

Die Lage am Morgen Kann das hier auch passieren?

Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,
heute beschäftigen wir uns mit den Folgen des Gewaltexzesses im US-Kapitol, mit der Frage, ob so etwas hierzulande auch möglich wäre – und den Kanzlerambitionen des Jens Spahn.
Trumps verlogenes Eingeständnis
Am Tag danach steht Amerika unter Schock. Der Sturm fanatischer Trump-Anhänger auf das Kapitol hinterlässt eine fassungslose Nation. Joe Biden spricht von »einem der dunkelsten Tage in der Geschichte« der Vereinigten Staaten, bisher loyale Mitarbeiter des Präsidenten treten zurück, Rufe nach dessen Blitz-Absetzung noch vor dem offiziellen Ende seiner Amtszeit in zwei Wochen werden laut.
Dazu wird es wohl nicht kommen, es bleibt nur die Hoffnung, dass Donald Trump in den verbleibenden 14 Tagen nicht noch mehr Schaden anrichtet.
Als sich der Präsident nach seiner zwischenzeitlichen Twittersperre wieder per Videoansprache zu Wort meldet, ist sein Ton tatsächlich ein anderer. Als werde er gezwungen, eine von anderen vorbereitete Erklärung zu verlesen, verurteilt er nun den »abscheulichen Angriff« seiner Anhänger, der den Sitz der amerikanischen Demokratie »beschmutzt« habe: »Ihr repräsentiert nicht unser Land.«
Indem er »einen reibungslosen, geordneten und nahtlosen Machtwechsel« am 20. Januar verspricht, gesteht Trump auch erstmals die Aussichtslosigkeit seines Kampfes ein – ohne die Niederlage wirklich anzuerkennen. Seinem Nachfolger zu gratulieren, bringt er jedenfalls nicht fertig.
Stattdessen faselt der Mann, der die Massen anstachelte, aufs Kapitol zu marschieren, der den Mob als »besonders« bezeichnete (»We love you«) von »Heilung und Versöhnung«, die es nun brauche. Nach der Wahl habe es eine intensive und emotionale Phase gegeben, jetzt aber müssten sich die Gemüter beruhigen.
Verlogener geht es nicht.
Wir sind nicht immun
Auch hierzulande ist das Entsetzen groß. Deutschland verdankt den Amerikanern Freiheit und Demokratie. Umso schmerzlicher ist es mitanzusehen, wie Extremisten das Herz der US-Demokratie angreifen, angestachelt vom amtierenden Präsidenten. Die Kanzlerin hat sich immer mit offener Kritik an Trump zurückgehalten, nun macht auch sie ihn für den Exzess im US-Kongress direkt verantwortlich.
In die Fassungslosigkeit mischt sich Sorge: Kann das auch in Deutschland passieren?
Es ist erst ein paar Monate her, im Sommer des gerade zu Ende gegangenen Jahres, da besetzten einige Hundert sogenannte Demonstranten am Rande einer Kundgebung gegen die Corona-Maßnahmen vorübergehend die Treppe des Reichstagsgebäudes. An diese Bilder fühlte man sich zu einem frühen Zeitpunkt des Aufruhrs von Washington unweigerlich erinnert. Zunächst stellte sich in Berlin nur eine Handvoll Polizisten der aufgebrachten Menge entgegen, hätte diese es wirklich darauf angelegt, wären die Sicherheitskräfte wohl überrannt worden, der Mob dann aber wahrscheinlich am panzerverglasten Hauptportal gescheitert. Einige Wochen später schleuste die AfD rechte Aktivisten in den Bundestag, die Abgeordnete bedrängten.
Das alles ist nicht zu vergleichen mit dem, was am Mittwoch in den USA geschah. Die Gräben in der deutschen Gesellschaft mögen lange nicht so tief sein wie in den Vereinigten Staaten. Doch wer glaubt, wir seien immun gegen den Zerstörungswillen der Demokratiefeinde in unserem Land, der irrt.
Der Hass wird auch hier gesät, jeden Tag im Bundestag, von der größten Oppositionspartei. Jeden Tag in den Landtagen, in denen die AfD zum Teil mehr als ein Fünftel der Sitze hat. Hass und Hetze stoßen auf fruchtbaren Boden bei selbst ernannten Querdenkern, bei Verschwörungsideologen und Merkel-Hassern. Wie beim Sturm aufs Kapitol sind auch in Deutschland Neonazis stets mit dabei, wenn sich die Chance ergibt, Massen für ihre Zwecke zu instrumentalisieren.
Dass Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble das Sicherheitskonzept des Bundestages noch einmal überprüfen lässt, dass die Koalition nun rasch das Gesetz gegen rechtsextreme Hetze im Netz verabschieden will, das zeigt: Auch sie schließen für die Bundesrepublik eine Eskalation wie in Washington nicht aus.
Damit es nicht so weit kommt, sollten sich die Demokraten bei allem Wettbewerb im Superwahljahr einig sein: Die Brandmauer nach Rechtsaußen muss stehen, daran darf es keinen Zweifel geben. Standfestigkeit und Klarheit in dieser Frage helfen zumindest dabei, dass Hass und Hetze nicht irgendwann irgendwo in Deutschland mitregieren.
Jens Spahn sondiert: Nicht Parteichef, aber Kanzlerkandidat?
Offiziell hat er sich untergeordnet, bis zuletzt, trotz aller Gerüchte. Jens Spahn beteuert stets, nur die Nummer zwei im Team Armin Laschet sein zu wollen. Der NRW-Ministerpräsident kandidiert als neuer CDU-Chef, der Gesundheitsminister will sein Vize werden.
Doch hinter den Kulissen, das haben meine SPIEGEL-Kolleginnen und -Kollegen herausgefunden, harmoniert das Duo längst nicht mehr so gut, wie es nach außen immer tut. Euphorisiert von seinen prächtigen Beliebtheitswerten hatte der um Selbstbewusstsein nie verlegene Spahn demnach zunächst indirekt versucht, seinen Tandempartner zum Rollentausch zu bewegen. Doch Laschet wollte nicht.
Das hielt Spahn nicht davon ab, Plan B, oder besser Plan K zu prüfen: die Kanzlerkandidatur. Die SPIEGEL-Recherchen ergaben, dass der Minister telefonisch bei Landtagsabgeordneten, Fraktionskollegen und Landesfunktionären seine Chancen sondierte – immer vorsichtig und nie verbunden mit der direkten Bitte um Unterstützung, wie meine Kolleginnen und Kollegen erfuhren. Aber das Ziel war ziemlich klar: Spahn wollte eine Antwort auf die Frage, ob er Kanzlerkandidat werden könnte, ohne CDU-Chef zu sein.
Es ist gewagtes Gedankenspiel, nicht nur, weil der Gesundheitsminister gerade den Rumpelstart der deutschen Impfkampagne verantworten muss: Spahn müsste darauf setzen, dass sein Teampartner Laschet den Parteivorsitz holt, um ihn dann bei der K-Frage zu düpieren. Wird Friedrich Merz Chef, dürfte dieser Spahn kaum den Vortritt bei der K-Frage lassen.
Die ganze Geschichte lesen Sie heute ab 13 Uhr im digitalen SPIEGEL oder vorher auf SPIEGEL+
Mit wem kommt die CDU klar?
Ob und welche Chancen Spahn hat, steht am Samstag in einer Woche fest. Dann wird die CDU, wenn alles glattläuft, auf einem digitalen Parteitag endlich entscheiden, wer bei den Christdemokraten die Nachfolge von Annegret Kramp-Karrenbauer antritt.
In den Umfragen liegt unter CDU-Anhängern immer noch Friedrich Merz vorn, aber sein Vorsprung ist zuletzt geschrumpft. Und nun hängt ihm auch noch dieser Satz über Donald Trump nach: »Wir kämen schon klar.« Gesagt hat ihn Merz am Abend der US-Wahl, als das Ergebnis noch offen war. Gemeint war er als selbstbewusste Ansage eines potenziellen Bundeskanzlers, aber er klang eben auch seltsam kumpelhaft zu einer Zeit, zu der (fast) die ganze Welt nur eine Hoffnung hatte: dass Trump die Wahl verliert.
Beim Anblick des Aufstands der Trump-Verehrer hatte es Merz nun eilig zu betonen, dass Trump »ganz offenkundig kein Demokrat« sei. Ganz neu ist diese Erkenntnis nicht, aber gut: Mit Aufrührern will Merz dann doch nicht klarkommen. Gut möglich, dass am Freitagabend noch einmal kritisch nachgehakt wird, wenn sich die drei Bewerber für den CDU-Parteivorsitz online den Fragen der Mitglieder stellen.
Ohnehin ist fraglich, was die Umfragen zum CDU-Vorsitzendenrennen wert sind. Sicher, das Stimmungsbild kann den Parteitag beeinflussen, aber am Ende bestimmen 1001 Delegierte den neuen CDU-Chef. Und da dürften Armin Laschets Chancen ungleich besser sein, als es sein dritter Platz (noch hinter Norbert Röttgen) bei den Demoskopen derzeit aussagt.
Am späten Donnerstagabend gab es für Laschet und Röttgen noch ein bisschen Rückenwind. Die Spitze der Frauen Union favorisiert einen der beiden als künftigen Vorsitzenden, mit leichten Vorteilen für Laschet. Für Merz dagegen gab es in einer Vorstandssitzung wenig Unterstützung.
Auch wenn man von Parität weit entfernt ist, ganz unerheblich ist die Stimme der CDU-Frauen nicht, rund 300 Delegierte sind weiblich. Dass die Frauen Union keine klare Empfehlung abgeben konnte zeigt: Der Parteitag könnte spannend werden.
Die jüngsten Meldungen aus der Nacht
Rechtspopulist Bolsonaro hält zu Trump: Trotz internationaler Kritik an Donald Trump steht Brasiliens Präsident Bolsonaro weiter zum US-Präsidenten. Die Ereignisse in Washington sehe er als Warnung: So eine Krise sei auch in seinem Land möglich
Erste Kapitol-Besetzer kommen vor Gericht – Fahndung läuft weiter: Hunderte Menschen drangen am Mittwoch in das US-Kapitol ein, richteten dort Schäden an und verletzten Polizisten. Bereits heute sollen einige Randalierer vor ein Gericht in der US-Hauptstadt kommen
Das kommt heraus, wenn ein Fahrradhersteller ein Auto baut: Dass Autohersteller zunehmend Fahrräder bauen, ist bekannt. Dass Zweiradproduzenten hingegen Autos – oder so was in der Art – zu fertigen gedenken, ist neu. Ein Besuch beim Unternehmen Canyon, das den Schritt wagen will
Die SPIEGEL+-Empfehlungen für heute
Sagen, was ist. DER SPIEGEL-Podcast: Wie gewinnt der Mensch den Wettlauf gegen das Virus?
Bismarck und der preußische Landadel im 19. Jahrhundert: Lauter kleine Könige
Erziehung und Frustrationstoleranz: Können Kinder Scheitern lernen?
Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihr Philipp Wittrock