Die Lage am Dienstag Liebe Leserin, lieber Leser,

Vergleiche mit Weimar werden in diesen Zeiten häufig gezogen, wirken aber meist stark übertrieben. Wenn man jedoch das Unfassbare dieser Tage einordnen und vergleichen will, landet man in der Weimarer Republik: den Mord an einem Politiker aus rechtsextremen Gründen. Die Staatsanwälte gehen mittlerweile davon aus, dass Stephan E. von einem solchen Motiv geleitet wurde, als er mutmaßlich den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke ermordet hat.
In der Weimarer Republik ermordeten Rechtsextremisten unter anderem die Politiker Matthias Erzberger (ehemals Finanzminister), Walther Rathenau (Außenminister) und Kurt Eisner (bayerischer Ministerpräsident). Die Behörden der Weimarer Republik taten sich insgesamt schwer damit, rechtsextreme Straftaten zu verfolgen und angemessen zu bestrafen. Die Feinde der Republik kamen zu milde davon, und das unterhöhlte die Autorität der Republik.
Im Fall der braunen Terrorgruppe NSU konnte man Zweifel haben, ob alle Behörden der Bundesrepublik mit Nachdruck aufklären und ermitteln wollten. Das darf auf keinen Fall noch einmal passieren. Der Angriff auf Lübcke war offenkundig ein Angriff auf die Republik. Die muss sich jetzt bewähren.
Die helle und die dunkle Seite der Debatte

Der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas wird heute 90 Jahre alt. Großer Glückwunsch, großer Respekt. Mit Habermas verbinde ich vor allem das Wort Debatte. Er selbst ist ein großer Einmischer, und in seiner "Theorie des kommunikativen Handelns" ist eine Quelle der Vernunft die Kommunikation unter den Bürgern, also die Debatte, aus der dann hoffentlich etwas Gutes erwächst.
Leider steht in diesen Zeiten oft eine schwarze Seite der Debatte im Vordergrund. Das ist die verbale Hetze im Internet, die sich mehr und mehr aufschaukelt, frei von Vernunft. Es wird zu klären sein, wer im Netz gegen Walter Lübcke agitierte und hetzte, weil er die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung verteidigt hatte. Wahrscheinlich ist es schwierig, eine direkte Linie von Worten zu einer Tat zu ziehen, also ein kommunikatives Morden nachzuweisen, aber Teil der Aufklärung muss eine minutiöse Dokumentation sein, wer mit welchen Worten Hass gegen Lübcke gesät und verbreitet hat.
Was Merkel nicht komisch findet I

Diesen Mann wollte die Bundeskanzlerin nicht treffen. Aber sie muss. Heute hat Angela Merkel in Berlin einen Termin mit Wolodymyr Selenskyj, dem neuen Präsidenten der Ukraine, der bis vor Kurzem ein Fernsehkomiker war. Im April empfing Merkel Selenskyjs Vorgänger Petro Poroschenko, was ungewöhnlich war, da die Ukraine kurz vor dem zweiten Wahlgang stand. Das wurde als Wahlkampfhilfe für Poroschenko gedeutet.
Tatsächlich ist einer wie Selenskyj eine Zumutung für Merkel. Sie hat immer gepredigt, dass Politik ein Beruf ist, der Ernsthaftigkeit und Erfahrung verlangt, um ihn gut ausüben zu können. Natürlich meinte sie auch sich selbst damit. Nun trifft sie auf ihr Gegenteil.
Was Merkel nicht komisch findet II

Neben einem Komiker, der Politiker geworden ist, hat es die Bundeskanzlerin auch mit Politikern zu tun, die wie Komiker wirken. Trump ist so einer. Auch vom Briten Boris Johnson weiß man nicht so genau, wie ernst er meint, was er sagt und tut.
Heute trifft sich die Unterhausfraktion der Tories voraussichtlich zu einem zweiten Wahlgang auf der Suche nach einem Parteivorsitzenden, der dann auch Premierminister würde. Boris Johnson liegt bislang vorne. Merkel dürfte auch das nicht komisch finden.
Gewinner des Tages
Durch die Tür vom "Tresor" sind viele gegangen, spät in der Nacht oder früh am Morgen. Damals, in den frühen Neunzigerjahren, fing es an, Berlin stieg auf zur Partyhauptstadt der Welt, und das Zentrum war der "Tresor", ein Techno-Klub im ehemaligen Tresor des Kaufhauses Wertheim. Hier tanzte das neue Deutschland, kurz nach dem Fall der Mauer, als alles möglich schien. Es gab Platz und Visionen, die Mieten waren niedrig. Aber man musste auch lange schlafen, nach einer Nacht im "Tresor".
Die Tür wird heute dem Humboldt-Forum im neu aufgebauten Stadtschloss übergeben. Sie findet dort einen Platz in der Berlin-Ausstellung, völlig zu Recht. Mein Gewinner des Tages ist deshalb Dimitri Hegemann, ein Westfale, dem Berlin viel zu verdanken hat, weil er den "Tresor" aus der Taufe hob und damit den Mythos Berlin.
DER SPIEGEL live

Vor 50 Jahren entstand der Christopher Street Day aus Protest gegen die Misshandlung von Homosexuellen in einer Bar. Was hat sich seit 1969 verändert, was kam in Bewegung? Über diese und andere Fragen diskutiert meine Kollegin Hannah Pilarczyk heute in unserer Veranstaltungsreihe "DER SPIEGEL live" mit einer Gästerunde im Berliner Spiegelsaal. Mit dabei sind der Regisseur Rosa von Praunheim, die Rapperin Sookee und der Moderator Tarik Tesfu.
Wenn Sie bei der Veranstaltung dabei sein möchten, schicken Sie eine E-Mail an meine Kollegin Julia Parker (julia.parker@spiegel.de). Wir verlosen Plätze für die Gästelisten. Ansonsten gibt es Karten an der Abendkasse oder über unsere Veranstaltungsseite www.spiegel-live.de.
Die jüngsten Meldungen aus der Nacht
- Irankonflikt: USA schicken rund tausend weitere Soldaten in den Nahen Osten
- Ägyptens Ex-Präsident: Menschenrechtler fordern Aufklärung von Mursis Todesumständen
- Elektroauto-Irrsinn: Strom für Geländewagen ist oft billiger als für Kleinwagen
- Restaurantkette Vapiano rechnet auch 2019 mit Verlust
- Stiftung Warentest: Das sind die besten Versicherungen für Berufsunfähigkeit
- Stressfreier Arbeitsweg: Die Paddel-Pendlerin (Video)
- DFB-Sieg über Südafrika: Die Pflicht ist erfüllt
- Nach NBA-Sieg der Toronto Raptors: Schüsse bei Jubelfeier - vier Verletzte
- Indien: Entfesselungskünstler tot aus Fluss geborgen
- Quiz der eingewanderten Wörter: Daher kommt der Hallodri
Die SPIEGEL+-Empfehlungen für heute
- Laserblitze im Kopf: So leicht ist das Gehirn zu manipulieren
- Dürer Interview mit Historiker Volker Reinhardt: "99 Prozent haben von der Renaissance nichts gemerkt"
- Mein Ikea-Schrank, meine Tochter und ich: Papa, lass mal
- Strippenzieher Joseph Daul: Wer ist der Mann hinter EU-Spitzenkandidat Manfred Weber?
- Anzeigenverbot: Killt Google die Handy-Reparaturdienste?
- Europa schließt die Mittelmeerroute für Flüchtlinge: Hart an der Grenze
- Olympia: Warum kaum ein Land die Winterspiele 2026 ausrichten will
- Rettungsplan für Honigbienen: Erst müssen viele Völker sterben
- Attentat in der "Wolfsschanze" am 20. Juli 1944: Warum Hitler überlebte
Ich wünsche Ihnen einen schönen Start in den Tag
Ihr Dirk Kurbjuweit