Tal?
Selenskyj und sein Besuch in Brüssel: Kühle Botschaften, verpackt in warme Worte
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Die jüngsten Entwicklungen: Im Osten der Ukraine werden verstärkt Attacken verzeichnet. Die slowakische Regierung könnte bald Mig-Kampfflugzeuge übergeben. Und: Meldung über angebliche Angriffshilfen der USA.
»Putin ist ein Drache, der fressen muss«: Wolodymyr Selenskyj betritt eiligen Schrittes den Raum, unter seinen Augen sind dunkle Ringe. In Kiew spricht er mit dem SPIEGEL über Putin und Hitler, das schwierige Verhältnis zu Scholz – und positive Momente im Krieg.
»Mit den Leoparden kann die Ukraine verlorene Territorien zurückerobern«: Anders Fogh Rasmussen hat im Auftrag der Ukraine eine Strategie entworfen, wie sich das Land langfristig russischen Angriffen widersetzen kann. Hier nennt der Ex-Nato-Generalsekretär die vier wichtigsten Voraussetzungen.
Koalition sucht Autobahnausfahrt
Die Folgen des Krieges für Deutschland, insbesondere bei der Energieversorgung, werden heute auch Bundestag und Bundesrat beschäftigen. Im Parlament hat die Union einen Antrag zu Härtefallhilfen gegen die hohen Energiepreise eingebracht. Der Bundesrat befasst sich mit den Vorgaben der Ampelkoalition zum Energiesparen und mit dem Verbraucherschutz in der Energiekrise.

Abgesperrte Autobahn A45 bei Lüdenscheid, Nordrhein-Westfalen
Foto: Cedric Nougrigat / dpaAußerdem soll hier nicht vergessen werden, dass die AfD heute ihren »Friedensplan« für die Ukraine im Bundestag vorstellt. Theoretisch würde als Antwort auf dieses Vorhaben die Lektüre von Wolodymyr Selenskyjs SPIEGEL-Gespräch reichen, oder vielleicht nur diese Passage über seine Sicht auf Putins Russland: »Da ist eine riesige Kluft zwischen uns, politisch und historisch. Das ist eine Frage der Weltanschauung. Und das Resultat seiner Weltanschauung ist: zerstörte Gebiete, Missachtung des Völkerrechts, der Menschenrechte, Missachtung von allem, was lebt.«
Außerdem kann die Ampelkoalition einen kleinen Erfolg in ihrem Dauerstreit über die Beschleunigung von Infrastrukturvorhaben verzeichnen: Seit Wochen zoffen sich vor allem FDP und Grüne über die Frage, ob neben dem Ausbau des Schienennetzes oder der erneuerbaren Energien auch der Bau von Autobahnen auf Kosten etwa des Naturschutzes beschleunigt werden soll.
Während dieser Großkonflikt, in dem sich vor allem Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) und Umweltministerin Steffi Lemke (Grüne) gegenüberstehen, wohl frühestens Anfang März in einem weiteren Koalitionsausschuss beigelegt werden dürfte, geht es nun immerhin bei einem Vorhaben von Justizminister Marco Buschmann voran. Er will die Gerichtsprozesse über Infrastrukturvorhaben beschleunigen, und das schließt auch Streitigkeiten über den Bau neuer Straßen ein.
Ärger über Autobahnbau: Volker Wissings toxische Liste
Jeder muss noch mal ran
Heute beenden die meisten Parteien ihren Wahlkampf in Berlin, am Sonntag wird die verkorkste Wahl von 2021 wiederholt. Ein letztes Mal stürzt sich die Prominenz von CDU (Friedrich Merz), Grünen (Annalena Baerbock und Robert Habeck) und FDP (Christian Lindner) in diverse Arenen, um für ihre Leute zu werben.

Wahlplakate in Berlin
Foto: Stefan Zeitz / IMAGODie CDU hat für ihre Kundgebung sogar ihren NRW-Wahlsieger Hendrik Wüst aus Düsseldorf geholt – hoffentlich nicht eingeflogen! –, und natürlich treten die doppelten Czajas auf (Mario, CDU und Sebastian, FDP).
In der letzten Umfrage vor der Wahl zeichnet sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen CDU und SPD ab. Wird die CDU nach 20 Jahren einen Sieg in der Hauptstadt schaffen? Und selbst wenn – was ist ein Sieger ohne Regierungsmehrheit? Die ideologischen Differenzen vor allem zwischen CDU und Grünen bei den Themen Verkehrspolitik, Integration oder innere Sicherheit sind so groß, dass letztlich die Noch-Bürgermeisterin Franziska Giffey mit einer Koalition der Verlierer*innen Berlin einfach weiterregieren könnte.
Für CDU-Kandidat Kai Wegner und seine Wählerschaft wäre das ein bitteres Ergebnis. Es wäre allerdings auch nicht das erste Mal, dass ein Wahlsieger sich mangels koalitionswilliger Partner in der Opposition wiederfindet.
Berliner CDU-Spitzenkandidat Kai Wegner: Man hat schon ganz anderen nichts zugetraut
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Helden des Tages…
…sind die »Weißhelme«, eine Nichtregierungsorganisation in Syrien. Die Helferinnen und Helfer haben viel Erfahrung darin, Menschen aus eingestürzten Gebäuden zu retten, schließlich tobt in Syrien seit Jahren ein Bürgerkrieg mit verheerenden Luftangriffen.

Weißhelme bei Rettungsarbeiten in der syrischen Stadt Harem
Foto: Anas Alkharboutli / dpaDoch die Verwüstungen des jüngsten Erdbebens überfordern auch die Kräfte dieser Helfer bei Weitem. Mittlerweile sind die Opferzahlen bei mehr als 20.000 angelangt, und dabei wird es nicht bleiben.
Meine Kollegin Monika Bolliger hat Ismail Alabdullah, den Sprecher der Weißhelme, interviewt. »Unser Team arbeitet rund um die Uhr«, berichtet Alabdullah, »die Leute sind längst am Anschlag. Und wir haben nicht annähernd genug Bagger und anderes schweres Gerät.« Selbst wenn Menschen noch lebend geborgen werden könnten, fehle es oft an Ärzten und gut ausgestatteten Krankenhäusern.
Das bittere Fazit von Alabdullah: »Die Welt hat uns in den vergangenen Jahren im Stich gelassen.«
Rettungsarbeiten in Nordsyrien: »Wir sind allein mit der Katastrophe«
Die jüngsten Meldungen aus der Nacht
Facebook und Instagram schalten Kanäle von Donald Trump frei: Seit dem Angriff auf das US-Kapitol waren Donald Trumps Konten bei den Meta-Diensten blockiert. Nun darf der Ex-US-Präsident wieder posten – hält sich aber noch sehr zurück.
Trikot von Kobe Bryant bringt 5,8 Millionen Dollar – und enttäuscht das Auktionshaus trotzdem: Vor 15 Jahren ging Kobe Bryant in dem Lakers-Jersey auf Korbjagd in der NBA – nun hat ein anonymer Bieter Millionen für das Stoffstück lockergemacht. Erwartet worden war aber noch mehr.
König Charles III. soll Ende März im Bundestag sprechen: Als Thronfolger war Charles häufig zu Gast in Deutschland – zuletzt im November 2020. Ende März wird er erstmals als König erwartet und soll im Bundestag sprechen. Ob er seine Rede wieder auf Deutsch halten wird?
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Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihre Melanie Amann, Mitglied der Chefredaktion