Die Lage an Silvester Liebe Leserin, lieber Leser,

am letzten Tag des Jahres ein Blick zurück nach vorne. Wie war das vor genau 100 Jahren, wie schauten da die Menschen in die Zukunft - und was brachte sie ihnen dann? Und was sind die Lehren für heute?

1919 ist eines der großen, wichtigen Jahre der Weltgeschichte, auch wenn es nicht zu den prominenten Jahren zählt wie 1789 oder 1945. Eben wurde der Erste Weltkrieg beendet, die Weltordnung brach zusammen. Vier große Reiche gingen zugrunde, das Deutsche Kaiserreich, Österreich-Ungarn, das Zarenreich, das Osmanische Reich.

Die alte Welt lag in Trümmern, und gleichzeitig keimten gewaltige Hoffnungen. Die russischen Bolschewisten hatten ein neues Zauberwort in die Welt gerufen: Selbstbestimmungsrecht. Die Völker sollten selbst entscheiden, in was für einem Staat sie leben wollten. Der amerikanische Präsident Woodrow Wilson machte es sich zu eigen und wurde zum Superstar der damaligen Politik, ähnlich wie Barack Obama zu Beginn seiner Amtszeit. Neue Staaten entstanden, und viele wurden Demokratien.

1919 hatte die Welt ihre große Chance

Auch Emanzipation war ein großes Thema. Die Kolonien von Frankreich und Großbritannien hatten Soldaten nach Europa geschickt, hatten einen hohen Blutzoll gezahlt, nun wollten sie mit Freiheiten belohnt werden. Schwarze in den USA drängten auf Gleichberechtigung. Weil die Männer im Krieg waren, mussten die Frauen daheim andere Rollen übernehmen. Auch die feministischen Anführerinnen drängten mit neuem Selbstbewusstsein auf gleiche Rechte.

Paris, 1919: Woodrow Wilson (r.) bei den Verhandlungen zum Versailler Vertrag

Paris, 1919: Woodrow Wilson (r.) bei den Verhandlungen zum Versailler Vertrag

Foto: dpa

All diese Hoffnungen richteten sich auf Paris. Dort begann am 18. Januar 1919 die große Friedenskonferenz. Als Wilson anreiste, strömten die Massen auf die Straßen und jubelten. Wilson wollte einen Völkerbund etablieren, einen neuen Mechanismus für einen ewigen Frieden. Die Freiheits- und Emanzipationsbewegungen schickten Delegationen. Die Welt hatte Anfang 1919 ihre ganz große Chance.

In einem Buch des schwedischen Schriftstellers Per Olov Enquist las ich vor vielen Jahren einen Satz, den ich nicht vergessen habe, an den ich manchmal denken muss, bei privaten, aber auch bei politischen Ereignissen. Er lautet: "Wenn alles so gut angefangen hatte, wie konnte es so schlimm enden." Das ist auch ein Satz für das Jahr 1919 und die Zeit danach.

100 Jahre später - Angst statt Hoffnung

Das erste wichtige Ergebnis der Pariser Konferenz war der Versailler Vertrag, der am 28. Juni 1919 zähneknirschend von der deutschen Delegation unterzeichnet wurde. Es waren Bedingungen, die der blutjungen deutschen Demokratie das Leben schwer machten, wirtschaftlich, aber vor allem psychologisch - viele Deutsche fühlten sich gegängelt und gedemütigt. Auch von Versailles führte ein Weg zu Hitler, aber natürlich nicht der einzige.

Hitlers Hetzschrift "Mein Kampf"

Hitlers Hetzschrift "Mein Kampf"

Foto: FABRIZIO BENSCH/ REUTERS

Der amerikanische Kongress ratifizierte den Vertrag nicht, die USA traten dem Völkerbund nicht bei. Es folgte keine Phase der Isolation, aber doch der Zurückhaltung. Europa blieb weitgehend sich selbst überlassen. Bis Ende der Dreißigerjahre hatten sich viele Demokratien in autoritäre Staaten verwandelt. Auch von der Emanzipation blieb nicht viel übrig, nicht für die Kolonien, nicht für die schwarzen Amerikaner.

Die Hoffnungen der Araber auf einen großen eigenen Staat wurden ebenfalls enttäuscht. Briten und Franzosen teilten den Nahen Osten in Einflusszonen auf, mit Folgen bis heute. Nicht China wurden die ehemaligen deutschen Niederlassungen in China zugesprochen, sondern Japan, ebenfalls mit Folgen bis heute. Auf den Westen, lernten die Chinesen, kann man nicht bauen.

Das alles wussten die Menschen zu Silvester 1918/19 nicht. Sie betrauerten ihre Toten, litten Hunger, kämpften gegen die Spanische Grippe, dachten vielleicht, dass es nur besser werden kann. Die Deutschen hofften auf einen "Wilson-Frieden", wie sie damals sagten, einen gnädigen Frieden, aber wie fast alle Heilsbringer in der Politik war Wilson eine Enttäuschung (Obama in anderen Verhältnissen ebenfalls).

Hundert Jahre später leben wir noch immer in einer Welt, die stark von Paris und den anderen Konferenzen nach dem Ersten Weltkrieg geprägt ist. Es geht uns weit besser als den Menschen damals, aber vielleicht haben wir deshalb weniger Hoffnung, dass etwas besser wird, sondern Angst, dass es schlechter kommt.

Meine politischen Wünsche für das neue Jahr leite ich daher, bei allen Unterschieden von damals zu heute, stark aus den Auswirkungen des Jahres 1919 und danach her.

Erstens: Junge Demokratien brauchen Hilfe, brauchen Anleitung, man kann sie nicht sich selbst überlassen. In Europa ist das nicht mehr Sache der US-Amerikaner, sondern der Europäischen Union. Sie nimmt diese Aufgabe gegenüber Polen oder Ungarn an, aber nicht entschlossen genug, zum Teil aus parteipolitischen Interessen. Das muss sich ändern.

Zweitens: Der Flirt mit autoritären Gedanken ist gefährlich. Man sollte immer bedenken: Ein autoritäres System hat nach den Erfahrungen der Geschichte eine weit höhere Affinität zum Krieg, gerade zum großen Krieg, als eine liberale Demokratie.

Drittens: Amerika wird gebraucht. Es gab vielleicht schon 1919 die Chance, einen großen Westen zu etablieren, mit Deutschland, mit den anderen jungen Demokratien, unter amerikanischer Führung. Die Geschichte wäre anders verlaufen. In unseren Zeiten ist der Westen stark von autoritären Regimen herausgefordert, von China, von Russland. Der Westen braucht Geschlossenheit und ein starkes, an Europa interessiertes Amerika, um bestehen zu können.

Angela Merkel, Donald Trump beim G20-Gipfel in Buenos Aires

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Foto: SAUL LOEB/ AFP
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