

Die Lage am Morgen Erdoğan und Putin: Gewehre statt Worte

Liebe Leserin, lieber Leser, guten Morgen,
heute beschäftigen wir uns mit einer Friedenskonferenz, mit deutschen Soldaten im Bürgerkrieg, mit politischen Losen und mit dem Händedruck.
Brandgefährlich
Heute beginnt das Pariser Friedensforum, ein Format, das Frankreichs Präsident Emmanuel Macron 2018 erfunden hat, 100 Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs. Es soll den Frieden gesprächsweise fördern. Bundeskanzlerin Angela Merkel wird auch mitreden.
Unbedingt sollte dabei über Russland und die Türkei gesprochen werden, zwei autoritäre Staaten, die seit einigen Jahren Kriege nutzen, um die eigene Machtsphäre auszudehnen, meist im selben Gebiet. Erst war es Syrien, dann Libyen, nun ist es der Konflikt um Bergkarabach. Aserbaidschan hat diesen kurzen Krieg gewonnen, dank militärischer Hilfe durch die Türkei, aber auch Russland als Verbündeter des Verlierers Armeniens hat es verstanden, seinen Einfluss zu erweitern.
Russlands Präsident Putin und sein türkischer Kollege Erdoğan kommen sich mit ihren Ambitionen immer wieder ins Gehege, konnten aber den Krieg gegeneinander bislang vermeiden. Es ist jedoch brandgefährlich, was sie tun. Russland hat zudem die Ukraine mit kriegerischen Mitteln gespalten.
Ein Friedensforum ist eine gute Sache, aber solange Staaten meinen, von Kriegen profitieren zu können, setzen sie eher auf Gewehre als auf Worte.
Deutsche Krieger
Die Bundeswehr gilt als friedliche Armee, seit nunmehr 65 Jahren. Dieses Jubiläum wird heute gefeiert, mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Allerdings gab es in dieser Zeit auch von deutschen Soldaten Kriegsbegeisterung, wie der Historiker Sönke Neitzel in seinem neuen Buch "Deutsche Krieger. Vom Kaiserreich zur Berliner Republik – eine Militärgeschichte" eher beiläufig enthüllt.
Auf Seite 466 ist dort auf 14 Zeilen zu lesen, dass "seit 1991 rund 200–300 Bundeswehrsoldaten als Freiwillige im jugoslawischen Bürgerkrieg kämpften". Sie fuhren an verlängerten Wochenenden oder im Urlaub an die Front, um vor allem die Kroaten zu unterstützen. Das war illegal, schreibt Neitzel, "wurde von den Vorgesetzten in vielen Fällen aber gedeckt, da man die Eigeninitiative als wertvolle Bereicherung der Gefechtsausbildung betrachtete". Das wusste man bislang nicht. Ein Forschungsprojekt soll Licht in diese Sache bringen.
Zufallsbürger
"LOS, Deutschland" heißt eine Konferenz, die heute virtuell abgehalten wird. Der Titel soll nach Aufbruch klingen, meint aber auch das Los. Denn es geht um Bürger, die ausgelost werden, um Politiker zu beraten, sogenannte Zufallsbürger. Sie kamen in Mode, als sich der Verdacht verbreitete, die Politik sei bei den Politikern nicht in guten Händen. Das sogenannte Establishment brauche Rat von Menschen aus "dem echten Leben".
In Baden-Württemberg zum Beispiel wird gerade ein Bürgerrat vorbereitet, der diskutieren soll, wie die Landesregierung ihre Corona-Politik verbessern könnte. Das Problem ist, dass es gar nicht so leicht ist, Zufallsbürger zu finden. Die meisten, die ausgelost werden, sagen ab, berichtete die "Süddeutsche Zeitung". Sie haben keine Lust auf Debatten oder vertrauen dann doch dem sogenannten Establishment.
Gleichwohl sind Bürgerräte eine gute Ergänzung der parlamentarischen Demokratie. Das Losverfahren ist repräsentativ wie kein anderes, und bisherige Erfahrungen haben gezeigt, dass Volkes Stimme in dieser Form sehr vernünftige Vorschläge macht.
Verzeichnis der Verluste IV: Der Händedruck
Von der Schriftstellerin Judith Schalansky gibt es ein Buch mit dem Titel "Verzeichnis einiger Verluste". Ich leihe mir diese schönen Worte aus und schreibe in dieser Woche täglich über Dinge oder Phänomene, die uns in der Pandemie verloren gegangen sind.
Wie sich der Händedruck in weiten Teilen der Welt als gängige Begrüßungsgeste durchsetzen konnte, ist mir ein Rätsel. Eigentlich hat er nur Nachteile. Hygienisch war er schon immer eine Katastrophe, nicht nur wegen der Bakterien und Viren, die dabei ausgetauscht wurden. Man kam mittelbar mit allem in Berührung, was der oder die andere zuletzt angefasst hatte, und man wollte oft lieber nicht wissen, was das war. Über den Sonderfall des feuchten Händedrucks wollen wir hier erst gar nicht reden.
Zudem führte diese Begrüßung häufig zu Verwirrungen, wenn man sich in der Etikette nicht hundertprozentig sicher ist (so wie ich). Erst Frauen zur Begrüßung die Hand geben, dann Männern, erst den Älteren, dann den Jüngeren, erst dem Chefredakteur, dann seinen Stellvertretern – soweit ist es leicht. Aber wenn es eine Stellvertreterin ist? Oder wenn man einem älteren Mann mit einer jüngeren Frau begegnet (nicht so selten), wer ist dann zuerst dran?
Auch die Frage "Umarmung oder Händedruck?" stürzte Menschen, die so halb miteinander befreundet waren, in Verlegenheit. Streckte der eine den Arm aus, während der andere seine Arme ausbreitete, war schon etwas schief. Mein Vater und ich haben dieses Problem in 40 Jahren nicht lösen können, seitdem er, als ich volljährig wurde, damit begonnen hat, mir die Hand zu reichen, während ich auf Umarmungen bestand. Jetzt winken wir uns zu. Dabei kann es gern bleiben.
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Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Ihr Dirk Kurbjuweit