
Die Lage am Abend Unsere Handelsbilanz der Schande

Guten Abend, die drei Fragezeichen heute:
Warum bezieht Europa nicht weniger Gas aus Russland – sondern mehr?
Mahner gegen Lockerer – Wer ist der echte Lauterbach?
Razzia gegen »Atomwaffen Division Deutschland« – Packt der Staat die Neonazis?
1. Putins Krieg – finanziert von dir und mir
Sollen Deutschland und Europa russisches Erdgas boykottieren? Fürs Erste wäre schon viel gewonnen, wenn wir etwas weniger bestellten – und nicht mehr, wie es im Kriegsmonat März tatsächlich der Fall war. Mein Kollege Claus Hecking hat recherchiert, dass Putins Pipelinemonopolist Gazprom im März mehr als zehn Milliarden Kubikmeter Erdgas an Abnehmer in der EU und Großbritannien geliefert hat. Das waren gut 20 Prozent mehr als im Februar und sogar 36 Prozent mehr als im Januar. Es ist eine Handelsbilanz der Schande. Putin Kriegsmaschinerie – finanziert von deutschen und europäischen Energieverbrauchern.
Bundeskanzler Olaf Scholz hat heute im Bundestag den Krieg und die Gräueltaten russischer Soldaten verurteilt. Er sprach von »Massaker«, »Kriegsverbrechen«, »entsetzlichen Bildern«. Das sind starke Worte, doch um der Ukraine wirklich zu helfen, bräuchte es auch starke Taten. Hier aber zögert Scholz. Einen weitreichenden Boykott von Energielieferungen aus Russland lehnt er ab: Deutschland könne sich das nicht leisten. Mehr Waffen für die Ukraine? Scholz fällt nicht als Vorreiter auf. Das kleine Estland liefere mehr Waffen als das große Deutschland, hielt CDU-Chef Friedrich Merz der Regierung vor.
Der ehemalige Grünenfraktionschef Anton Hofreiter hat Scholz nun fehlende Führung in der Ukrainekrise vorgeworfen. »Ich erwarte von ihm, dass er weniger über Wirtschaftswissenschaftler lästert und mehr führt«, sagte Hofreiter dem SPIEGEL . »Ganz Europa wartet auf Deutschland. Wir sind das wirtschaftsstärkste Land; wenn wir sagen, es geht, ziehen die anderen mit.« Hofreiter fordert, so schnell wie möglich ein komplettes Energieembargo für Kohle, Öl und Gas durchzusetzen: »Wir können das stemmen.« Hofreiter widerspricht damit auch seinem Parteifreund Robert Habeck.
Können wir als Verbraucherinnen und Verbraucher damit aufhören, Putin zu finanzieren? Mein Kollege Florian Diekmann hat aufgeschrieben, wie Privathaushalte zum Gassparen beitragen können : Absenken der Raumtemperatur um ein Grad Celsius. Stoß- statt Kipplüften. Programmierbare Heizthermostate. Der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft schätzt, dass sich auf diese Weise insgesamt 6,5 Prozent des deutschen Gasverbrauchs einsparen ließen, beziehungsweise etwa 17 Prozent der russischen Gasimporte. Das ist immerhin ein Anfang, aber kein Ersatz für eine glaubwürdigere Politik von Olaf Scholz.
Lesen Sie hier mehr: Europäer kauften im März mehr Gas aus Russland
Und hier mehr Hintergründe und Nachrichten zum Krieg in der Ukraine
Putins Töchter sollen auf Sanktionslisten von USA und EU: Der Kremlchef selbst steht schon auf der Liste, aber jetzt soll es auch seine Kinder treffen.
Die Energiefront bröckelt: In der EU wird diskutiert, ob dem Boykott gegen russische Kohle bald auch Öl und Gas folgen sollen. Da will Viktor Orbán nicht mitmachen.
Russland rückt einer Staatspleite näher. Der Grund: Das Land zahlt Anleihen in Rubel zurück. Überweisungen in Dollar würden blockiert, begründet die Führung in Moskau den Schritt. Die USA machen nun Druck.
Wie es zum »Autokorso der Schande« kam: Ein Autokonvoi, auf dem viele russische Flaggen gezeigt wurden, irritierte Berlin und sorgt seit Tagen für Diskussionen. So versucht der Organisator, die Aktion zu erklären.
Gemeinschaftsgräber in Bombenkratern: Tausende konnten aus Mariupol fliehen. Aber immer noch harren rund 130.000 Menschen in der umkämpften und fast gänzlich zerstörten Hafenstadt im Süden der Ukraine aus. Für sie wird die Lage immer katastrophaler.
Wie Italien vom russischen Gas loskommen will: Keine anderen EU-Staaten sind so abhängig von Russlands Gas wie Deutschland und Italien. Doch anders als Berlin will Rom ein Embargo nicht länger blockieren. Hat Premier Draghi besser mit anderen Lieferanten verhandelt?
Alle aktuellen Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine im News-Update
2. Der mehrfache Lauterbach
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat sich heute für sein Hin und Her bei den Quarantäneregeln entschuldigt. »Es war ein Fehler, für den ich auch persönlich verantwortlich bin«, sagte er bei einer Pressekonferenz in Berlin. Wer sich mit Corona infiziert hat, muss demnach auch künftig in Isolation. Die von Lauterbach zunächst verkündete Abschaffung der Isolationspflicht zum 1. Mai wird es nicht geben.
Mir kommt es seit einiger Zeit so vor, als gäbe es mindestens drei Lauterbach-Varianten. Der eine Lauterbach, nennen wir ihn den Wildtyp, ist auf Twitter unterwegs und gibt dort den großen Coronamahner. Der zweite Lauterbach sitzt in der Regierung, pfeift auf die Warnungen des ersten Lauterbachs und lockert Coronaregeln, bis der Arzt kommt. Und der dritte Lauterbach, das Omikron, wohnt in meinem Fernseher und erklärt bei Lanz und Maischberger, warum, also, beide Lauterbachs, also, irgendwie recht hätten, also, der Mahner wie der Lockerer. Kein Wunder, dass den Deutschen der Überblick verloren geht. Meine Kollegin Julia Merlot aus dem Wissenschaftsressort schreibt über die Strategie des Gesundheitsministers, es sei »Deutschlands gefährlichste Mutante«. (Hier der ganze Kommentar.)
Lauterbach hat lange daran gearbeitet, Minister zu werden. Doch nun zeigt sich, dass er als einfacher Abgeordneter womöglich größeren Einfluss auf die Coronapolitik hatte. Als Hinterbänkler erklärte er den Bürgerinnen und Bürgern das Virus, prägte die öffentliche Stimmung und trieb die Regierung vor sich her. Als Minister wirkt er nun selbst wie ein Getriebener, fahrig und unzuverlässig.
Einen Rücktritt schloss er heute aus. Trotzdem war heute wieder eine neue Variante von ihm zu sehen: der kleinlaute Lauterbach.
Lesen Sie hier mehr über das Hin und Her des Ministers: Das Lauterbach-Problem
3. Ein schlechter Tag für Neonazis
Sie nennen sich »Combat 18«, »Sonderkommando 1418« oder »Atomwaffen Division Deutschland«, schmücken sich mit Hakenkreuzen und bekamen heute Besuch von der Polizei: Mit einer Großrazzia sind Ermittler heute gegen 50 mutmaßliche Neonazis in elf Bundesländern vorgegangen.
Meine Kollegen, die seit heute früh über die Razzia berichten, haben recherchiert, dass unter den Beschuldigten auch ein Unteroffizier der Bundeswehr ist. Marvin C., 26, diente bei der Panzertruppe im niedersächsischen Munster. Aktuell soll er in Idar-Oberstein stationiert sein. Er steht im Verdacht, den Mordanschlag eines Rechtsextremisten in Halle im Oktober 2019 bejubelt zu haben. »Heute ist ein guter Tag«, schrieb er nach SPIEGEL-Recherchen unter Pseudonym an eine Chatgruppe. Für eine Stellungnahme war er nicht zu erreichen. Doch heute suchten ihn die Terrorfahnder des Bundeskriminalamts auf.
Insgesamt mehr als 800 Polizisten waren an den Durchsuchungen beteiligt. Vier mutmaßliche Führungsmitglieder einer Kampfsportgruppe im thüringischen Eisenach wurden festgenommen, wie die Bundesanwaltschaft mitteilte. Verfassungsschutz-Präsident Thomas Haldenwang sprach von einem »wichtigen Schlag gegen die gewaltbereite rechtsextremistische Szene«.
Den vier Festgenommenen wird die Mitgliedschaft in einer rechtsextremistischen kriminellen Vereinigung vorgeworfen, der Kampfsportgruppe »Knockout 51«. Nach Erkenntnissen der Ermittler lockt sie unter dem Deckmantel des gemeinsamen körperlichen Trainings junge, nationalistisch gesinnte Männer an, indoktriniert sie mit rechtsextremem Gedankengut und bildet sie für Straßenkämpfe aus. Trainiert wurde offenbar in den Räumlichkeiten der Landeszentrale der rechtsextremen NPD, dem »Flieder Volkshaus« in Eisenach. Auch dort gab es Durchsuchungen.
Über die Neonazis von »Atomwaffen Division« schrieben meine Kollegen bereits vor einigen Jahren. Die Gruppe stammt aus den USA; der deutsche Ableger fiel durch Morddrohungen gegen Bundestagsabgeordnete auf, etwa gegen Cem Özdemir von den Grünen.
Der innenpolitische Sprecher der Unionsbundestagsfraktion, Alexander Throm (CDU), sagte heute, das »konsequente Vorgehen« gegen mutmaßliche Rechtsterroristen sei richtig. »Der Staat muss solche Umtriebe schon bei dem geringsten Verdacht stoppen.«
Lesen Sie hier mehr – Großeinsatz gegen »Atomwaffen Division«: »Extremer geht es kaum«
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Was heute sonst noch wichtig ist
Deutsche Industrie meldet Auftragsrückgang – hat aber ein noch größeres Problem: Im Februar hat die deutsche Industrie deutlich weniger Aufträge bekommen – vor allem aus dem Ausland. Doch Experten bereitet eine andere Kennzahl mehr Sorgen.
»Nicht sehr gesprächig, aber sie beantwortet Fragen«: Die Rolle von Ex-US-Präsident Donald Trump steht bei der Aufarbeitung des Kapitolsturms im Fokus. Nun sagte Tochter Ivanka vor dem Untersuchungsausschuss aus – offenbar freiwillig.
Wie lange schützt die vierte Biontech-Dosis vor Corona? Als erstes Land hat Israel Menschen ab 60 eine zweite Boosterimpfung empfohlen. Eine Studie zeigt: Sie senkt das Risiko einer schweren Covid-19-Erkrankung deutlich, bewahrt Menschen aber nur kurz vor einer Infektion.
FC Bayern nur Ausbildungsverein für die Premier League? »Ganz bestimmt nicht!«: Die Coronapandemie hat beim FC Bayern »massiv eingeschlagen« – trotzdem will der Klub sich international noch lange nicht abhängen lassen, sagt Oliver Kahn. Eine Rolle könnte auch die künftige Vermarktung spielen.
Meine Lieblingsgeschichte heute: Boning, der Marathon-Mann
Der Komiker Wigald Boning, 55, ist Marathon gelaufen, nicht einmal, sondern jede Woche, ein ganzes Jahr lang. Also 52 mal 42,2 Kilometer. Und das trotz Hexenschuss, Hauterosionen, Fersensporn, Knöchel- und Schulterschmerzen. »Einmal hatte ich Magen-Darm«, sagt Boning im Interview mit meiner Kollegin Laura Engels, »da ging Laufen nicht, aber Gehen, mit einer Rolle Toilettenpapier in der Hand«.

Jörg Koch / GRAEFE UND UNZER VERLAG
Boning sagt, ohne Corona hätte es das Marathonjahr nicht gegeben. Seine Liveauftritte fielen aus; Boning suchte Ablenkung, um sich nicht von morgens bis abends mit der Pandemie zu beschäftigen. Also fing er an zu laufen: »Diese Sache hatte ich weitgehend selbst in der Hand und konnte die Regeln bestimmen.« Einmal absolvierte er die Strecke mit seinem Vater, den er im Rollstuhl vor sich herschob. »Wir hatten einen fantastischen Tag.«
In seinem Marathonjahr hat Boning ein paar Zehennägel verloren. Dafür gehe sein Herz-Kreislauf gestärkt aus der Sache heraus. »Orthopädisch war das natürlich ein Härtetest«, sagt Boning: »Aber ich habe mir selbst auf die schmerzende Schulter getätschelt, dass alles ganz gut hingehauen hat.«
Lesen Sie hier die ganze Geschichte: »Jeder vernünftige Arzt würde davon abraten«
Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen
Frieden mit den Drohnen? Aufrüstung, Milliarden für die Bundeswehr – Kanzler Scholz hat seinen friedensbewegten Genossen zuletzt einiges zugemutet. Nun geht es ans Eingemachte: Die SPD muss im Rekordtempo einen jahrelangen Streit begraben .
In immer mehr Kitas kann die Aufsichtspflicht nicht erfüllt werden: Erzieherinnen und Erzieher sehen sich an der Belastungsgrenze – und zu oft darüber hinaus. Das hat eine neue Umfrage ergeben. Ein Gewerkschaftsvertreter beklagt einen sich selbst verstärkenden Teufelskreis.
Als ersten Gang gibt es »Myzel-Mousse« auf Brioche mit Kaviar: Das Hamburger Start-up Mushlabs will den Markt für Fleischalternativen mit gezüchtetem Pilzgeflecht aufmischen – und nebenbei globale Ernährungssicherheit garantieren. Wie soll das funktionieren?
Was heute weniger wichtig ist
Besuch des Vorvorgägers: Barack Obama, 60, ist gestern ins Weiße Haus zurückgekehrt. Der frühere US-Präsident stattete seinem Nachnachfolger und ehemaligen Stellvertreter Joe Biden, 79, einen Besuch ab. Bei dem Treffen ging es darum, eine Nachbesserung an der Gesundheitsreform zu zelebrieren, die beide in ihrer gemeinsamen Zeit auf den Weg gebracht hatten. Nebenbei scherzte Obama über Bidens neue Katze: Seine Hunde Bo und Sunny wären nicht begeistert gewesen. Obama sprach Biden zur Begrüßung mit »Vizepräsident« an, schob allerdings schnell hinterher, dass es sich um einen abgesprochenen Gag gehandelt habe.
Tippfehler des Tages, inzwischen korrigiert: »Der Angreifer hat den Wankelmut abgelegt, mit der er früher im selben Match zwischen Welt- und Kreisklasse schwankte.«
Cartoon des Tages: Impfpflicht

Klaus Stuttmann
Und heute Abend?
Italiens große Filmdiva Sophia Loren hat vor Jahren ein Buch mit ihren Lieblingsgerichten veröffentlicht, »In cucina con amore«. Viele Rezepte stammen aus ihrer Kindheit in bitterer Armut, in der es nötig war, mit möglichst preiswerten Zutaten auszukommen. Zum Beispiel Spaghetti mit Sardellenbutter, über welche Loren schrieb: »Mit diesem Gericht können Sie Ihre Gäste aufs Angenehmste verblüffen.«
Unsere Koch-Kolumnistin Verena Lugert hat das Rezept für Sie aufbereitet, es ist wirklich simpel. Für die Soße brauchen Sie nicht viel mehr als Sardellen, Butter, Zitrone, Knoblauch und zwei Dosen geschälte Tomaten. »Es ist ein geradezu geniales Lieblingsessen, das ebenso raffiniert wie auch erstaunlich einfach zuzubereiten ist und so gut wie nichts kostet«, schreibt Verena. Hier finden Sie das ganze Rezept.
Ich wünsche Ihnen guten Appetit und einen schönen Abend. Herzlich
Ihr Alexander Neubacher
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